Wie Menschen von den Vögeln das Fliegen lernen wollten, schildert die Sage von Ikarus oder das Schicksal des Schneiders von Ulm; wie die Tiere aber beim Menschen in die Lehre gehen, hat Konrad Lorenz erzählt. Auf seinen Spuren wandelt die 13jährige Halbwaise Amy, die in der kanadischen Provinz Ontario bei Streifzügen durch die Wildnis auf ein verlassenes Nest mit sechzehn Gänseeiern stößt. Die "Prägung" der Küken, die nach einigen Tagen in Amys Kleiderkommode schlüpfen, funktioniert so perfekt wie(; im Lehrbuch. Sie verhilft nicht nur den Wildgänsen zu einer geschützten Entwicklung, sondern auch Amy über den Unfalltod ihrer Mutter hinweg. Selbst der zwiespältige Kontakt zu ihrem Vater Thomas, einem Künstler und Konstrukteur von Flugmaschinen, der das verstörte Mädchen nach dem Unglück zu sich auf seine abgelegene Farm holte, entspannt sich unter dem Eindruck des gefiederten Familienzuwachses. Als Thomas schließlich auch noch einen Ausweg findet, wie den Zugvögeln im Herbst der Weg in den Süden gezeigt werden kann, spürt Amy, daß sie eine neue Heimat gefunden hat: Nach vielen vergeblichen Versuchen und einigen schmerzhaften Bruchlandungen starten Vater und Tochter eines Morgens mit zwei Ultra-leicht-Flugzeugen in Richtung North Carolina, die Schar ihrer ausgewachsenen Wildgänse im Formationsflug hinter sich.Was wie ein typisches Kinomärchen klingt und in seiner optischen Umsetzung immer wieder über die blühende Fantasie der Filmemacher staunen lassen möchte, hat überraschenderweise doch einen realen Hintergrund: 1993 gelang es dem kanadischen Vogelschützer Bill Lisham, einen Schwarm kanadischer Wildgänse nach Virginia zu lotsen, von wo aus die Gänse im nächsten Frühjahr wieder zu ihren Nistplätzen zurückfanden. Dieser Versuch brachte Lisham wissenschaftliche Reputation - und rief die Medien auf den Plan. Bei der Suche nach einem Regisseur für die Kinoadaption von Lishams Autobiografie erinnerte man sich an Carroll Ballard, der sein außergewöhnliches Talent im Umgang mit Kindern und Tieren in Filmen wie "Der schwarze Hengst"
(fd 22 479) oder "Wenn die Wölfe heulen"
(fd 24 512) bewiesen hatte. Zusammen mit seinem erprobten Kameramann stellte er sich der Herausforderung des luftigen Elements und schuf einen prallen Bilderbogen voller brillanter Landschafts- und Tieraufnahmen, deren Schönheit und Eleganz trunken und in einem altmodischen Sinn fast andächtig macht: Aus der Perspektive der Gänse und ihrer motorisierten Leitvögel verlieren sich die herbstlich gefärbten Wälder am Horizont, leuchten endlose Wasserflächen im Abendlicht smaragdgrün und bricht die Sonne aus den Morgennebeln wie tausend Blitze hervor.Ballards Faible für technische Tüfteleien läßt sich dabei ebenso wenig übersehen wie sein Händchen für schmerzhaft-schöne Bilder. Mit ausufernder Lust werden immer neue Gerätschaften eingeführt, mit denen die jungen Gänse für den Flug "konditioniert" werden sollen. Vom simplen Flugdrachen bis zum High-Tech-Flieger in Gestalt einer überdimensionalen Wildgans wird genüßlich die technische Evolution vorgeführt, jeder Einzelschritt von den Flügelattrappen bis zum Langstreckentraining der Tiere durchbuchstabiert. Dies läßt viel Raum für komische Elemente und einen immer wieder verblüffenden Hang zum Monströsen, lenkt aber von der eigentlichen Geschichte ab: dem Trauer- und Selbstfindungsprozeß des an der Schwelle zur Pubertät stehenden Mädchens.Ihre Figur haben die Drehbuchautoren erfunden, um das wissenschaftliche Vogelflugexperiment dramaturgisch und erzählerisch aufzuschließen. Doch was bei der Exposition von Amys Schicksal vielversprechend gelingt, die einfühlsame Entfaltung eines fast aller Sicherheiten beraubten Kindes, das sich in einer fremden Umgebung verloren und einsam fühlt, tritt um so mehr in den Hintergrund, je stärker der märchenhaften Technik und Reise Platz eingeräumt wird. Aufmerksam wird Amys Kindheit beispielsweise nach Neuseeland verlegt, um den Dialekt von Darstellerin Anna Paquin (im Original) verständlich zu machen, feinfühlig die ersten Irritationen im Selbstverständnis durch spielerische Versuche wie Schminken oder Verkleiden angedeutet. Doch wenn das Kind im Manne erst einmal erwacht ist und sich die Rotoren drehen, heißt es nur noch: "Papa Gans an Mama Gans". Manche Wendung wie ein Gesetzeshüter, der den Gänsen die Flügel stutzen, ein böser Spekulant, der das Vorgelreservat mit Ferienhäuser pflastern will oder eine Handvoll kruder Abenteuer während der Flugetappen untergraben die angestrebte Parabel vollends. Offensichtlich konnten sich weder die Autoren noch der Regisseur entscheiden, die autobiografischen Elemente ein wenig hintanzustellen und sich auf das zu konzentrieren, was der Film im Grunde genommen ist: ein technologisch hochgerüstetes Öko- und Selbstfindungsmärchen, dessen ungebrochener Naturromantizismus nicht weiter stört, weil es in der Sphäre des Imaginativen um die ersten Schritte eines Mädchens auf dem Weg ins Erwachsenenleben geht.