In den USA fand dieses subtile Low-Budget-Regiedebüt nach einem auf dem Sundance-Film-Festival prämierten Drehbuch mit einer prominenten, interessanten und hochengagierten Besetzung nicht den Weg in die Kinos. In bester „Short Cuts“- oder „Magnolia“-Manier (fd 30 588; fd 34 178) präsentiert „Gefühle, die man sieht“ fünf einander reizvoll überlappende Kurzgeschichten über eine Reihe nicht mehr ganz junger Frauen in Los Angeles, deren geregeltes Leben unvermittelt mit der Erfahrung einer Krise konfrontiert wird und die versuchen müssen, sich damit auseinander zu setzen und darauf zu reagieren. Da wird eine Kommissarin mit dem Selbstmord ihrer Schulfreundin Carmen konfrontiert; da wartet eine Frau vergeblich auf einen Anruf ihres Freundes und lässt sich die Zukunft von einer professionellen Kartenlegerin lesen; da erfährt die Filialleiterin einer Bank, dass sie von ihrem Geliebten schwanger ist, muss sich für oder gegen eine Abtreibung entscheiden und lässt sich auf eine Affäre mit einem ihrer Angestellten ein; da pflegt eine professionelle Kartenlegerin ihre an AIDS erkrankte Freundin und ist damit überfordert; da wird eine einsame Kinderbuchautorin durch den Zuzug eines neuen Nachbarn mit ihrer Sehnsucht nach Liebe und der Tatsache konfrontiert, dass ihr pubertierender Sohn ihr diesbezüglich schon einiges voraus hat; und da begegnet man der Polizeibeamtin aus der ersten Episode wieder, die mit ihrer blinden Schwester zusammenlebt, die wiederum weiß, dass ihre Behinderung ihre Attraktivität bei den Männern erhöht. Die beiden Schwestern rätseln über mögliche Gründe, die Carmen in den Selbstmord getrieben haben könnten.
Kunstvoll sind all diese Geschichten miteinander zu einem Mosaik arrangiert, das es meisterlich vermeidet, die subtile Intimität der Erzählhaltung durch eine oberflächliche und spektakuläre Melodramatik zu destruieren, obschon sich die „schweren“ Motive Tod, Sterben, Selbstmord, Behinderung und Betreuung stringent durch den Film ziehen und stets Konflikte im Spannungsfeld von Selbstbetrug und Selbsterkenntnis schaffen. Die Kartenleserin Christine spricht ihre Zukunftsprognosen zwar rigoros „kalt“ aus, verzweifelt aber gleichzeitig, wenn ihre todkranke Freundin in Erinnerungen schwelgt. Und die weltabgewandte Kinderbuchautorin bemerkt durch die Begegnung mit ihrem kleinwüchsigen neuen Nachbarn plötzlich, dass ihr Sohn kein Kind mehr ist und sie sich selbst ihre Sehnsucht nach Liebe nur als umgeleitete Projektion des Mütterlichen eingestehen kann. Weil die zentralen Motive dieses außerordentlichen Films auf vielerlei Ebenen kleine Echos und Spiegelungen produzieren und sich so dem (scheinbaren) Zufall öffnen, entsteht ein zartes Gespinst (auch) magischer Momente, die den Film mit seiner Fabulierlust weit über den Durchschnitt heben. Man kann sich nicht satt sehen am inspirierten Spiel sämtlicher Protagonisten – vor allem Holly Hunters Leistung ist schlicht sensationell – , die dieser bemerkenswert stimmigen und (literarisch wie psychologisch) ambitionierten Studie über die ganz normal existenziellen Probleme normaler erwachsener, sich selbst entfremdeter Menschen in den gutsituierten Vorstädten der westlichen Welt auf die Sprünge zu helfen wissen. Wenn dieser leise (und durchaus nicht humorlose) Film in den USA für nicht kinotauglich befunden und stattdessen ins Fernsehen abgeschoben wurde, dann spricht dies eine beredte Sprache über die Krise der US-amerikanischen Filmindustrie, die Teile ihres Publikums vielleicht doch etwas unterschätzt.