Bilder als Chiffren, als am Anfang scheinbar ungeordnetes Material, ein Chaos aus akustischen und optischen Eindrücken; Dokumentarisches neben Inszeniertem, lose Fäden einer Erzählung, bevor sie sich zur Handlung verdichten, eine Stoffsammlung voller Atmosphären - so beginnt "Die Liebenden von Pont-Neuf. Eine nächtliche Autofahrt durch einen neon-erleuchteten Tunnel, das Glitzern der Seine, die Straßen von Paris, gesehen aus einem fahrenden Auto heraus. Ein verschmutzter, völlig heruntergekommener junger Mann torkelt über die Straße, bricht zusammen, ein Auto fährt über seinen Fuß; im Außenspiegel des Autos sieht man ihn auf der Straße liegen. Ein Mädchen mit einer Augenklappe geht vorbei. Ein Bus liest die Gestalten der Nacht ein: Junkies, Säufer, Obdachlose, Asoziale, Verrückte - Menschen voller Wunden, Narben, Tätowierungen, aufgefangen in einem Nachtasyl, wo sie notdürftig für den nächsten Tag versorgt werden. Auch Alex, der junge Mann, ist dabei, man verpaßt ihm ein Gipsbein. Er solle doch einmal überlegen, nur eine Sekunde seines Lebens, ehe es zu spät, rät ihm jemand; doch für Alex gilt nur ein Ziel: "Ich muß zur Brücke zurück!"Die Brücke ist der Pont-Neuf, die älteste Brücke von Paris. Und auch sie ist voller Chiffren: sie verbindet die Ufer des Flusses, sorgt für Kommunikation und dafür, daß sich das Treiben auf beiden Seiten vermengen und austauschen kann. Von der Brücke aus sieht man die Menschen an den Ufern, doch sie selbst ist nur ein Aussichtsplatz, ein Refugium für diejenigen, die vom Treiben ausgeschlossen sind oder sich selbst ausschließen. Für jene stellt sich die Brücke quer zum dahinfließenden Strom, trotzig und unbeweglich, mächtig und doch stets passiv. Der Pont-Neuf bedeutet für Alex Sicherheit und Ruhe; der seltsam autistisch wirkende junge Asoziale, früher Jongleur und Feuerschlucker, zieht sich in die hintersten Winkel der Brücke zurück, die obendrein wegen Renovierungsarbeiten für die Öffentlichkeit gesperrt ist: sie ist nur ein Provisorium, Symbol eines Ausnahmezustandes. Auf der Pont-Neuf gibt es einen alten Clochard namens Hans, der Alex, dem die Fähigkeit zu schlafen abhanden gekommen ist, mit Schlafmittel aus kleinen Glasampullen versorgt. Hans pfeift das Lied (von Mahler) der auf der Brücke Gestrandeten: "Ich bin der Welt abhanden gekommen." Er ist der "Herrscher der Brücke", denn er verfügt über die Macht des Schlafes und damit des vorübergehenden Vergessens. Doch plötzlich ist da noch jemand, der sich unter Dreck, Müll und Bauschutt ein Nachtlager gebaut hat: Michèle, das Mädchen mit der weißen Augenklappe, für das das Malen alles bedeutet und das panisch aus der bürgerlichen Welt geflohen ist, weil es zu erblinden droht.Was Leos Carax erzählt, ist im Kern die simple Liebesgeschichte von Alex und Michèle. Doch die Geschichte und die Art und Weise, wie er sie erzählt, sind nicht voneinander zu trennen. So heftig und eruptiv, so extrem und radikal, und dann wieder so zerbrechlich und vorsichtig, wie sich die Begegnung von Alex und Michèle gestaltet, so ist auch der Film in seiner Erzählweise. Carax eröffnet nach der langen Exposition eine "filmische Bühne", auf der er in ausufernden Bildeinfällen und -kompositionen Leidenschaften, Empfindungen, körperliche wie seelische Zerstörungen und Verletzungen durchspielt. Das ist auf der einen Seite aufwendiges, expressives Kino von äußerst suggestiver Kraft, auf der anderen Seite vielfältig gebrochene existentielle Innenschau, bei der Carax bis an die Grenzen geht - dorthin, wo physischer Schmerz und Liebe untrennbar miteinander verwoben sind, die Sehnsucht nach Zärtlichkeit ebenso unverstellt ist wie die - auch körperlicher - Verletzung, die