Drama | Deutschland 1998 | 79 Minuten

Regie: Tom Tykwer

Um ihren kriminell gewordenen Freund aus einer verzweifelten Lage zu retten, muß eine junge Frau in 20 Minuten 100.000 DM auftreiben. Aus dieser Grundkonstellation entwickelt der Film drei unterschiedlich verlaufende Geschichten, die dann auch zu jeweils anderen Ergebnissen führen. Unter Einsatz verschiedenster formaler Mittel erzeugt der Regisseur überaus geschickt einen stakkatoartigen Rhythmus, der sich zu einem mitreißenden, formal brillanten visuellen Feuerwerk verdichtet. Ansätze zur Vertiefung des Stoffes in Richtung Reflexion über Zeit und Zufall sind durchaus vorhanden, werden aber nicht weitergedacht, da die Geschichte in ihren Dimensionen eng begrenzt und nur wenig übertragbar ist. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
X-Filme Creative Pool
Regie
Tom Tykwer
Buch
Tom Tykwer
Kamera
Frank Griebe
Musik
Tom Tykwer · Johnny Klimek · Reinhold Heil
Schnitt
Mathilde Bonnefoy
Darsteller
Franka Potente (Lola) · Moritz Bleibtreu (Manni) · Herbert Knaup (Lolas Vater) · Joachim Król (Penner) · Armin Rohde (Herr Schuster, der Wachmann)
Länge
79 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Thriller
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Alligator DVD/e-m-s (1.85:1, DD5.1 dt.) & Alligator DVD/Movie Edition (16:9, 1.85:1, DTS dt.)
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Diskussion
Ein rennender Mensch bringt alles zusammen: explosive Dynamik und Emotionen, (...). Diese Dynamik hat etwas Ur-Kinohaftes,“ meint Regisseur Tom Tykwer. Das Bild einer rennenden Frau war für ihn die Ausgangsidee zu seinem neuen Film, der im wahrsten Sinne des Titels Tempo macht. Franka Potente, mit feuerrot gefärbten Haaren, verkörpert die Titelfigur und läuft in der Tat um ihr Leben und das ihres Freundes – das Leitmotiv in einem ungewöhnlichen Filmexperiment, das formal wie inhaltlich ein Spiel mit Zeit und Zufall betreibt.

Aus der Vogelperspektive „schießt“ die Kamera auf die Erde, um dort eine wahllos zusammengewürfelte Gruppe von Menschen zu erfassen. Wie zufällig ausgewählt aus all den potentiell erzählbaren Biografien erscheint die Geschichte von Lola, Tochter des Filialleiters einer Berliner Bank. Von ihrem Freund Manni erhält sie einen verzweifelten Telefonanruf. Für einen Gangster hat dieser Luxusautos nach Polen verschoben und 100.000 DM kassiert, aber in der U-Bahn das Geld, das er abliefern sollte, liegen lassen. Ein Penner hat die Plastiktüte mit den Banknoten für sich an Land gezogen. Nun fürchtet Manni um sein Leben, wenn er das Geld nicht auftreibt. Lola ist sein letzter Rettungsanker. Es bleiben nur noch 20 Minuten bis zum vereinbarten Zeitpunkt der Geldübergabe. Wie Lola in 20 Minuten das Geld zu beschaffen versucht, erzählt der Film in drei Variationen: in der ersten rennt Lola in die Bank zu ihrem Vater. Doch der hat keine Zeit, da er in einer persönlichen Krise steckt und sich mit seiner Geliebten, Frau Hansen aus dem Vorstand, auseinandersetzen muß. Lola kommt zu spät zum Treffpunkt, denn Manni hat in seiner Verzweiflung einen Überfall auf den Supermarkt gemacht. Es bleibt kein Ausweg: Denn die Polizei hat die Straße abgeriegelt. Lola wird erschossen. In der zweiten Version setzt Lola ihrem Vater kurzerhand die Pistole auf die Brust und verlangt das Geld von der Bank. Doch nützt es ihr nichts, denn der Zufall will, daß Manni ausgerechnet von einem Rettungswagen überfahren wird. In der dritten Variante versucht Lola es mit dem Glücksspiel: Sie gewinnt in der Spielbank. Gleichzeitig hat auch Manni Glück. Er kann dem Penner die Tüte mit dem Geld abjagen. So kann er seine Schuld begleichen, und gleichzeitig bleiben beiden noch die 100.000 DM von Lola.

