© Karõ Filmes ("Manga d'Terra" von Basil Da Cunha)

Das portugiesische Kino beim Festival in Coimbra

Beobachtungen beim portugiesischen Filmfestival in Coimbra, wo fast die gesamte Spielfilmproduktion des Jahres 2023/2024 zu sehen war

Veröffentlicht am
09. Dezember 2024
Diskussion

„Mich kennt hier niemand“, kokettierte der portugiesische Regisseur João Pedro Rodrigues beim Filmfestival in Coimbra nicht ganz zu Unrecht, wo fast die gesamte Jahresproduktion des Landes zu sehen war. Während seine Filme oder die von Pedro Costa oder Miguel Gomes international Anerkennung erfahren, stoßen sie zuhause nur auf sehr verhaltenes Interesse. Allzu oft wird dabei aber übersehen, dass das Kino als visuelles Gedächtnis eines Landes Erinnerungen bewahrt, für die es keine anderen künstlerischen Gefäße gibt.


Anlässlich des 50. Jubiläums der Nelkenrevolution im Jahr 1974 widmete das MoMa in New York in diesem Herbst dem portugiesischen Filmschaffen eine Reihe mit dem Titel „The Ongoing Revolution of Portuguese Cinema“. Eine Standortbestimmung des aktuellen lusitanischen Kinos war aber jüngst auch in der Universitätsstadt Coimbra möglich, wo sich das Filmfestival „Caminhos do Cinema Português“ (16.-23.11.2024) mit der Tatsache beschäftigte, dass dem portugiesischen Kino auf internationalen Festivals eine große Aufmerksamkeit widerfährt, während es zuhause überhaupt nicht wahrgenommen wird. João Pedro Rodrigues, einer der bekanntesten portugiesischen Filmemacher, brauchte dies selbstkritisch-süffisant auf die Formel: „Mich kennt hier niemand!“ Gerade deshalb betrachtet es das Festival in Coimbra als seine Aufgabe, zwischen Künstlern, Zuschauern und (schulischen) Multiplikatoren zu vermitteln.

Mit einem verschwindend knappen Budget von etwa 100.000 Euro organisierten Festivalleiter Tiago Santos und sein Team eine Filmschau, die eine gute Basis bot, um nahezu die komplette Spielfilmproduktion des Jahres 2023/24 zu begutachten. Zur Abrundung des Arthouse-Panoramas hätte man lediglich einige an der Kinokasse erfolgreichen Titel wie die Klamotte „Balas & Bolinhos: Só Mais umaCoisa von Luís Ismael oder die Liebeskomödie „Podia ter Esperado por Agosto“ von César Mourão aufnehmen können. „Balas & Bolinhos“ zählt seit August 250.000 Besucher, „Podia…“ nimmt mit gut 100.000 Zuschauern den zweiten Platz im Ranking ein. Das auf Filmfestivals in Berlin, Locarno oder Venedig gefeierte Autorenkino erzielt hingegen meist höchst bescheidene Einspielergebnisse.

So verbuchte Portugals renommiertestes Aushängeschild, Miguel Gomes, für seinen 2024 in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichneten Film „Grand Tour“ rund 12.000 Zuschauer. Auf deutsche Verhältnisse hochgerechnet wären das etwa 100.000 verkaufte Kinokarten. „A Flor do Buriti von João Salaviza und Renée Nader Messora kam auf 6200 Zuschauer und „Pedágio von Carolina Markowicz zog seit dem Kinostart im Juni nur knapp 1000 Besucher an.

