In den letzten Jahren ist in Ungarn der Druck gegen Filmemacher:innen, die nicht auf Linie mit der rechtspopulistischen Fidesz-Partei unter Viktor Orbán liegen, immer größer geworden. Der Druck ist vor allem finanzieller Natur: Wer Kritik übt, wird nicht gefördert. Dennoch existiert eine vitale Szene unabhängiger Filmschaffender, die kreativ dagegenhalten. Ein Streifzug anlässlich des deutschen Kinostarts von „Eine Erklärung für alles“ (jetzt im Kino).
Abel ist 18 und ein wenig verpeilt. Er steht kurz vor der mündlichen Abiturprüfung in Geschichte, hat sich in eine Mitschülerin verliebt und tut nur so, als würde er lernen. Sein Vater leitet ein Baubüro; einer seiner Kunden wünscht sich eine Miniatur jener Villa, die der ungarische Außenminister bewohnt. „Da werden ihre 100 Millionen Forint nicht reichen“, meint der leicht aufbrausende Mann um die 50, der wie viele in Ungarn ein linientreuer Anhänger der regierenden rechtpopulistischen Fidesz-Partei ist. So ereifert er sich über den liberalen Bürgermeister von Budapest, als er mit seiner Frau auf dem Balkon steht und zunächst die Schönheit der altehrwürdigen Hauptstadt preist. „Schade. Du hast so schön gesprochen“, meint seine Frau enttäuscht. „Und dann musstest du wieder über Politik reden.“
Schon
in den ersten Minuten von „Eine Erklärung für Alles“ gelingt es
Regisseur Gábor Reisz mit feiner Klinge, klugen Anspielungen und
treffsicheren Dialogen, ein sehr treffendes Bild des heutigen Ungarns zu
zeigen. Der
Film lief zunächst in Venedig 2023 in der Sektion „Orrizonti“ und gewann dort
den Hauptpreis. In Ungarn kam er im Herbst 2023 in die Kinos,
entwickelte sich dort zum Dauerbrenner und lief über ein Jahr lang in den
Arthouse-Kinos.
Das Werk um den Schüler Abel, der mit einer Lüge ein politisches Erdbeben auslöst, zeigt ein polarisiertes Ungarn, wie es den Vertretern der Regierungspartei Fidesz nicht passt. Regisseure wie Reisz erhalten schon seit Jahren keine staatliche Unterstützung mehr für ihre Filme.
Im Sommer 2024 lud das Festival in Karlovy Vary den Regisseur Gábor Reisz in die internationale Jury ein. Im Interview erzählte er von den sehr speziellen Produktionsbedingungen für seinen Film und betonte, es gäbe in Ungarn jetzt zwei Arten von Filmen: den unabhängigen Film und die vom Staat mit viel Geld produzierten Prestigeproduktionen wie „Semmelweis“ von Lajos Koltai, dem renommierten Kameramann von István Szabó, der lange Zeit in Hollywood gearbeitet hat und ab und an auch Regie führt.
Auf Regierungslinie: Epen über ungarische Helden
Koltai setzt auf überschaubares Mainstreamkino. Er feiert den jungen ungarischen Arzt Semmelweis in Wien, wobei er sich auf eine einfache Figurenzeichnung und ein undifferenziertes Gut-Böse-Schema stützt. Wie im ungarischen Kino der 1970er- und 1980er-Jahre reden alle nur Ungarisch; auch in Wien ertönt kein einziges Wort auf Deutsch.
„Semmelweis“ gehört damit zu einer Reihe von nationalistisch gefärbten Epen über „große Ungarn“. Die regierungskritische Wochenzeitschrift „HVG“ meinte lapidar: „Aus der Reihe der vom Staat subventionierten Filme über ungarische Helden sticht der Film von Lajos Koltai nicht mit seiner nicht allzu komplizierten Botschaft, aber zumindest mit seinen hervorragenden schauspielerischen Leistungen und seiner üppigen Ausstattung hervor.“ Der Film kostete 2,4 Milliarden Forint (etwa 6,2 Millionen Euro) und erreichte als erfolgreichster ungarischer Film im Jahr 2023 ingesamt 360.000 Zuschauer.
