Raoul Peck, bekannt für Filme wie „Der junge Karl Marx“ oder „I Am Not Your Negro“, ist ein Filmemacher mit außergewöhnlicher Biografie. Geboren 1953 in Haiti, aufgewachsen im damaligen „Belgisch-Kongo“, studierte er in den 1970er-Jahren unter anderem an der DFFB in Westberlin und spricht Deutsch; von 1996 bis 1997 war er Kulturminister Haitis. Sein Interesse als Filmemacher galt und gilt immer wieder Befreiungsbewegungen und Revolutionären. Nun erinnert er in seinem neuen Dokumentarfilm „Ernest Cole: Lost and Found“ an einen lange in Vergessenheit geratenen südafrikanischen Fotografen.
Wann haben Sie das erste Mal Fotos von Ernest Cole gesehen?
Raoul Peck: Das ist lange her, als ich noch Student war, in den
1970er-Jahren in Westberlin. Damals waren die meisten Befreiungsbewegungen sehr
präsent in Berlin, und eine davon war der ANC. Ich habe mit ANC-Aktivisten
zusammengearbeitet, und wir haben diese Bilder für Flugblätter und Infomaterial
benutzt. Wir wollten die Öffentlichkeit darüber informieren, was in Südafrika
geschieht. Damals kam ich erstmals mit diesen Fotos in Berührung, aber erst
viel später habe ich verstanden, wer Ernest Cole war. Damals ging es uns nicht
um den Namen des Fotografen oder den Künstler. Erst Jahre später las ich dann
das Buch von Ernest Cole, „House of Bondage“. Dabei beeindruckten mich nicht nur die hervorragenden Bilder,
sondern auch die Texte. Erst durch die Texte habe ich verstanden, wer Ernest
Cole war.
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Und haben Sie das Filmprojekt über ihn seitdem jahrelang mit sich getragen?
Raoul Peck: Nein, das wäre ja deprimierend! Erst vor sechs Jahren
hat mich seine Familie kontaktiert und gefragt, ob ich an einem Film über
Ernest Cole interessiert wäre. Nun bekomme ich einige Anfragen zu ganz
unterschiedlichen Themen oder Personen. Aber bei Ernest Cole war das Besondere,
dass man 60.000 seiner Negative in einem Bankschließfach in Schweden gefunden
hatte. Das weckte natürlich meine Neugier. Die Familie war gerade dabei, die
Negative zu ordnen, zu nummerieren und zu digitalisieren. Und es gelang mir,
ein wenig Geld aufzutreiben, damit sie dieser Arbeit weiter nachgehen konnten.
Heute befindet sich diese Sammlung in der Wits University in Südafrika.
Zunächst war ich mir noch nicht sicher, ob ich einen Film machen wollte. Erst
zwei Jahre später wurde mir klar, dass ein Film nicht nur möglich, sondern auch
nötig war. So konnte ich auch viel mehr erzählen als nur von einem Fotografen,
sondern die Geschichte einer ganzen Generation, über alle südafrikanischen
Künstler, die im Exil waren und den Anti-Apartheid-Kampf geführt haben. Dieser
Zeitraum umfasst auch mein eigenes Leben als politischer Aktivist; von den 1970er-Jahren
bis heute. Daher war der Film für mich auch persönlich relevant.
Sie haben einen ganz eigenen Stil entwickelt, mit den eigentlich unbeweglichen Bildern zu arbeiten, als würden sie plötzlich bewegt. Können Sie etwas zu dieser ganz speziellen Form sagen?
Raoul Peck: Wer meine Arbeiten kennt, weiß, dass ich schon zu meiner Zeit an der DFFB so gearbeitet habe. Meine ersten Filme entstanden auch mit Fotos. Ich experimentiere also seit über 40 Jahren damit, wie man Fotos für das Kino verwenden kann. Meine damaligen Meister waren Chris Marker und Alexander Kluge. Für mich als jemanden, der aus Haiti kam, ging es immer darum, Kino mit allen verfügbaren Mitteln zu machen. Mein Mantra war immer der Spruch von Malcolm X: „Whatever is necessary“. Ich wusste also, dass ich mit den Fotos vielfältig arbeiten musste, was den Schnitt, die Musik, die gesamte Dynamik betrifft. Einige Sequenzen wurden auch direkt zur Musik geschnitten. Und ich wollte in die Fotos eindringen – man kann sie heute gewissermaßen in 3D-Bilder verwandeln. Das macht auch die Faszination dieser Fotos aus, dass sie Geschichten erzählen, wenn man in ihr Inneres vordringt.
