Im fünften Jahr seiner amerikanischen Emigration scheint das Kino John Woos wieder zu sich gefunden zu haben. Sein Faible für melodramatische Zuspitzungen, die Nähe zu sentimentaler Ikonografie und seine unbestrittene Meisterschaft, Actionsequenzen wie kein anderer in schwerelose Choreografien zu verwandeln, verbinden sich im jüngsten Opus erstmals nahtlos mit den Topoi Hollywoodscher Gangsterfilme - und deren Gigantomanie. Frei von jeder materiellen Begrenzung kann sich Woos Drang entfalten, alles in Bewegung aufzulösen und das Ensemble der Wirklichkeit immer wieder in grandiose Todes- und Zerstörungstänze zu verwandeln. Gleichzeitig ist ihm nicht verwehrt, die atemlosen "Martial-Art"-Sequenzen in jener Weise zu stilisieren, die direkt an seine früheren Hongkong-Filme anknüpfen. Das beginnt beim Thema, der spiegelverkehrten Bezogenheit beider Antagonisten, und setzt sich bis in einzelne Bildmotive und - einstellungen wie flackernde Kerzen, weiße Tauben oder die elegischsakrale Zeitlupe fort. Die Vorliebe des Regisseurs, seine einsamen, verschlossenen Figuren durch kleine Ticks oder Accessoires zu identifizieren, paßt perfekt ins populäre Genrekino. Sieht man von einigen inhaltlichen Eigenheiten wie der am Ende bestärkten Kleinfamilie oder dem Nebenpart einer heranwachsenden Tochter ab, so sticht die große innere Verwandtschaft mit dem Frühwerk ins Auge: Woos einzigartiges Bewegungskino der Zeichen und Oberflächen hat sich in Amerika nach einigen mißglückten Versuchen als das alte entpuppt."Face/Off" erzählt die Geschichte zweier Männer, die in ihrer Feindschaft so aufeinander fixiert sind, daß sie nicht nur alles übereinander wissen, sondern sich im wörtlichen wie bildlichen Sinne zum Verwechseln ähnlich werden. Der FBI-Agent Sean Archer jagt den skrupellosen Terroristen Castor Troy mit einer Unerbittlichkeit, die an Fanatismus grenzt. Seit Archers kleiner Sohn bei einem Attentat Castors auf ihn zu Tode kam, kennt der Polizist kein anderes Ziel, als Castor zu beseitigen. Was nach 15 Filmminuten und der ersten Blut- und Feuerorgie auch erledigt scheint. Zu Hause verspricht Archer seiner auseinanderbrechenden Familie, daß jetzt alles anders werde - ohne zu ahnen, wie recht er damit behalten soll. Denn um an Castors Bruder Pollux und die Daten einer Giftgasbombe heranzukommen, die irgendwo in Los Angeles tickt, läßt sich Archer auf eine "schizophrene" Aktion ein: an Stelle seines Gesichts wird ihm das von Castor Troy verpflanzt und auch sein Körper kosmetisch so behandelt, daß er vom Terroristen, der im Koma liegt, nicht mehr zu unterscheiden ist. Während der Ermittler sich in Gestalt von Castor ins Hochsicherheitsgefängnis einschleusen läßt, erwacht dieser und zwingt die Ärzte, ihm Archers "Face" aufzusetzen. Der Böse in Gestalt des FBI-Mannes, der Polizist als leibhaftiges Double des Gewaltverbrechers. Jeder versucht, die Rolle des anderen zu spielen, um dessen Platz einzunehmen - und entdeckt Innenseiten einer Welt, die er bislang nur von außen seziert hatte: der Terrorist väterliche Fürsorge und die kleinen Freuden des Bürgertums, der Beamte das Gefühl, alles ein wenig mehr als Spiel zu betrachten.Für die Hauptdarsteller John Travolta und Nicolas Cage bedeutete dies eine extreme schauspielerische Herausforderung, die sie mit