"A Flor do Buriti" von (Karo Filmes)
"A Flor do Buriti" von João Salaviza und Renée Nader Messora (© Karõ Filmes)

Auffallend viele der in Coimbra ausgewählten Filme kreisten um die Thematik der sogenannten Nelkenrevolution von 1974 und deren (Spät-)Folgen. Seinerzeit überforderte ein elitäres, ideologisch ausgerichtetes Autorenkino nach den politischen Macht- und Flügelkämpfen die traditionellen Sehgewohnheiten des Publikums. Mancher erinnert sich vielleicht noch an Paulo Rocha und seine Filme des portugiesischen Cinema Novo, „Os verdes anos (1963) oder „Mudar de vida (1966), die von der sozioökonomischen Depravierung der bürgerlichen Mittelschicht wie der einfachen Bevölkerung erzählten. Sie beschrieben die Gefühle eines Landes, in dem „alles scheitert und in einen sanften Todesschlaf versinkt“. Mit ihrer Poesie des Alltags ließen sie auch eine Gesellschaft im Übergang aufscheinen. Sie nahmen den Drang zur Befreiung, die Revolution des 25. April 1974 vorweg und entlarvten indirekt drei Konstanten der jahrzehntelangen Diktatur: Korruption und die Beteiligung von Repräsentanten der katholischen Kirche sowie die allgegenwärtige Geheimpolizei Pide.

Paulo Cunha und Daniel Ribas, zwei Analysten des neuen portugiesischen (Autoren-)Kinos, betonen in ihren Untersuchungen insbesondere die Relevanz einer fruchtbaren Synthese von dokumentarischer und fiktionaler Dramaturgie. Als repräsentative Beispiele für diese Tendenz nennen sie Pedro Costa, João Salaviza und Miguel Gomes.


(K)eine verklärte Sicht der „Nelkenrevolution“

Mit einer Revision der oft verklärt-romantischen Sicht der „Nelkenrevolution“ stachen beim diesjährigen Festival gleich mehrere Produktionen hervor. „Sempre von der italienischstämmigen Regisseurin Luciana Fina rekonstruiert mit Archivmaterial der Lissabonner Kinemathek und des portugiesischen Fernsehsenders RTP die Parallelen zwischen Mussolinis Schwarzhemden und dem aufziehenden Salazar-Staat. Bilder über die Aktivitäten der Staatsmacht und Geheimpolizei sowie einer eingeschüchterten Bevölkerung rufen die Zeit der Aufbruchstimmung ins Gedächtnis zurück.

Der Film besticht durch seine präzise Darstellung der Transformation und Ungleichzeitigkeit Portugals von 1962 bis 1983. Es geht um Ausbeutung in den Fabriken und bei Großgrundbesitzern, um soziale Ungerechtigkeiten, Bildungsdefizite, die verhinderte Emanzipation der Frau sowie eine von allgegenwärtiger Zensur bedrohte Kultur. Kontrastiert werden diese historischen Töne und Bilder mit aktuellen Protesten zum Klimawandel und studentischen Streiks.

Einen komplett anderen, weiblichen Blick auf die Ereignisse vor 50 Jahren bietet die Dokumentation O Manel! Há uma revolucão“. Darin kommen Frauen aus der Landbevölkerung zu Wort, die nach ihrem Alltag und ihrem Privatleben befragt werden und wie sie die Nachricht vom Staatsstreich aufgenommen haben. Die räumliche, kulturelle, gesellschaftliche und ökonomische Distanz zur Hauptstadt machen sich schlagartig bemerkbar. Während in den Straßen von Lissabon an einem sonnigen 25. April 1974 Demonstrationen die mit Nelken geschmückten Soldaten begeistert feiern, kümmerte sich eine der interviewten Frau um Zwiebelpflanzen auf dem Acker. Eine andere bereitete das Mittagessen zu, eine fuhr in die Stadt, andere tauschten sich mit den Nachbarn aus und nahmen die lokale Überwachungsmaschinerie der Geheimpolizei Pide zum ersten Mal wahr.

"Manga d'Terra" von ()
Frauen von den Kapverden: "Manga d'Terra" (© AKKA Films/Basil Da Cunha)

Wie sehr die Absicht zur Errichtung eines neuen Staates, das Konzept des „neuen“, sozialistischen Menschen in den für unabhängig erklärten Kolonien ins Abseits führte, beschreiben die mosambikanischen Filmemacher Isabel Noronha und Camilo de Sousa mit ihrer Dokumentation „À Mesa da Unidade Popular. Die Freiheitsbewegung Frelimo in Mosambik erschuf nach der Unabhängigkeitserklärung 1975 ein System der Einschüchterung. In dem Film wird ein verheerendes Kapitel politischer wie gesellschaftlicher Bevormundung rekonstruiert, das individuellen Gestaltungsoptionen keinen Raum ließ. Die differenziert argumentierende Dokumentation lebt von der Authentizität sehr persönlich gehaltener Lebensläufe.


