Ein mit 70 Jahren verstorbener homosexueller Maler hat verfügt, daß er in seiner Heimatstadt Limoges begraben wird und daß alle, die ihn lieben, mit dem Zug zu seiner Beerdigung reisen. Während der Fahrt und auf der Begräbnisfeier entspinnt sich unter den Hinterbliebenen eine komplexe Tragikomödie um Erinnerungen, geplatzte Illusionen, zerstörerische Wahrheiten und Zukunftsängste - aber auch um Hoffnungen auf einen Neuanfang. Ein eindrucksvoller filmischer Reigen menschlicher Schicksale, geprägt von einer höchst intensiven Kameraarbeit sowie von grandiosen schauspielerischen Leistungen.
- Sehenswert ab 16.
Wer mich liebt, nimmt den Zug
Tragikomödie | Frankreich 1997 | 121 Minuten
Regie: Patrice Chéreau
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Filmdaten
- Originaltitel
- CEUX QUI M'AIMENT PRENDRONT LE TRAIN
- Produktionsland
- Frankreich
- Produktionsjahr
- 1997
- Produktionsfirma
- Le Studio Canal +/Téléma/France 2 Cinéma/Azor Films
- Regie
- Patrice Chéreau
- Buch
- Danièle Thompson · Patrice Chéreau · Pierre Trividic
- Kamera
- Eric Gautier
- Schnitt
- François Gédigier
- Darsteller
- Pascal Greggory (François) · Valeria Bruni-Tedeschi (Claire) · Charles Berling (Jean-Marie) · Jean-Louis Trintignant (Jean-Baptiste/Lucien) · Bruno Todeschini (Louis)
- Länge
- 121 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Tragikomödie
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Die Dekadenz und der „Untergang“ der Bourgeoisie haben französische Filmemacher schon immer fasziniert. Patrice Chéreau nimmt sich nun der (Lebens-)Krise unserer Tage an, den durcheinandergeratenen Geschlechter- und Beziehungsrollen, über denen die Krankheit AIDS wie ein Damoklesschwert schwebt. Wie Louis Malle in „Eine Komödie im Mai“ (fd 28 193) wählt auch er eine Beerdigung als Ausgangspunkt, um für zwei Tage einige Menschen zusammenzuführen. Der homosexuelle Maler Jean-Baptiste ist mit 70 Jahren in Paris gestorben. Sein letzter Wille war die Anordnung, ihn in seiner Heimatstadt Limoges zu beerdigen, und der Wunsch, daß seine Freunde ihn dorthin mit dem Zug begleiten sollen. Während seine letzter Geliebter und Pfleger, der Dealer Thierry, dessen kleine Tochter Elodie Jean-Baptiste als Erbin eingesetzt hat, die Leiche mit einem Kombi nach Limoges überführt, steigen in Paris 15 Personen in den Zug. Da sind der 43jährige François, die große Liebe und der Lieblingsschüler des Künstlers, und sein Geliebter Louis. Louis verliebt sich auf der Zugfahrt in den jugendlichen Stricher Bruno, ohne zu ahnen, daß dieser ein Verhältnis mit François hatte. Mit von der Partie sind auch der Neffe des Malers, Jean-Marie, und seine getrennt von ihm lebende Frau Claire. Beide sind drogensüchtig. Aber während Claire, wenn auch unter starkem Tabletteneinsatz, den Entzug zu schaffen scheint, wartet Jean-Marie sehnsüchtig auf den Stoff-Lieferanten Thierry. Während der Fahrt brechen alte Konflikte auf, und Claire wagt es nicht, Jean-Marie zu sagen, daß sie ein Kind von ihm erwartet. Louis hingegen gesteht François sein Verhältnis zu Bruno, woraufhin dieser ihm eröffnet, daß Bruno HIV-positiv sei. Verwirrt verläßt Louis auf dem nächsten Bahnhof die Trauergesellschaft. Thierry ist mittlerweile wegen Übermüdung mit dem Leichenwagen im Graben gelandet und erreicht Limoges auf einem Abschleppwagen. Auf dem Friedhof trifft man mit der Familie des Toten zusammen. Jean-Marie sieht nach zehn Jahren seinen Vater Lucien wieder, den Zwillingsbruder Jean-Baptistes. Auch die schöne Viviane, offensichtlich eine frühere Geliebte des Verstorbenen, die eine Geschlechtsumwandlung hinter sich hat, stößt zur Trauergemeinde, die nach der Beerdigung im Haus der Familie zu einer Nacht der Aussprachen und Geständnisse zusammenfindet. Lucien versöhnt sich mit seinem Sohn, der eher Jean-Baptiste als seinen Vater akzeptiert hatte; Claire und Jean-Marie finden eine Übereinkunft, die vielleicht einen Neuanfang ermöglicht; Bruno entschließt sich, mit Louis zusammenzuleben; nur François bleibt einsam zurück und tritt allein die Heimreise nach Paris an.