Eine geteilte Narbe verbindet die Schwestern Christine und Lea. Im Kindesalter wurden sie von einem Pferdekarren zu Boden gerissen; der Wagen rollte über sie hinweg. Seitdem zieht sich eine Linie von Christines Arm bis zum Handgelenk der jüngeren Lea – schicksalhaftes Zeichen einer Symbiose.
„Sister my Sister“ beginnt wie im halbwachen Zustand. „Sleep my little sister, sleep“, singt eine helle, entrückte Frauenstimme, während die Kamera in langsamen, tranceähnlichen Bewegungen eine Treppe hinunterfährt. Bald kommen Blutspuren ins Bild, die Wand ein regelrechtes Dripping, schließlich ein regungsloses Frauenbein. Das Schlaflied hat inzwischen ein imaginäres Reich betreten, es geht um Auen und Pferde. Der Film und seine Figuren werden sie nie zu Gesicht bekommen.
Viele arbeiteten sich an dem Fall schon ab
„Sister my Sister“ basiert auf einem der prominentesten Mordfälle in der Kriminalgeschichte des 20. Jahrhunderts. Am 2. Februar 1933 töten die Dienstmädchen Christine und Léa Papin ihre Arbeitgeberin und deren Tochter in der nordfranzösischen Stadt Le Mans. Französische Intellektuelle wie der Psychoanalytiker Jacques Lacan beschäftigen sich eingehend mit dem Fall; die Verbindung der sozialen Verhältnisse mit der angeblichen Inzestbeziehung der Schwestern Papin gab Anlass zu verschiedensten Theorien. Jean Genet, den der Doppelmord zu seinem Stück „Die Zofen“ inspirierte, wollte darin die homosexuelle Befreiung des Proletariats erkennen, Simone de Beauvoir einen Aufschrei gegen das bourgeoise Herrschaftssystem.
Die Reihe der von dem Fall inspirierten Theaterstücke, Filme, Essays und anderen literarischen Bearbeitungen ist umfangreich – sie reicht von Claude Chabrols „Biester“ (1995) bis hin zu Bong Joon-hos „Parasite“ (2019). Die Verfilmung von Nancy Meckler, ein Klassiker des lesbischen Kinos aus Großbritannien, ist hingegen vergleichsweise unbekannt; in den deutschen Kinos war sie nie zu sehen. Das mag mit der Zurückhaltung des Films gegenüber allem Spektakulären und Spekulativen zu tun zu haben, aber wohl auch mit der filmfernen Biografie der Regisseurin. Die aus Long Island, New York, gebürtige Meckler ist eine eingefleischte Theatermacherin. Ende der 1960er-Jahre gründete sie in London die alternative Theatergruppe „The Freehold“. Sie inszenierte Stücke von Sophokles, Shakespeare, Edward Albee und Sam Shepard; neben „Sister my Sister“ realisierte sie nur noch einen einzigen weiteren Film.
Die Treppe als Passage zwischen den Klassen
Auch wenn Meckler das filmische Medium zu nutzen weiß, liegt ihr Augenmerk doch deutlich auf dem psychologischen Spiel der ausschließlich weiblichen Besetzung. Mit Ausnahme weniger Szenen beschränkt sich das Kammerspiel auf das Haus von Madame Danzard: oben die kleine, eiskalte Dachkammer für die Zofen, unten die Küche, Produktionsstätte aufwändiger Mahlzeiten und der üppig ausgestattete Salon, in dem jeder Handgriff des Dienstpersonals von Madame und ihrer noch unverheirateten Tochter Isabelle beobachtet und bewertet wird. Und als Passage zwischen den sozialen Klassen: die Treppe, späterer Tatort des Verbrechens.
Als Christine ihre jüngere Schwester Lea im Haus der Danzards unterbringt, glaubt Madame ein echtes Schnäppchen gemacht zu haben. Zwei Arbeitskräfte zum Preis von einer, reibt sie sich die Hände – „wir sparen jede Menge Geld“ –, und dank der handwerklichen Fähigkeiten Christines lässt sich überdies der Schneider sparen. Meckler montiert die Hierarchien wiederholt in Parallelen: Christine, eine perfektionistische Arbeiterin, ein wenig verbissen, und die weiche, etwas verträumte Lea beim Schrubben, Waschen, Bügeln, Nähen, dem Putzen von Silber. Im Salon Madame und die pummelige, ihrerseits etwas unterdrückte Isabelle beim Reden über ihre beiden „Perlen“, dem Klavier- und Kartenspiel. Dialektisch auch das Spiel der Blicke: musternd, missgünstig auf der einen Seite, angespannt, ängstlich und zuweilen auch panisch auf der anderen.
Die Triebkräfte bleiben ambivalent
Für die Schwestern ist das Leben eine Aneinanderreihung von Aufgaben und Prüfungen; nur der halbe Sonntag gehört ihnen. Lea bringt das mühsam verdiente Geld der Mutter, die, so wird angedeutet, der älteren Christine die Liebe entzog, während sie Lea hätschelte. Der Bruch mit der Mutter ist dann auch der Moment, an dem sich die Geschichte wendet und sich zwischen den Schwestern aus erzwungener körperlicher Nähe und Aufeinander-Angewiesensein eine erotische Beziehung Bahn bricht. Meckler setzt die Überschreitung durch den Inzest diskret und ohne überhöhende Untertöne in Szene; die Triebkräfte bleiben bis zuletzt ambivalent.
Es ist ein Amalgam aus umgelenktem lesbischen Begehren – eine unerfüllte Liebe in der Klosterschule wird angedeutet – und Christines Hang zu Dominanz und Herrschaft beziehungsweise Leas bereitwillige Unterordnung, eine Rolle zu spielen, ebenso wie die Verzweiflung über die engen Grenzen der Lebensverhältnisse und das ständige Klima von Angst und potentieller Bestrafung. Die Schwestern haben nur sich; in Christine gären aber auch Eifersucht und die Furcht, von Lea verlassen zu werden.
Ein Klassendrama, keine Crime Story
Man kann dem Unheil beim Wachsen zusehen. Je mehr sich die Schwestern in ihrem Liebesverhältnis verlieren, desto nachlässiger werden sie im Haushalt. Hier ein etwas zu salzig geratenes Gebäck, dort eine übersehene feine Staubschicht auf dem Treppengeländer. Die Katastrophe wird schließlich von einem zerbrochenen Glas und einer vom Bügeleisen verbrannten Satinbluse ausgelöst.
„Sister my Sister“ inszeniert die fatale Dynamik vor dem Mord äußerst glaubwürdig: Die Situation scheint für die Schwestern, deren inzestuöses Verhältnis ihrer Arbeitgeberin mittlerweile bekannt ist, tatsächlich ausweglos. Den Blutrausch – den Opfern wurden die Augen mit bloßen Händen herausgerissen, es folgte eine regelrechte Abschlachtung mit dem Messer – zeigt der Film nicht, muss er nicht zeigen. Meckler interessiert das Klassendrama, nicht die Sensation der Crime Story.