Der schwebende Schritt des Storches

Drama | Frankreich/Griechenland/Schweiz/Italien 1991 | 140 Minuten

Regie: Theo Angelopoulos

Ein Fernsehjournalist forscht an der Grenze zur Türkei nach einem verschwundenen griechischen Minister. In dem kleinen griechischen Grenzort haben sich Asylanten aus dem fernen und nahen Osten versammelt, unter ihnen möglicherweise der Politiker, der sich auf einfache Lebensformen zurückgezogen hat. Es bleibt offen, ob er nicht erkannt werden will oder ein Gestrandeter unter anderen ist. Ein filmisches Meisterwerk voller (kino-)magischer Momente und mit ungeheurem Reichtum, ein philosophischer und politischer Diskurs über Grenzen zwischen Ländern und Kulturen, über die Grenzlinien in jedem einzelnen. Dabei lotet der Film das Überschreiten dieser Linien aus und registriert voller Trauer den Verlust von Utopien. (Kinotipp der Katholischen Filmkritik; O.m.d.U.; Alternativtitel: "Der zögernde Schritt des Storches") - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
LE PAS SUSPENDU DE LA CIGOGNE | TO METEORA VIMA TOU PELARGOU
Produktionsland
Frankreich/Griechenland/Schweiz/Italien
Produktionsjahr
1991
Produktionsfirma
Arena/Theo Angelopoulos/VEGA-Film/ERRE/Greek Filmcenter
Regie
Theo Angelopoulos
Buch
Tonino Guerra · Theo Angelopoulos · Petros Markaris · Thanassis Valtinos
Kamera
Giorgos Arvanitis · Andreas Sinanos
Musik
Eleni Karaindrou
Schnitt
Giannis Tsitsopoulos
Darsteller
Marcello Mastroianni (Politiker/Verschwundener) · Jeanne Moreau (Frau des Politikers) · Gregory Karr (Reporter) · Dora Chrysikou (Mädchen) · Ilias Logothetis (Colonel)
Länge
140 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
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Diskussion
"Und vergiß nicht, die Zeit des Reisens ist wieder gekommen. Der Wind weht deine Augen fort." Als 18jähriger, zu Beginn der 50er Jahre, als er seine Geburtsstadt Athen verließ, soll Theo Angelopoulos in einem Gedicht diese Zeilen, eine Art visionären Lebensentwurf, geschrieben haben. Und der Topos der Reise weist ihn, den außerhalb seiner Heimat renommiertesten griechischen Filmemacher, gleichzeitig als seinen eigenen heimlichen Hauptdarsteller aus. Angelopoulos ist der besessene Intellektuelle und Künstler, wie alle seine Figuren auf der Suche nach Wahrheit und damit auf der Suche nach der verlorenen Zeit; ein rastloser Nomade, ein postmoderner Odysseus. "Der schwebende Schritt des Storches" erweitert die "Trilogie des Schweigens" zur Tetralogie. In einer Art gemaler Rückblende bündelt Angelopoulos noch einmal den Versuch einer Beschreibung vom Ende, vom Abschied gesellschaftspolitischer Utopien der 60er und 70er Jahre. Der zwangsweise Exodus des Individuums mündete m die innere Emigration, führte zur Preisgabe der öffentlichen und privaten Identität im vergangenen Jahrzehnt. Der Mythos der Aurklärung ist gescheitert. Die Melancholie am Ende des Jahrhunderts, der kulturelle Pessimismus (im menschheitlichen Kontext) erscheint übermächtig, wenn der Regisseur formuliert: "Die Politik und die Politiker sind nicht mehr glaubwürdig. Politisch tätig zu sein, ist für jemand, der heute ein Gewissen besitzt, quasi unmöglich. Persönlich fühle ich mich in einer Leere, weil ich den politischen Parteien nicht mehr glaube. Die Politik ist nicht mehr als eine Geschichte von Kameren, und die Politiker haben keine Vorschläge mehr als die von gestern und vorgestern."

Vor dem Hafen von Piräus werden mehrere Leichen geborgen. Ein Fernsehteam filmt die dramatische Aktion. An der griechisch-türkisch-bulgarischen Grenze recherchiert ein Journalist (Alexander) in einem verlassenen Städtchen, dem Wartesaal für Flüchtlinge aus allen Ländern. Der befehlshabende Oberst klärt ihn auf einer Grenzbrücke des Niemandslandes über die drei farbigen Streifen am Boden auf, indem er den rechten Fuß hebt und sagt: "Wenn ich einen Schritt mache, bin ich woanders oder ich sterbe." Zurück in der Fernsehanstalt sieht der Journalist die Aufnahmen von den Asylantenfamilien in Eisenbahnwaggons durch und glaubt, einen älteren Mann zu kennen. Im Bildarchiv findet er den Beweis. Während eines Empfangs kann er die Frau des verschwundenen Ex-Politikers nach anfänglichem Zögern zur Auskunft bewegen. Bei der Preisverleihung für sein Buch "Die Melancholie am Ende des Jahrhunderts" sei er plötzlich verschwunden. In der Unterkunft des Teams kommt es zu einer zarten Annäherung zwischen Alexander und einem geheimnisvollen Mädchen. Tags darauf besucht der Journalist den untergetauchten Mann und lauscht mit einem Jungen der Geschichte vom Papierdrachen, in der das Schicksal der Menschen, die der Sonne zu nahe gekommen waren und die Erde verlassen mußten, erzählt wird. Im Café sieht Alexander das Mädchen wieder. Er verfolgt es bis in die Sammelunterkünfte der Flüchtlinge, wo auch der ältere Mann erscheint, ihn gastfreundlich bewirtet. Auf der Brücke am Marktplatz arrangiert Alexander ein Treffen des Ex-Politikers mit seiner Frau; doch jene vermag ihn nicht wiederzuerkennen. Der raffiniert inszenierte Mitschnitt des Fernsehteams schlägt damit letztlich fehl. Am Bahnhof transportiert man eine Flüchtlingsgruppe ab. Am Flußufer filmen die TV-Leute eine bei Totenstille stattfindende Hochzeitszeremonie: Braut und Bräutigam stehen sich vom Wasser getrennt gegenüber, verabschieden sich schweigend. Als der Journalist am nächsten Morgen im Niemandsland die Pose mit dem angehobenen Fuß nachahmt, hört er, der alte Mann sei verschwunden. In einer bis zum Horizont mit Schnee bedeckten Landschaft klettern Männer in gelben Arbeitsanzügen Telefonmasten hoch, um Leitungen zu reparieren. Wie verzaubert geht Alexander einen Hügel hinunter und sieht sein Spiegelbild im Fluß.

