Ein junger Mann aus Taipeh wird nach dem Tauchen in einem Fluss von einer rätselhaften Krankheit befallen. Mit seinem Vater geht er auf die Reise zu Ärzten und Wunderheilern: eine Odyssee, bei der sich die Männer nach langer Zeit der Sprachlosigkeit wieder näher kommen. Ein bedächtig inszenierter, wortkarger, streng stilisierter Film, der sich zu einem Sittenbild der modernen Zivilisation weitet und den Zustand einer Familie, der Gesellschaft überhaupt reflektiert. Die konkrete und zugleich symbolisch gemeinte Krankheit dient dabei als Katalysator einer möglichen Selbsterkenntnis: Das Leiden wird als Chance begriffen, innezuhalten und sich zu verändern. (O.m.d.U.)
- Sehenswert.
Der Fluss
- | Taiwan/VR China 1996 | 116 Minuten
Regie: Tsai Ming-liang
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Filmdaten
- Originaltitel
- HE LIU
- Produktionsland
- Taiwan/VR China
- Produktionsjahr
- 1996
- Produktionsfirma
- Central Motion Picture Corp.
- Regie
- Tsai Ming-liang
- Buch
- Tsai Ming-liang · Yang Pi-ying · Tsai Yi-chun
- Kamera
- Liao Peng-jung
- Schnitt
- Chen Sheng-chang
- Darsteller
- Lee Kang-sheng (Xiao-kang) · Tien Miao (Vater) · Lu Hsiao-ling (Mutter) · Chen Chao-jung (junger Mann) · Lu Hsiao-ling (Geliebter der Mutter)
- Länge
- 116 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert.
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
Auch in seinem dritten Kinofilm kehrt Tsai Ming-Lang zur Hauptfigur seiner beiden vorangegangenen Arbeiten „Rebels of the Neon Gods“ (1992) und „Vive l’Amour – Es lebe die Liebe“ (1994) zurück: Xiao-kang, einem jungen Mann aus Taipeh. Das erste Bild, eine moderne Rolltreppe, signalisiert die äußere Welt, in der er sich bewegt: ein Universum aus Stahl und Beton, in dem es parallel auf- und abwärts geht, und am Ende stets das Nichts steht. Auf dieser Treppe findet eine schicksalhafte Begegnung statt. Eine etwa gleichaltrige Frau lädt den Jungen zu Dreharbeiten ans Ufer des Flusses ein; dort ist ein Filmteam damit befasst, eine im Wasser treibende Leiche mit Hilfe einer Schaufensterpuppe möglichst realistisch darzustellen. Weil der Regisseurin (Ann Hui aus Hongkong spielt sich selbst) das Resultat nicht gefällt, wird Xiao-kang gebeten, sich zur Verfügung zu stellen: Nun taucht er in die Kloake. Auch später, unter der Dusche in einem Hotelzimmer, wird er den Geruch des Flusses nicht wieder los. Kurz darauf befällt den Jungen eine rätselhafte Krankheit: Schulter und Hals beginnen zu schmerzen; er kann seinen Kopf nur noch schräg halten; jede Bewegung verursacht Höllenqualen. Ob dies eine Folge des verseuchten Wassers ist, interessiert Tsai Ming-Lang nicht. Über einen eventuellen Umweltkrimi hinaus weitet er den Film zu einem Sittenbild der modernen Zivilisation, reflektiert den Zustand der Familie. Die konkrete und zugleich symbolisch gemeinte Krankheit dient als Katalysator einer möglichen Selbsterkenntnis: Das Leiden wird als Chance begriffen, innezuhalten, nachzudenken, anders zu werden.
Die Familie des Jungen befindet sich am Anfang in tiefster Agonie. Der Regisseur verdeutlicht das dramaturgisch, indem er auf Berührungspunkte zunächst völlig verzichtet, die einzelnen namenlosen Figuren gleichsam voneinander abtrennt. Nach der Exposition, die ausschließlich dem Jungen gewidmet ist, werden zum Beispiel die Mutter beim Abschminken oder der Vater beim Urinieren gezeigt; schweigsam vollzogene Rituale in langen, mit unbewegter Kamera aufgenommenen Einstellungen. Kein Hinweis, dass die Drei zusammengehören; statt dessen eindrucksvolle Bilder dafür, wie sehr sich jeder in seinem Kokon eingesponnen hat. Die Mutter lässt in einer hell ausgeleuchteten, eiskalten Totale jene Pornos ablaufen, mit denen ihr Geliebter handelt, während sich der Vater allein und vergeblich bemüht, das Wasser, das von der Wohnung über ihm in sein Zimmer tropft, zu stoppen. Wasser und Spiegel avancieren zu prägenden Symbolen: für Bedrohung, Vereinsamung, Tod – und die Notwendigkeit des Eingreifens in den Lauf der Dinge.
Die Krankheit des Sohnes setzt mühsam eine Kommunikation in Gang. Nach langer Zeit werden wieder Worte gewechselt, es gibt erste, zaghafte Berührungen. Wenn dann Vater und Sohn auf eine Fahrt quer durchs Land gehen, zu Ärzten und Wunderheilern, ist das weniger eine Ortsveränderung als eine Reise zu einander, in das Binnenleben der Familie. Freilich hütet sich Tsai Ming-Lang davor, das Motiv der extremen Fremdheit in Optimismus und Wohlgefallen aufzulösen. Die Odyssee der Männer mündet vielmehr in eine Szene, deren tragische Dimension an Konstellationen aus antiken Dramen erinnert. Nachdem es Xiao-kang misslungen ist, seine sexuelle Lust bei einer Prostituierten zu befriedigen, wagt er – verunsichert, verstört und verzweifelt – den Besuch einer Sauna für Homosexuelle. In der dunklen Kabine begegnet er dem Vater, dessen Suche nach Zärtlichkeit schon zuvor immer wieder in ein solches Ambiente geführt hatte. Sie erkennen einander nicht, schmiegen sich an, befriedigen sich gegenseitig. Der späten Entdeckung folgt eine Ohrfeige: die erste bewusste emotionale Regung zwischen dem Alten und seinem Sohn. Tsai Ming-Lang schließt seinen streng stilisierten, konsequent minimalistischen, langsam, wortkarg und ohne musikalischen Background inszenierten Film freilich nicht mit diesem ambivalenten Befreiungsschlag. Er bricht die Lethargie seiner Figuren, ihre Ergebenheit in die scheinbare Unveränderbarkeit der Welt gleich noch mit zwei anderen Bildern auf: Während die Männer auf Reisen sind, ergreift die Mutter zu Hause die Initiative, klettert über den Balkon nach oben und schraubt den Wasserhahn zu, der für die Überflutung des Zimmers ihres Mannes gesorgt hatte. Xiao-kang aber, der sich bereits mit Gedanken an einen Freitod getragen hatte, öffnet am Morgen das Fenster seines Hotelzimmers. Zwar nicht von der Krankheit befreit, tritt er nun doch nach draußen, in die Sonne: ein erster, zaghafter Schritt – vielleicht ein neuer Anfang.
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