Wir müssen auch über die Stimme aus dem Off reden. Welche genaue Funktion hat sie?
Raoul Peck: Ich wollte, dass Ernest Cole seine Geschichte
gewissermaßen selbst erzählt, ganz radikal aus seiner Perspektive. Daher ist
das auch nicht die Stimme eines klassischen Erzählers. Das habe ich für meine
Filme immer ausgeschlossen, denn eine Erzählerstimme wirkt kühl, sehr neutral
und schafft eine Distanz zum Text. Das ist jedoch nicht meine Herangehensweise.
Für mich übt diese Stimme eine Funktion wie in einem Spielfilm aus. Ich habe
auch ein echtes Casting veranstaltet, um die passende Stimme zu finden. Ich
sage immer: Meine Dokumentarfilme sind wie Spielfilme, und meine Spielfilme
sind wie Dokumentarfilme. Ich alterniere laufend zwischen diesen beiden
Filmgenres. Am Ende stellt man eine Geschichte her, die wahr ist. Es geht immer
um Dramaturgie wie bei einer Fiktion und nicht um eine Reportage. Ich verlange
daher von meinen Schauspielern, die Figur zu sein, die sie sprechen. Samuel L. Jackson war James Baldwin. Man stellt das als Zuschauer nie in Frage.
Natürlich muss man diese Stimme aus dem Off auch so gestalten, dass sie vom
Zuschauer akzeptiert wird.
Verblüffend ist, wie es dazu kam, dass die Zeitschrift „Stern“ die Fotos von Ernest Cole veröffentlichte. Zunächst hatte man sie abgelehnt. Dann wurde 1966 der weiße Premierminister Südafrikas, Hendrik Frensch Verwoerd, ermordet, und plötzlich wollte man im „Stern“ Bilder über die Realität der Schwarzen in Südafrika. Wie bizarr ist das eigentlich?
Raoul Peck: Das ist die Realität unserer Berufe. Sie sind
Journalist, Sie kennen das, warum man einen Artikel annimmt oder ablehnt. Das
hat immer etwas mit der Aktualität zu tun. Jemand wie Ernest Cole, aber auch
ich selbst, wir sind häufig über solche „Zufälle“ gestolpert. Heute ist das
noch schlimmer. Es gibt diese widerliche Oberflächlichkeit, wenn es um die
Auswahl von Themen geht. Das fing bereits vor 30 Jahren an, als alle Medien,
auch die öffentlich-rechtlichen, begannen, auf der Jagd nach Einschaltquoten
die Privatsender zu imitieren. Gleichzeitig hat man ihre Budgets immer weiter
gekürzt, was ihren ursprünglichen Auftrag, unabhängigen Qualitätsjournalismus
zu produzieren, zusätzlich erschwert.
Heute mag man es kaum glauben, aber wie konnte es dazu kommen, dass die beeindruckenden Fotos von Ernest Cole über das Leben der Afroamerikaner im Süden der USA niemals veröffentlicht worden sind?
Raoul Peck: Das hat etwas mit dem damaligen Kontext zu tun. Auch bekannte amerikanische Fotografen wurden kaum verlegt. Man konnte sie an einer Hand abzählen. Erst durch die Bürgerrechtsbewegungen der 1990er-Jahre hat sich daran etwas geändert. Außerdem war Cole eben Afrikaner und arbeitete nicht in seinem Land. Das gab man ihm auch zu verstehen. Es gibt in seinem Fall durchaus ein gewisses Happy End. Seine Familie befindet sich endlich im Besitz seiner Fotos, seines Werkes, das gerade wiederentdeckt und zu einem zweiten Leben erweckt wird. Überall auf der Welt gibt es derzeit Ausstellungen seiner Fotos. Viele sieht man nun in meinem Film zum ersten Mal. Die Welt wird noch viel von Ernest Cole sehen ...