Live in Peace

- | VR China 1997 | 102 Minuten

Regie: Hu Bingliu

Eine alte Chinesin lebt allein in ihrem Haus und hofft, daß Sohn und Schwiegertochter sie bald zu sich nehmen. Ihre Sehnsucht fällt jedoch nicht auf fruchtbaren Boden: Die jungen Leute müssen schwer arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und haben nicht einmal Zeit für ein Kind. Nach und nach, auch durch die Begegnung mit einem jungen Hausmädchen, begreift die Frau, dass man in einer modernen Industriegesellschaft von mancher Tradition Abschied nehmen muss, auch wenn dies schwerfällt. Ein sympathischer Alltagsfilm, außerordentlich gut besetzt und mit viel Sinn für psychologische Details. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LIVE IN PEACE
Produktionsland
VR China
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Pearl River Studio
Regie
Hu Bingliu
Buch
Ma Weijun
Kamera
Zheng Hua
Musik
Cheng Dashao
Schnitt
Hu Jianwei
Darsteller
Pan Yu (Axi) · Bai Xuenyun (Shan) · Sun Min (Adong) · Wang Hong (Afang)
Länge
102 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Dies ist in erster Linie der Film einer Schauspielerin: Pan Yu, deren Karriere bereits in den 30er Jahren begann. In „Live in Peace“ spielt sie die greise Axi, die allein in ihrem Haus in der südchinesischen Industriestadt Guangzhou lebt. Ihr Mann ist lange tot; der Sohn, auf den sie viele Hoffnungen gesetzt hatte, arbeitet „nur“ auf dem Bau, befindet sich ständig in Geldnöten und hat wenig Zeit für seine Mutter. Die Schwiegertochter mag sie überhaupt nicht – zumal Axi ihr die Schuld dafür gibt, keine Enkelkinder zu haben. Das tiefe innere Mißbehagen der alten Dame resultiert vor allem daraus, nicht mehr wie früher in eine intakte Großfamilie eingebunden zu sein: Auch in China bewirkt das moderne Leben den Zusammernbruch klassischer familiärer Strukturen; die Vereinzelung hat rasant zugenommen. Sich dagegen zu sträuben, kann dem Windmühlenduell eines Don Quichote gleichkommen.

Axi nimmt diesen Kampf auf. In einer der ersten Szenen berührt sie zärtlich ein Foto aus längst vergangenen Tagen, das, sauber gerahmt und unter Glas, einen Ehrenplatz auf dem Vertiko beansprucht: sie selbst mit Mann und Sohn. Irgend jemand, wahrscheinlich die eben entlassene Haushälterin, hat das Bild umgestoßen – für Axi eine Unmöglichkeit, die sie sofort korrigieren muß. „Live in Peace“ enthält zahlreiche solcher winziger Gesten, aus denen sich für den Zuschauer der Charakter Axis formt. Die alte Dame ist nicht bösartig, wie mancher Nachbar mutmaßt – aber sie ist einsam, und sie versucht mit allen Mitteln, ihrem Alleinsein zu begegnen. Wenn Sohn Adong und Schwiegertochter Afang sie nicht zu sich nehmen, dann muß sie ihren Jungen eben mit häufigen Anrufen an sich binden. Wie wichtig das Telefon für sie ist, zeigt der Film wieder an Hand eines Details: Nach jedem Gespräch breitet sie ein Tuch über das Gerät; kein Staubkorn soll es beschmutzen. Auch der häufige Rausschmiß der Haushälterin hat mit dem Kampf um den Sohn zu tun: Axi will kein fremdes Mädchen in ihrer Umgebung, sondern besteht auf der Nähe ihres Kindes. Daß Adong in Arbeit steckt, um seine Schulden abbezahlen zu können, interessiert sie dabei nur am Rande.