„Eine Erklärung für Alles“ war der zweiterfolgreichste einheimische Film des Jahres 2023 mit 90.000 Kinobesuchern. Gábor Reisz erklärt, wie er mit einer staatlichen Förderung von null Forint klarkam: „Wir sind einige in Ungarn, denen klar wurde, dass wir gewisse Filme nicht mehr mit Förderung drehen können, weil nach sehr politischen Maßstäben entschieden wird.“ Deshalb wurde der Film, wie auch schon Reisz' vorherige Filme „Bad Poems“ und „Aus unerfindlichen Gründen“, ohne staatliche Unterstützung von der Produzentin Júlia Berkes produziert. Berkes gehört zur Produktionsfirma „Proton Cinema“ von Kornél Mundruczó, jenem Unternehmen, das alle bedeutenden unabhängigen ungarischen Filme der letzten Jahre auf den Weg gebracht hat.
Berkes legte zunächst fest, dass der Film mit nur zwanzig Drehtagen auskommen müsse. Reisz setzte auf einen kleinen Stab aus siebzehn Mitarbeitern, darunter viele Berufsanfänger. Man verzichtete größtenteils auf Schminke und Kostüm, drehte in den Wohnungen von Freunden und Verwandten. Außerdem half Matyas Prickler vom slowakischen Filmförder-Fond, der einige ungarische Filme co-produzierte, bis es zur Neuwahl des slowakischen Nationalisten Meciar kam. Seitdem ist auch dieser Fördertopf für ungarische Regisseure versiegt.
Die Ära Andrew G. Vajna
Seitdem Viktor Orbán vor 14 Jahren das zweite Mal an die Macht kam und seitdem das Land ununterbrochen und zunehmend autoritär und illiberal regiert, wird stark politisierte Alltag im ungarische Kino weitgehend ausgeblendet. Das liegt vor allem daran, dass es nur noch eine staatliche Filmförderung gibt.
Das ungarische Kino lässt sich nach 2010 grob in zwei ganz unterschiedliche Phasen einteilen: Die Zeit von Andrew G. Vajna bis zu seinem Tod 2019, und die Zeit unter seinem Nachfolger Csaba Kael danach. Vajna war eine schillernde Figur. Er stammte aus einer jüdischen Familie, die den Familiennamen Weidemann in Vajna änderte, und floh 1956 mit Hilfe des Roten Kreuzes aus Ungarn in die USA, wo er zum Hollywoodmogul und Produzenten von „Rambo“ und „Terminator“ aufstieg. Vajna erfüllte so ziemlich alle Klischees eines Hollywoodproduzenten.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kehrte er aber in sein Geburtsland zurück, produzierte vor Ort und gründete mit „Intercom“ einen Verleih, der US-amerikanische Blockbuster nach Ungarn brachte. Als er als Duzfreund von Ministerpräsidenten Viktor Orbán ab 2011 zum starken Mann der ungarischen Filmförderung aufstieg, schlugen viele Filmemacher die Hände über dem Kopf zusammen, am lautstärksten Béla Tarr. Ausgerechnet der Mann, auf dessen Schreibtisch sich angeblich die ihm unbekannten VHS-Klassiker des ungarischen Kinos stapelten, sollte dem einheimischen Kino wieder zu mehr Anerkennung verhelfen?
Doch schon mit einem der ersten Filme aus der Vajna-Zeit, „Das große Heft“ (2013) von János Szász, war das ungarische Kino wieder in aller Munde. Die Verfilmung eines Romans der ungarisch-stämmigen Schriftstellerin Ágota Kristóf gewann den Hauptpreis in Karlovy Vary; in Nebenrollen spielten Ulrich Matthes und Ulrich Thomsen mit. Aber vor allem mit „Son of Saul“ von László Nemes, der 2016 einen „Oscar“ gewann, überraschte Ungarn die Filmwelt.