Im Schatten des Kolonialismus

Por Ti, Portugal, Eu Juro von Sofia da Palma Rodrigues und Diogo Cardoso schlägt das nahezu unbekannte Kapitel afrikanischer Soldaten auf, die während des Kolonialkriegs in Guinea-Bissau auf portugiesischer Seite gegen die einheimische Bevölkerung kämpften und nach der Unabhängigkeit schmählich vergessen wurden. Der Film ist eine durch Einzelschicksale gestützte, faktenreich recherchierte Untersuchung zur Diskussion über die historische Erinnerung und die kollektive Verantwortung.

In „Contos de Esquecimento“ entwirft der Regisseur Dulce Fernandes eine eigenwillige, poetisch anmutende Reflexion über die portugiesische Kolonialzeit, gesprochen über Aufnahmen einer archäologischen Ausgrabung vor den Stadtmauern von Lagos an der Algarve. Dort entdeckte man Skelette und Fundstücke aus dem Sklavenhandel des 15. Jahrhunderts. Es sind buchhalterisch penibel aufgeführte Dokumente grausamer Schiffstransporte von Erwachsenen und Kindern, mit Tausenden Toten und auf den Meeren verunglückter Menschen. Der Film richtet seinen Blick aber auch auf die gesamteuropäische Kolonialgeschichte, die sich durch Restitutionen von Raubkunst oder schale Lippenbekenntnisse zur Anerkennung historischer Schuld – oft verbunden mit der Genehmigung zum Abbau wertvoller Bodenschätze –, nicht vom Blutmakel freisprechen kann.

Banzo“ von Margarida Cardoso handelt von der Ausbeutung afrikanischer Plantagenarbeiter auf der im Golf von Guinea gelegenen Inselgruppe Sao Tomé und Principe. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts soll dort ein junger Arzt die Arbeitskraft der Sklaven aufrechterhalten und deren selbstzerstörerische Krankheit heilen, die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat. Ein aufmerksamer Fotograf hält die Grausamkeiten der Lebens- und Arbeitsbedingungen mit ausdrucksstarken Aufnahmen fest. Der von einem langsamen Rhythmus getragene Film zeigt eine nebelfeuchte Landschaft und eine erdrückende Atmosphäre, die keine Aussicht auf Veränderung verheißt.

Sehnsucht nach der verlorenen Heimat: "Banzo" (Uma Pedra no Sapato)
Sehnsucht nach der verlorenen Heimat: "Banzo" (© Uma Pedra no Sapato)

Vom schmerzhaften Selbstfindungsprozess einer indigenen Bevölkerungsgruppe, deren angestammte Siedlungsgebiete durch koloniale Strukturen und die Bolsonaro-Regierung bedroht sind, erzählt „A Flor do Buriti von João Salaviza und Renée Nader Messora. Die Erinnerung an ein 1940 von weißen Siedlern begangenes Massaker an einer kleinen Dorfgemeinschaft lebt als mündliche Stammesgeschichte bis heute fort. Im Zeichen von Frauenpower steht am Ende des Films eine hoffnungsvolle Demonstration in der Hauptstadt Brasilia. Authentische Aufnahmen verdeutlichen die Präsenz von Vergangenheit und Gegenwart und legitimieren die ethnografische Erzählperspektive.