„Live in Peace“, ein behutsamer, intensiver Film, der eine seiner Stärken daraus gewinnt, daß er keine Figur, keine Generation denunziert: weder die Alten noch die Jungen. Alle haben ihre Erwartungen ans Leben, sehnen sich nach Glück, reiben sich auf, verfangen sich in den Fallstricken des Alltags. Wahrscheinlich würde der Sohn seine Mutter zu sich nehmen, doch die ökonomische Situation, in der er sich befindet, und der Zeitaufwand, den er für seinen Beruf braucht, erlauben dies kaum. „Wie haben nicht mal Zeit für uns, geschweige denn für deine Mutter“, sagt Afang, die sich – wie eine Szene im Zentrum des Films bewußt macht – durchaus nicht nach dem täglichen Streit sehnt, sondern nach einer der seltenen zärtlichen Berührungen. Sogar ein Kind kommt für beide im Moment nicht in Frage: eine Entscheidung, die die Ehe belastet. Was aus Adongs und Afangs Perspektive logisch erscheint, kann Axi mit ihren Erfahrungen und Idealen nicht nachvollziehen: als in einer Soap opera im Fernsehen eine Trennung ansteht, die vermutlich auch wegen der Kinderlosigkeit des Paares angestrengt wird, ruft sie ihrem Sohn an, er solle genau aufpassen, „warum sie die Scheidung wollen“. Daß Adong völlig übermüdet einschläft, kann sie nicht sehen.

Die verfahrene Situation zwischen den Generationen, in der es – auch dramaturgisch – kein Vor und Zurück mehr gibt, wird im Film durch das Mädchen Shan aufgebrochen: eine junge Frau aus dem Norden, die in den prosperierenden Süden reiste, um Geld für eine eigene Gaststätte zu verdienen, die sie daheim eröffnen will, in unmittelbarer Nähe ihrer Eltern. Adong heuert sie als neue Haushälterin für seine Mutter an. Regisseur Hu Bingliu skizziert die Etappen dieser Beziehung prononciert über Szenen, in denen gekocht und gegessen wird. Zunächst stört Axi, daß Shan das Gemüse zu klein schneidet und falsch würzt. Später, nach einem gemeinsamen Besuch in Axis Heimatdorf, am Grab ihres Mannes, bei dem sich die beiden näherkommen, antwortet die alte Frau auf die bange Frage Shans, was mit dem zerkochten Fisch geschehen soll: „Wir essen ihn.“ Wieder ein paar Szenen weiter führt sie das Hausmädchen sogar in ein Restaurant und singt ihr ein Volkslied vor.

Am Ende hält der Film jene Vernunftlösung parat, die im marktwirtschaftlich aufstrebenden China vermutlich als politisch korrekt angesehen werden dürfte. Axi, die in ihrem Heimatdorf begriff, daß selbst dort das Ende der Traditionen eingeläutet wurde, unterschreibt ihren Antrag fürs Altersheim. Der Nachbar, ein Freund, mit dem sie gern gemeinsam gesungen hatte, ist ja schon da – und es geht ihm gut. Sein Satz „Die Dinge sind nicht, wie sie scheinen“, steht wie ein Credo über dem gesamten Film. Dazu gehört auch, daß die oft unwirsche Axi dem Mädchen Shan vor dem Umzug einen Großteil ihrer Ersparnisse leiht, ja vielleicht sogar schenkt: für den Kauf des Restaurants, für die Rückkehr zur Familie. So fügt sich alles zu solidarischer Größe und Einsicht – leise, sachlich und unsentimental. Ein Film über das Hinübergleiten der Illusion in die Realität.

Der Einfachheit dieser Fabel entspricht übrigens auch der Stil: „Live in Peace“ ist ein Kammerspiel, von einem besinnlichen Klaviermotiv begleitet und weitgehend in halbnahen und halbtotalen Einstelllungen fotografiert, mit wenigen, behutsamen Fahrten auf die Gesichter. Warum der Verleih das kleine Werk unter einem englischen Titel ins Kino bringt und nicht unter dem deutschen „In Frieden leben“, hängt sicher damit zusammen, daß man glaubt, Englisch locke mehr Zuschauer an. Das kann manchmal aber zu kurz gedacht sein.
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