Den eigenwilligen, auch ästhetisch ungewöhnlichen Film über das industrielle Morden der Deutschen in Auschwitz hatten französische oder deutsche Produzenten nicht co-finanzieren wollen. So entstand er ausschließlich mit ungarischen Geldern. Die "Berlinale" lehnte den Film ab, in Cannes sorgte er dann aber für Furore. Und als dann die fast in der Versenkung verschwundene Ildikó Enyedi mit „Körper und Seele“ 2017 bei der "Berlinale" triumphierte, hatten plötzlich sämtliche Festivaldirektoren das ungarische Kino auf dem Schirm.
Andy Vajna bediente keineswegs den Wunsch seiner politischen Gönner, große nationalistische Epen zu drehen. Er dachte immer als Produzent und an den (internationalen) Markt. Bei kleineren Arthouse-Filmen ließ er die Regisseure und Regisseurinnen gewähren, konnte aber auch autoritär sein. So stoppte Vajna 2014 den mit über 8 Millionen Euro budgetierten Film über den ungarischen Nationalhelden Miklos Toldi von György Pálfi. Er ließ die Dreharbeiten nach nur wenigen Drehtagen abbrechen, weil er dem Filmemacher Überschreitung des Budgets und „zu wenig Action“ vorwarf.
Der wachsende staatliche Druck
Solange sich die international mit Preise überhäuften Filmemacher nicht politisch äußerten, schien eine Zeit der relativen Kunstfreiheit für den Film zu herrschen. Doch das änderte sich zunehmend. Erste Leidtragende war Ildikó Enyedi, die nach einem kritischen Interview beim Deutschlandfunk Kultur von Fidesz-Politikern angegriffen wurde, die ihr mit Geldentzug drohten.
Als nach dem Tod von Andy Vajna der ehemalige Filmemacher Csaba Kaél zum Regierungsbeauftragten für Film wurde, merkt man verstärkt die politische Einmischung. Gábor Reisz bringt es auf den Punkt: „In den ersten fünf Jahren habe ich den Druck nicht gespürt. Doch was dann im Filmbereich und der Filmkultur passierte, änderte vieles.“ Die Fidesz-Politiker vertragen keine Kritik und fragen immer wieder ganz offen, warum sie jemanden finanziell unterstützen sollen, der sie kritisiere. Reisz betont: „Sie nehmen alles persönlich. Ein Film sollte auch Probleme reflektieren. Wenn er das nicht tut, gibt es keine Veränderung, keine Entwicklung. Im Sozialismus haben die damaligen Genossen durchaus einiges zugelassen. Heute aber wird Kritik einfach unterdrückt.“
Historisch gesehen hat das ungarische Kino paradoxerweise oft künstlerisch besonders dann geblüht, wenn im Land politische Unfreiheit herrschte. Ungarn selbst Phasen wie die Regierungszeit von Miklós Horthy, János Kádár oder aktuell die Orbán-Epoche übrigens ausnahmslos „Regime“. Vor allem die lange Zeit unter Kádár (1956-1989) erwies sich im ungarischen Kino indes als außerordentlich fruchtbar. Regisseure wie István Szabó, Miklós Jancsó oder Regisseurinnen wie Márta Mészáros und Judit Elek tauchten mit ihren Werken plötzlich auf den großen Festivals in Cannes, Venedig oder Berlin auf.
Höhepunkt waren der Film „Adoption“, für den Márta Mészáros 1975 als erste Frau überhaupt einen „Goldenen Bären“ auf der "Berlinale" erhielt, und „Mephisto“ von István Szabó, der 1982 als erster ungarischer Film einen „Oscar“ gewann. Selbst Filme, die ein Tabuthema wie den „Ungarischen Volksaufstand“ 1956 angingen, konnten schließlich realisiert werden. Sie wurden zwar bisweilen wie „Tagebuch für meine Kinder“ (1984) von Márta Mészáros eine Zeitlang verboten, kamen aber irgendwann doch in die Kinos.