Bravour bestanden: Beide hatten ihre Rolle und die ihres Spiegelbildes zu spielen sowie den vertauschten Part auch zu synchronisieren. Die Anverwandlung von Stil, Habitus und Technik des jeweils anderen gelingt beiden dabei so überzeugend, daß es dem Zuschauer auf Dauer sogar Mühe bereitet, die wahre Identität der Körper im Gedächtnis zu behalten. Vor allem Cage mutiert vom gnadenlosen Zyniker so perfekt in den malträtierten Polizisten, der erst eine Gefängnisrevolte anzetteln muß, um wieder frei zu kommen, daß er mit dieser (falschen) Rolle nahezu identifiziert wird. Travolta dagegen forciert als Maulwurf in der FBI-Zentrale seine bekannten Marotten, ohne an die kalte Skrupellosigkeit heranzureichen, mit der Cage die Rolle versah. Dennoch zählt es zu den beeindruckendsten Momenten des an Spektakulärem nicht armen Films, dem doppelbödigen Schauspiel zu folgen und die Reaktionen der Umwelt zu studieren. Hier werden die Unterschiede durchaus wahrgenommen, doch man freundet sich schnell und vor allem gerne damit an. Diese Beobachtung weist ins inhaltliche Zentrum des Films: auf die Frage nach dem Verhältnis von Identität und Maskerade; bildlich gesprochen nach dem, was zum Vorschein kommt, wenn man das "Gesicht" wegnimmt: "Face off". Den Weg der Psychologisierung seiner Figuren beschreitet Woo allerdings nur sehr zögerlich, so als wollte er das Sujet nicht überstrapazieren. Zwar ist am Rande gelegentlich die Rede davon, wie Ängste und alte Wunden Abwehrmechanismen erzeugen und ein befriedigendes Leben untergraben. Archer besteht anfangs sogar darauf, daß die Narbe, die ihn an den Tod seines Sohnes erinnert, nach der Aktion wieder an die alte Stelle gesetzt werden soll. Doch Woos visueller Virtuosität, das Genre und vielleicht auch eine Scheu, zu viel Innenleben preiszugeben, setzen einer Vertiefung enge Grenzen. Wenn Archer in der Schlußsequenz den fünfjährigen Sohn Castors an Sohnes statt annimmt und seiner Familie vorstellt, kurz davor sogar auf die Reimplantation der Narbe verzichtete, markiert dies eine beträchtliche seelische Entwicklung, die freilich optisch durch flirrendes Gegenlicht und eine betont freudige Musik gleichzeitig ironisiert wird.Woos elaborierte Ausdrucksweise lebt von einem hohen Maß an Distanz. Die spezifische Qualität seiner filmischen Sprache ist das Produkt aus kunstvoller Montage, differenziertem Einsatz unterschiedlicher Zeitlupentempi und einer mitunter recht manieristischen musikalischen Kommentierung. Eine indirekte Kommunikationsweise, die die Zwiespältigkeit seiner Arbeiten verursacht, in denen nicht nur Gewalt ästhetisiert und Bewegung als Prinzip gefeiert wird, sondern der äußere Schein, die pure Oberfläche so große Bedeutung gewinnt. In die vier ausgedehnten Actionsequenzen - meisterhaft in ihrer Art - sind immer wieder Einzelszenen geschnitten, Details, Blicke oder Gesten durch Zeitdehnung hervorgehoben, wodurch der Erzählfluß diese seltsam tranceartige Qualität erhält, die an John Woo immer wieder begeistert. Gleichzeitig aber müssen diese Unterstreichungen wie etwas gelesen werden, was zwischen den Zeilen steht, um über dem grandiosen oder abstoßenden Spektakel Inhalt und Nuancen zu erspüren. Ob man dazu bereit ist, sich auf eine solche Lesweise einzulassen, scheidet und unterscheidet die Geister.