der Entzug von Zärtlichkeit und Zuneigung bereitet. Carax konstruiert Bilder von aufwühlender physischer Direktheit, zeigt die hermetische Welt der beiden Liebenden als Abbild einer an sich selbst kranken Zivilisation: für die Liebe zweier Menschen scheint es in dieser verrotteten und verkommenen Welt kaum noch Hoffnung auf eine Zukunft zu geben.Dafür gibt es eine Folge von rauschhaften Erlebnissen, ein Tanzen auf dem Vulkan, ein tranceartiges Ausleben des Augenblicks: wie Alex und Michèle die Nacht erobern und wie sie unter dem nicht enden wollenden Feuerwerk zur 200-Jahr-Feier der Französischen Revolution die Brücke und den Fluß erobern, das entlädt sich inszenatorisch als unvergleichbarer sinnlicher Zauber. Ebenso sinnlich entwickelt sich - fast im Stillen - die Angst vor der Zerbrechlichkeit der neuen "Idylle". Alex reagiert panisch auf jedes Aurblitzen einer Erinnerung an Michèles frühere Welt, was bei ihm zu Selbstmitleid und Selbstverstümmelung führt. Michèle scheint vergleichsweise passiv, ist bemüht, zeichnerisch so viel festzuhalten, wie es ihr immer schwächer werdendes Augenlicht zuläßt. Einäugig wie sie ist, kann sie die Dinge nicht mehr plastisch wahrnehmen und fügt sich allmählich in Abhängigkeiten, in denen sie Alex in seiner Angst, sie zu verlieren, bestärkt. Er torpediert ihr Bemühen, seinem und ihrem gemeinsamen Leben ein Ziel und einen Sinn zu geben. Und als Michèle gar über eine Plakat-Aktion in der Métro gesucht wird, weil es möglich ist, ihr Augenlicht doch zu retten, setzt er die Plakate in Brand und begeht dabei ein Verbrechen (von dem Michèle selbst vorher nur fantasierte). Es geht ihm um alles: um einen Menschen, der ihn braucht, weil er selbst ihn braucht, egal, um welchen Preis. Doch Michèle erfährt von ihrer Chance und geht zurück: "Ich habe dich nicht wirklich geliebt", schreibt sie an die Brückenmauer, "vergiß mich!"Ein ernstes, nur ganz selten durch slapstickartige Komik aufgebrochenes Spiel um Liebe und Angst, selbstgeschaffene Abhängigkeiten und die Schwierigkeit, sich neu zu öffnen: so gesehen, ist "Die Liebenden der Pont-Neuf" auch ein Abenteuerfilm, dessen naturalistisches Dekor im Grunde ebenso künstlich ist wie Brücke selbst, die Carax mit immensem Aufwand in der Nähe von Montpellier nachbilden ließ. Daß der Film dabei in seinem emotionalen Gehalt nie an "Wahrhaftigkeit" einbüßt, ist seine zentrale Qualität. Bei aller Lust am exzessiven Moment und an der überbordenden Heftigkeit der Lebensäußerungen ist er doch immer auch ein Märchen. Und so steht am Ende, nachdem Alex noch tiefer gefallen ist und im Gefängnis landete, die Katharsis: ein Ende, das mit einem Traum beginnt, der Michèle zurück zu Alex führt, und mit einer Verabredung nach Alex' Entlassung - natürlich auf der Brücke, im Schnee, um Mitternacht. Beide sagen sich, daß sie einander immer noch brauchen - natürlich chiffriert. Alex: "Ich hinke nicht mehr." Michèle: "Die Brücke ist fertig repariert, sie ist jetzt ganz stabil." Beide sind voller Angst vor der möglichen gemeinsamen Zukunft, und Alex ist es, der im wahren Wortsinn deutlich macht, daß ihnen nur eines hilft: der Sprung ins kalte Wasser. So mündet alles in einen trancetrunkenen, fast surrealen Kino-Traum von unglaublicher Schönheit: Ein Schiff gleitet über die Liebenden hinweg, sie steigen an Bord, werden von einem alten Paar begrüßt, das sein letzte Fahrt angetreten hat - eine "Reise bis ans Ende". Die Liebenden dürfen mitfahren, und zum ersten Mal lächelt Alex. Er und Michèle stehen als Gallionsfiguren ganz vorne am Bug des Schiffes, jetzt schwimmen sie mit dem Strom, aufgeregt und neugierig auf das, was sie eigentlich nicht mehr hatten: eine Zukunft.