„Lola rennt“ ist in gewissem Sinn eine Übersetzung von Kieslowskis Film „Der Zufall möglicherweise“ (fd 28 087), eine Version für die Techno-Generation. Tykwer brennt ein beispielloses visuelles Feuerwerk ab und nutzt dabei das ganze Arsenal formaler Techniken: rasante Kamerabewegungen, schnelle Schnittfolgen, Jump Cuts, Split-Screen-Techniken, wechselnde Darstellungsebenen (Realfilm, Animationsfilm, Video). Sein Einfallsreichtum ist bestechend. Fünf Minuten seines Films enthalten mehr kreative Ideen als andere deutsche Filme in 90 Minuten Laufzeit! Unterstützt von der u.a. auch von ihm selbst komponierten Musik, erzeugt er einen stakkatoartigen Rhythmus, der nur durch wenige ruhigere Passagen unterbrochen wird. Der Zuschauer wird förmlich mitgerissen und kommt nicht zur Ruhe. Der Reiz an der Geschichte, die im Grunde genommen sehr einfach ist, liegt in der Wahrnehmung der Variationen, der Spiegelungen, Umkehrungen und Verschiebungen, die jede Variation im Vergleich zu der/den vorhergehenden einbringt.

Tykwer will aber mehr als reine Unterhaltung. Der Film soll „eine wilde Jagd mit Nachwirkungen“ sein. Über die spielerische Ebene hinaus will er hin zu einer Reflexion über Zeit und Zufall, wobei die ernste Ebene nie ungebrochen zur Geltung kommt. Das zweifache Motto deutet dies an: neben T. S. Eliots aphoristischer Bemerkung, daß alles menschliche Suchen letztlich zum Ausgangspunkt zurückführt, steht die Einsicht von Sepp Herberger „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“. Und in ironischer Zitierung der alten Kulturfilmtradition unterlegt Tykwer seine Anfangsbilder, die eine scheinbar wahllos herausgesuchte Menschengruppe zeigen, mit der feierlich-sonoren Stimme eines Off-Erzählers, der über den Menschen – „ein Mysterium offener Fragen“ – nachdenkt. Die Tendenz zur Verallgemeinerung der eigentlichen Geschichte von Lola und Manni ist daran zu erkennen, daß sich um sie ein Kranz von möglichen anderen Geschichten legt: die Schicksale der Menschen, denen Lola zufällig begegnet, werden in Form blitzartig ablaufender Fotoserien gezeigt. Der inhaltliche Tiefgang ist insgesamt dennoch stark begrenzt. Das wird vor allem im Vergleich zu Kieslowskis Film deutlich. Kieslowski entwickelte für seine Hauptfigur drei alternative Biografien, die sich von der gleichen Grundsituation aus entfalten. Tykwer jedoch behält nicht nur die Grundkonstellation, sondern auch wesentliche Elemente des Handlungsverlaufs bei: Es geht in allen drei Episoden darum, in 20 Minuten 100.000 DM zu besorgen, und das gelingt entweder mit Gewalt oder mit Glück. Auch die Übererfüllung des Happy-Ends – nicht nur Mannis Problem ist gelöst, sondern es bleibt dem Paar auch noch Lolas Gewinn – trägt nicht unbedingt dazu bei, die möglichen Denkanstöße zu unterstreichen. Da sich vieles wiederholt, treten trotz aller Rasanz gewisse Abnutzungserscheinungen auf. Man hat das Gefühl, daß Tykwer zuletzt doch etwas die Luft ausgegangen ist bei einem Experiment, das höchst spannend, wenn auch nicht in jeder Hinsicht völlig geglückt ist.
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