Von »Joe«, wie der thailändische Filmregisseur Apichatpong Weerasethakul von seinen Verehrern genannt wird, ist man seit »Blissfully Yours« (2002) und »Tropical Malady« (2004) einiges gewohnt. Mal taucht der Vorspann erst nach einem Drittel des Films auf, mal bleibt die Leinwand mitten im Film eine kleine Ewigkeit schwarz und startet dann mit einer zweiten, komplett anderen Geschichte, mal verwickeln wie in »Cemetery of Splendour« (2015) zwei leibhaftige Göttinnen den Protagonisten in ein Gespräch, ohne dass man an den stilistischen oder narrativen Sprüngen Anstoß nehmen würde. Ganz im Gegenteil: Brüche, »Fehler«, rätselhafte Wendungen und surreale Perspektiven definieren das Werk des 1970 geborenen »auteur«. Dies unterstreicht eindrucksvoll auch sein Langfilmdebüt »Mysterious Object at Noon« (2000), das vom Österreichischen Filmmuseum Wien aufwändig restauriert wurde und nun in einer vorbildlichen DVD-Edition zugänglich gemacht wird.
Eine gewisse Kenntnis von »Joes« eigenwilligem Filmschaffen ist als Vorgriff auf dieses kleine, in grobkörnigem Schwarz-Weiß funkelnde Juwel nützlich: Es exponiert die weerasethakulsche Ästhetik geradezu pur und in nuce verdichtet – in Gestalt eines magisch-mäandernden Road Movie, das am Leitfaden eine vielfach variierten Binnenerzählung quer durchs ländliche Thailand führt. Nach einer Weile kristallisiert sich als eine Art Nukleus die (fiktive) Geschichte um die Lehrerin Dogfahr heraus, die ein behindertes Kind unterrichtet, die dann von Szene zu Szene an andere Menschen weitergereicht und weiterfabuliert wird.
Während der dreijährigen Produktionszeit forderte Weerasethakul unterschiedlichste Personen auf, sich Dogfahrs Schicksal auszumalen, wobei sich die Erzähler teilweise auf die Ausgangsgeschichte, teilweise aber auch auf den bis dahin erreichten Stand der Ausschmückungen bezogen. Das daraus entstehende narrative Gespinst fließt mal in diese, mal in jene Richtung bis in Fantasy-Bereiche, wird durch Nachrichtensendungen, historische Einsprengsel aus der Zeit des Pazifikkriegs oder filmsprachliche Eigenwilligkeiten wie Bild-Ton-Verzerrungen, »unlogische« Anschlüsse oder loopartige Strukturen aber immer wieder so justiert, dass der sanfte Erzählfluss an anderer Stelle überraschend weitergeht. Wie virtuos die Inszenierung dabei mit ihren Mitteln umzugehen weiß, enthüllt bereits die zehnminütige Eingangssequenz, die mit einer langen, ungeschnittenen Kamerafahrt durch die Straßen von Bangkok, Tonausschnitten aus einer Soap Opera und vielen Radio-Werbejingles anhebt, um schließlich bei einer Fischverkäuferin und ihren traumatischen Lebenserinnerungen zu landen, die dann den Bogen zu Dogfahr und deren Erlebnissen schlagen.
Man kann dieses »schillernde Dingsbums« (James Quandt) von Film als spielerischen Dokumentarfilm oder als dokumentarischen Spielfilm etikettieren, auf die Verbindungen von thailändischer Pop- und US-amerikanischer Experimentalfilmkultur abheben, das Spiel mit den Genres (von Märchen und Musical bis zu Horror und Science Fiction) auffächern oder der enormen Bandbreite von Tonlagen (abwechselnd traurig, ausgelassen, scherzhaft oder rau) nachspüren, ohne auch nur eine halbwegs brauchbare Anschauung davon zu gewinnen, wie sich die widerstrebende Fülle der Erzählfäden und ihrer Diskurse annähernd auf den Begriff bringen ließen. Der Hinweis auf die Einflüsse von Michael Snow ist so zutreffend wie der auf Brecht und seine Verfremdungstheorie, doch am Ende streckt man die terminologischen Waffen vor einem wundervollen Hybriden, der seinem Titel eines »Mysterious Object« alle Ehre macht.