Politische Filme, kreativ produziert
Im heutigen „Orbán-Regime“ ist es primär das Geld, das als Druckmittel gegen unliebsame Filmemacher eingesetzt wird. Wer in Ungarn politische oder unbequeme Filme drehen möchte, muss entsprechend kreativ werden. Wie Szabolcs Hajdu, der schon länger unabhängige Filme realisiert, etwa „BÉKEIDÖ“, den einzigen halbwegs aktuellen ungarischen Film, den man derzeit auf Netflix sehen kann. Der Episodenfilm lieferte 2020 eine bittere Bestandsaufnahme und zeigte ein tief gespaltenes Land, in dem sich Menschen hasserfüllt und völlig intolerant beschimpfen. Ähnliche Szenen findet man jetzt auch in „Eine Erklärung für Alles“, wenn der liberale Lehrer auf den nationalistischen Vater von Abel trifft.
Von Szabolcs Hajdu kamen 2024 zwei neue Filme in die Kinos. Er geht seinen Weg konsequent weiter. „Kálmán Nap“ handelt von zwei befreundeten Paaren. Levente und Zita sind zu Gast bei Kálmán (gespielt vom Regisseur) und Olga. Eigentlich will man Kálmáns Namenstag feiern, doch dann treten zunehmend Risse zwischen den Protagonisten auf. Es geht um eine Affäre und den Mangel an Intimität und Sexualität in Langzeitbeziehungen. Das Problem ist, dass niemand die Wahrheit sagen und hören will. „Kálmán Nap“ startete im März 2024 in den ungarischen Kinos.
Allein in diesem Jahr liefen mehr als ein halbes Dutzend unabhängige ungarische Filme an. Darunter auch der in Locarno mit einer Lobenden Erwähnung bedachte „Fekete Pont“. In dieser ungarischen „Das Lehrerzimmer“-Variante wird ein Junge gemobbt, der sich nicht anpassen will und mit seiner Mutter nach Jahren in Berlin zurück nach Ungarn kommt. Vor allem der Sportlehrer mobbt den Jungen. Eine junge Lehrerin beobachtet sogar, wie er ihn einmal schlägt. Aber niemand will die Wahrheit hören. So steht die Schule für einen Mikrokosmos voller konservativer Haltungen und Wertvorstellungen. „Neue“ wie die junge Lehrerin oder der Schüler, der lange im Ausland lebte, stören da nur.
Auch wenn der Film, der von einem Kollektiv gedreht wurde, dramaturgische Lücken aufweist, gelingen herrliche Momentaufnahmen. So fällt in der noch aus sozialistischen Zeiten stammenden Schule einmal ein riesiges Fenster auf den Hof. Die Reparatur wäre zu teuer, aber notdürftig flicken und ausbessern darf man das Loch auch nicht. Eine Dame von der Schulbehörde erklärt immer nur, was alles nicht erlaubt sei. Der Fall geht in die Prüfung. Das Loch in der Fensterwand bleibt.
Über 115.000 Zuschauer haben das kleine Werk bisher gesehen. Das ist ein unerwarteter Erfolg und verdeutlicht, wie sehr sich ein Teil des ungarischen Publikums nach authentischen Geschichten über die Probleme des Landes sehnt.
Die aktuelle Nummer Eins in Ungarn ist ein etwas anderer unabhängiger Film. Regisseur Gábor Herendi, der schon immer für kommerzielle Komödien stand, überwarf sich mit dem starken Mann des ungarischen Kinos, TamásLajos, der unter anderem auch „Semmelweis“ produziert hat. Seitdem steht Herendi auf einer inoffiziellen schwarzen Liste und bekommt kein Geld mehr. Für das Remake eines tschechischen Hits, der im Ungarischen „Futni mentem“ (Ich ging rennen) heißt, verpfändete der Regisseur angeblich sogar sein Haus und bekam Unterstützung vom ungarischen Privatsender RTL+.
Die etwas derbe Komödie um eine Witwe, die aus Liebe zu ihrem verstorbenen Mann gemeinsam mit ihren drei Töchtern einen Marathon laufen will, ist eigentlich völlig unpolitisch. Aber wer beim Orbán-Regime aneckt, wird nicht unterstützt. Bisher haben in vier Wochen 225.000 Zuschauer den Film gesehen – das sind mehr als für „Vaiana 2“, „Gladiator II“ oder „Wicked“.