Manga d’Terra von Basil da Cunha zeigt den beschwerlichen, aber ermutigenden Weg einer jungen Frau von den Kapverden, die sich in einem Lissabonner Elendsviertel durchschlagen muss, um für sich und ihre Kinder eine Zukunft zu finden. Dank ihrer musikalischen Fähigkeiten und einer solidarischen (Frauen-)Gemeinschaft keimt Hoffnung auf. Der unbedingte Überlebenswille inmitten eines von Gangstern, Razzien und Intoleranz beherrschten Milieus entfacht ein wahres Feuerwerk von ansteckender Spontaneität und erfrischender Emotionalität.


Die Suche nach dem kleinen Glück

Die brasilianisch-portugiesische Co-Produktion „Pedágio wurde beim Festival in Coimbra mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet. Regisseurin Carolina Markowicz porträtiert darin eine alleinerziehende Mutter, die als Kassiererin an einer Mautstelle außerhalb von São Paulo arbeitet und eine Bande mit Informationen für lukrative Überfälle versorgt; damit will sie die Konversionstherapie ihres homosexuellen Sohnes bezahlen. Allerdings gerät sie dabei in die Fänge eines dubiosen Priesters und verstrickt sich in eine ausweglose Situation. Der gut beobachtete Film setzt auf wohldosierte Unterhaltungs- und Spannungsmomente und trägt seine Entwicklungsgeschichte mit viel Verständnis und ohne missionarischen Eifer vor. Die beiden Hauptdarsteller verleihen dem Porträt der Kleinfamilie große Glaubwürdigkeit und Zuversicht.

Das Spielfilmdebüt „Estamos no ar von Diogo Costa Amarante erzählt von einer Frau in ihren Fünfzigern, die den Glauben an die große Liebe verloren hat, aber dennoch von ihrem neuen Nachbarn träumt, einem Polizisten. Dessen Uniform, die sie wäscht, benutzt ihr Sohn Vítor, um seine männliche Dating-Bekanntschaft zu beeindrucken. Die verständnisvolle Großmutter trauert um ihren verstorbenen Mann, ohne ein geeignetes Zuhause zu finden. Die Suche nach dem kleinen Glück scheint sich für alle Beteiligten dabei immer wieder in Luft aufzulösen. Das von Sabine Lancelin fotografierte Familiendrama gefällt durch sarkastischen Humor sowie eine gute Besetzung. Der Film gewann in Coimbra drei Hauptpreise. Er wurde als bester Spielfilm ausgezeichnet und Sandra Faleiro als beste Hauptdarstellerin und Valerie Bardell als beste Nebendarstellerin geehrt.

Arbeitsmigrantin in Schottland: "On Falling" von Laura Carreira (Sixteen Films)
Arbeitsmigrantin in Schottland: "On Falling" von Laura Carreira (© Sixteen Films)

Bezeichnenderweise ging ein flott inszenierter Film wie „O Melhor dos Mundos“ von Rita Nunes bei der Preisvergabe leer aus. Darin warnen Wissenschaftler im Jahr 2027 vor der Erdbebengefahr in Portugal, wobei es auch um Untersuchungen zum Klimawandel, um Fragen der Menschlichkeit und um private Beziehungen geht. Ebenso übersehen wurde das im Stil von Ken Loach gedrehte sozialkritische Drama „On Falling von Laura Carreira. Das bewegende Regiedebüt beobachtet in einem schottischen Logistikzentrum eine junge portugiesische Immigrantin, die aus Einsamkeit und in Folge von Geldmangel in eine ernsthafte Lebenskrise rutscht.


Was verloren zu gehen droht

Im Jahr 2012, das oft als das Jahr Null im portugiesischen Kino bezeichnet wird, waren viele Filmkünstler und Techniker ohne Arbeit. Was damals der Produzent Luís Urbano, der unter anderem die letzten Filme von Manoel de Oliveira und Miguel Gomes betreute, diagnostizierte, hat seine Gültigkeit bis heute nicht verloren: „In das portugiesische Kino investieren heißt in die Identität, in die Kultur, in das Gedächtnis eines Landes investieren. Das Kino ist die einzige Form, Bilder und Töne festzuhalten, für das, was das Gedächtnis in der Erinnerung eines Landes ist.“

Kommentar verfassen

Kommentieren