Als Angelopoulos im Dezember 1991 in das nordgriechische Florina, den zweiten Drehort für seinen Film, kam, mußte er die Brisanz der Geschichte am eigenen Leib erfahren. Augustinos Kantiotis, griechisch-orthodoxer Bischof der Region, startete eine moraltheologische Kampagne gegen ihn, den "Agenten der EG" mit dem Bannfluch der Exkommunikation bekämpfend. Die Gefahren des Nationalismus, der Diktatur, der moralische Zerfall der alten Hochkulturen - Grenzen innerer und äußerer Form, die der Grieche seit "Die Rekonstruktion" (1970), seinem ersten langen Spielfilm, untersucht. Der namenlose Politiker hat viele Grenzen überschritten: die parlamentarische Karriere, ein sorgenfreies Leben, die Schriftstellerei und die Beziehung zu seiner attraktiven Frau. "Man muß schweigen, um der Musik hinter dem Rauschen des Regens lauschen zu können." Der Journalist, ein Mann Mitte Dreißig, wird im Verlauf der Recherchen zum Wissenden, der die Schlüsselwörter für einen neuen kollektiven Traum des Lebens lernt. Der alte Mann dagegen ist am Nullpunkt der Geschichte angelangt. Selbst die Kameraden von früher sind ausgestorben; die von Todessehnsucht geprägten Klopfzeichen eines Spiros in "Der Bienenzüchter" verhallen ungehört. Ein Ausgestoßener, ein Flüchtling in diesem Nirgendwo ist auch der Armeeoffizier. Das Verlangen nach Frieden und Harmonie der Abenteurer und Grenzgänger entlarvt er als mystischen Traum. Denn selbst im Mikrokosmos der Abgeschiedenheit existieren neben den äußeren Grenzen innere, unsichtbare Schranken in den Menschen. Der Einsamkeit und Irrealität des Alltags versucht er durch philosophische Reflexionen und Gespräche mit dem Journalisten zu entkommen. Er verkörpert wie der verschwundene Politiker das alter ego des Regisseurs. Die in die Biografie der Figuren eingebrannte Anonymität und der Identitätsverlust bewirken die radikale Selbstaufgabe, eine neue Dimension von Geschichte.

Im kontemplativ-meditativen Filmstil, den Angelopoulos in "Der schwebende Schritt des Storches" erneut verfeinert und unbeirrbar als Erkennungszeichen beibehält, verbirgt sich eine künstlerische Radikalität und Konsequenz, die in der Weltkinematographie ihresgleichen sucht. Die Figur des Fernsehjournalisten bringt auch wieder den medienkritischen Standpunkt in den Film hinein. Die Produktionsbedingungen vor Ort, der Termindruck, die das Geschehen überlagernden Vorbereitungen für eine Wahlkampf-Sendung sprechen eine deutliche Sprache. Die Wahrheitssuche um die Person des Verschwundenen wird als spannende Nachrichten- und Dokumentationsarbeit inszeniert. Das Fernsehteam wirkt in seiner Überschreitung von moralisch-medienspezifischen Grenzen kontrolliert. Am deutlichsten ist das, wenn die Frau des Politikers am Ende ihrer Erzählung bittet, die Kamera abzuschalten. Das Wiedersehen der beiden Eheleute auf der Brücke zeigt die Verantwortlichkeit von medialer Nähe und Distanz blitzartig auf: Die Frau geht am Fernsehwagen vorbei, während die Kamera in das Fahrzeug schwenkt, das Bild des Mannes auf dem Monitor aufnehmend, das Senken der Augen, die Stille im Zoom zeigt, um schließlich mit den verhallenden Schritten der Frau den Schwenk durch den Wagen auf den weggehenden Mann fortzusetzen.

Daß Angelopoulos' phantasievolle Träume und Albträume, die das Griechenland von heute so gerne vergessen möchte, den Kampf gegen das Vergessen, gegen den Verlust der Erinnerung aufnehmen, verdankt der Film auch zwei großartigen Schauspielern: Jeanne Moreau und Marcello Mastroianni.
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