Ist die Erinnerung wasserlöslich?

Dokumentarfilm | Frankreich 1995 | 96 Minuten

Regie: Charles Najman

Regisseur Charles Najman begleitet seine Mutter, die als 20jährige jüdische Frau deportiert worden war, zu einem Kuraufenthalt in Evian. Das Heilwasser soll helfen, ihre Erinnerung an die KZ-Haft erträglicher zu machen, Depressionen abzubauen. Ein Film, der noch einmal die Schrecken der Shoah beschwört, in dem es aber vor allem um die Frage geht, wie das Leben danach bewältigt werden konnte. Die Frau wehrt sich gegen die Albträume durch exaltierte Ausbrüche von Lebenslust, wobei sich ihre Selbstinszenierung als Teil der Wahrheit ihres Lebens erweist. Die Fiktion, die sie selbst von sich aufbaut, ist somit zugleich ein außergewöhnliches Dokument. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA MEMOIRE EST-ELLE SOLUBLE DANS L'EAU?
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
SEM/Centre National de la Cinématographie
Regie
Charles Najman
Buch
Charles Najman
Kamera
Pierre Novion
Schnitt
Lise Beaulieu
Darsteller
Solange Najman · Jean-Chretien Sibertin Blanc · Henia Goldzjajder · Salka Rosenberg · Hélène Alembik
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f (Orig.)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Das Leben nach der Shoah – so könnte dieser Film auch heißen. Charles Najman beobachtet und befragt darin seine Mutter Solange, die als 20jährige deportiert worden war. Er zeigt sie bei der privaten Feier zum 50. Jahrestag des Überlebens, begleitet sie nach Bergen-Belsen, wohin sie mit einstigen Leidensgefährtinnen reist, getrieben von einer merkwürdigen Schuld, die immer wieder aus der Frage erwächst, warum sie selbst das Grauen überstanden hat, Zehntausende andere jedoch nicht. „Wir werden Euch nie vergessen“, ruft Solange pathetisch in die von Birken bewachsene Landschaft, aus der keine Antwort kommt. Es gibt keine Antwort. Vom Ort des Leides und des Todes wechselt der Film nach Evian, einer kleinen französischen Stadt am Genfer See. Alle zwei Jahre fährt Solange hierher zur Kur; seit 1952 finanziert der deutsche Staat jenen, die unter dem Trauma der Deportation leiden, regelmäßig einen Genesungsaufenthalt. Das Wasser von Evian soll behilflich sein, die Erinnerungen erträglicher zu machen. Aber geht das? Gibt es eine Reinwaschung vom Unsagbaren, Unzeigbaren? Die Duschen, unter denen die Massagen verabreicht werden, assoziieren auf makabre Weise die Gaskammern von Auschwitz. Der Film spricht solche Gedanken nicht aus, doch er provoziert sie durch seine Bilder. Ohne jeden polemischen Kommentar setzt er auch andere Widerhaken. Wer etwa das Geld für die Kur erhalten will, so zeigt er im Gespräch mit einem Arzt, muß Atteste beibringen, wie tief das Trauma wirklich sitzt – der Triumph von Bürokratie und Mißtrauen über die Humanität.

Solange trifft in Evian eine Reihe alter Bekannter, aber es werden jedesmal weniger. Nicht das Wasser, sondern der Tod hat ihre Leiden getilgt. Najmans Film ist ein Aufbäumen gegen dieses Ende aller Dinge. Wenn Solange und andere Kurgäste, die ein ähnliches Schicksal erfuhren, von damals berichten, ist das wie eine Fortführung von Claude Lanzmanns „Shoah“ (fd 25 510): Geschichten von Haß und Terror, aber auch von Solidarität und Überlebenskraft. Die Kamera verweilt auf den Gesichtern, scheut sich nicht vor langen, unbewegten Einstellungen: Wichtig sind die Sprache, die Blicke. Unfaßbares teilt sich mit, wie jene „Ringparabel“, die Solange über sich und ihre Mutter erzählt. Beide waren in verschiedenen Lagern, und Solange bewahrte ein diamantenbesetztes Schmuckstück der Mutter bei sich auf. Jedesmal, wenn sie kontrolliert wurde, verschluckte sie den Ring, um ihn anschließend aus ihren Exkrementen herauszuwühlen. Najman: „Zwischen Gold und Scheiße, dem Sublimierten und dem Unreinen, dem Universellen und Intimen erzählt der Film vom Überleben, vom Tabu des Überlebens.“

Ebenso wichtig wie das Bewahren solcher Reminiszenzen ist es für Najman auch, den Umgang mit diesen Erinnerungen zu zeigen. Um nicht selbst in Erscheinung zu treten, benutzt er ein Medium, das die Grenzen zwischen Dokumentarischem und Fiktivem verschwimmen läßt. Ein Darsteller wird inkognito inmitten der jüdischen Kurgäste plaziert, gleichsam als Katalysator für deren Bereitschaft, sich vor der Kamera zu öffnen. Jean-Chretien Sibertin Blanc spielt diese geheimnisvolle Kunstfigur: einen depressiven jungen Mann, der zunächst abseits der Gruppe sitzt und deren Mitgefühl erheischt. Die alten Menschen strengen sich an, damit ihre Überlebensgeschichten seine Traurigkeit brechen. Die Frage geht dabei nach den Mitteln, wie Depressionen bekämpft werden können. Und die sind ganz unterschiedlich; ein Mann etwa, der von sich sagt, er müsse täglich an seine Lagerzeit denken, pfeift ständig Chansons vor sich hin, im Sitzen und im Gehen, allein und in Gegenwart anderer. Selbst wenn es manchem auf die Nerven geht: Für ihn ist dieses Pfeifen schlichtweg Lebenshilfe. Vor allem aber Solange praktiziert eine überschwengliche Vitalität: Sie singt, tanzt und flirtet, die geballte Entgegnung auf jene Entwürdigungen, die sie erfahren mußte. Najman liegt es fern, dieses Spiel, die Ausbrüche von Lebenswillen zu bremsen; er weiß, daß ihr bisweilen frivoler Exhibitionismus, ihre Lust, sich Masken aufzusetzen, zur tiefen Wahrheit ihres Lebens gehören. Gerade diese Dialektik macht den Film, der die Exaltiertheit Solanges bis zur Schmerzgrenze vorführt, zu einer unkonventionellen und streitbaren Studie. Im Epilog sitzt Solange, die sich der Anwesenheit einer Kamera stets bewußt ist, am Grab ihres Mannes, redet mit ihm, weint. Auch diese Szene, die laut Najman mehrfach gedreht wurde, bis sie „stimmte“, verleugnet nicht ihren Spielcharakter: Solange will mitteilen, daß sie die Fähigkeit bewahrt hat, den Verlust eines einzelnen Menschen betrauern zu können. Das letzte Bild zeigt sie in ihrer Wohnung, allein vor einem Spiegel tanzend. Ein zärtliches Finale, das die tiefe Liebe des Sohnes zu seiner Mutter unterstreicht: Als die Musik längst verstummt ist und die Kamera abgeblendet hat, sind die schlurfenden Schritte der alten Dame noch immer zu hören.
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