„Wer mich liebt, nimmt den Zug“, soll der Regisseur François Reichenbach kurz vor seinem Tod im Jahr 1993 gesagt haben, als er seinen Begräbnisort in Limoges bestimmte, auf Europas größtem Friedhof, dessen 185.000 Grabstätten die Einwohnerzahl der Stadt (140.000) übertreffen. In der Geschichte des Films mischen sich biografische Elemente seines Lebens mit dem von Patrice Chéreau, der sich schon in „Der verführte Mann“ (fd 25 260) als jungen Homosexuellen porträtierte und nun in der Figur François’ sein Dasein als gereifter Mann reflektiert. Frauen bilden dementsprechend nur einen kleinen Teil des filmischen Kosmos. Vom ersten Moment an bestimmt der „Übervater“ Jean-Baptiste die Stimmmungen und Gedanken der Hinterbliebenen, dessen Stimme in Form eines letzten Interviews aus dem Off zu hören ist. Die CinemaScope-Handkamera fängt die Hektik des Bahnhoftreibens ein, folgt mal dieser, mal jener Figur, um sie im nächsten Augenblick wieder aus dem Auge zu verlieren. Geschickt nimmt sie dann den „fahrigen“ Rhythmus der Zugfahrt auf, quetscht sich durch die überfüllten Abteile und umkreist die Gruppe wie ein Schäferhund seine Herde. Da alles in ständiger Bewegung ist, verliert man ab und an den Überblick. Hinzu kommt, daß Kameramann Eric Gautier ausschließlich mit natürlichem (Gegen-) Licht arbeitet: die Gesichter „zerfließen“ manchmal im Dunkeln, so daß nur die Stimmen Orientierung verschaffen. Während der Fahrt und auf der Begräbnisfeier konzentriert sich der Film auf einige Personen, an deren Schicksal er teilhaben läßt, während er andere aus dem (Kamera-)Blick verliert. Im ersten Moment wirkt dieses „Fallenlassen“ irritierend, dann aber bekommt dieser Inszenierungsstil doch Methode, weil er die realistische Widerspiegelung einer Trauerfeier ist, auf der man auch nicht jeden kennt.Daß die kaleidoskopischen Charakterskizzen nicht zur zusammenhanglosen Aneinanderreihung verkommen, liegt zum einen an der Allgegenwart von Jean-Baptiste, der seine Freunde und Bekannten auch noch im Tod zu beherrschen scheint, zum anderen aber an dem großartigen Schauspieler-Ensemble. Hier merkt man die präzise, behutsame Hand des Theaterregisseurs, der selbst heikle Szenen wie Louis’ und Brunos „Tête-a-tête“ auf der Zugtoilette mit großer Behutsamkeit inszeniert. Chéreau scheut sich nicht, die Arroganz und den Zynismus des gealterten François als unmenschliches Spiel zu entlarven, wenngleich sie für diesen auch ein verzweifelter Schutzwall vor der Einsamkeit zu sein scheint. Pascal Greggory spielt eindringlich diesen Zwiespalt sowie die Verwundbarkeit, die zwischen Ablehnung und Verstehen schwanken läßt. Genauso ist einem der nicht erwachsen werden wollende Jean-Marie vertraut, den Charles Berling enervierend echt verkörpert, und die Hysterie, mit der Claire ihre Zukunftsängste überspielt, bekommt durch Valéria Bruni-Tedeschis natürliches Spiel eine eindrucksvolle „Alltagsnormalität“. Ohne Star-Allüren fügt sich Jean-Louis Trintignant in das Ensemble ein. Wenn er als Schuhfabrikant mit Viviane in den Keller steigt, um ihr seine „stillgelegte“ Kollektion zu zeigen, dann blitzt jener verführerische Charme auf, mit dem er einst Anouk Aimée in „Ein Mann und eine Frau“ (fd 14 383) betörte. Aber auch die exzellenten Nebendarsteller tragen dazu bei, daß dieser Reigen menschlicher Irrungen und Wirrungen immer die Balance zwischen Komödie und Tragödie hält. So enden die Krisen des Lebens letztlich nie in einer Sackgasse, sondern leuchtet immer wieder auch ein Hoffnungsschimmer für einen Neuanfang auf.
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