Die Online-Plattform Letterboxd, auf der Filme bewertet, kommentiert und in Listen verarbeitet werden, hat einen rasanten Aufstieg erfahren. Längst werden Letterboxd-Einträge für die Filmwerbung genutzt, Kritiker und Filmmagazine nutzen die Plattform und in den Nischen gedeiht der Austausch. Doch während sich die Website als Streiterin für die Filmkultur inszeniert, ist ihr Hang zu populären, emotionalen Meinungsäußerungen nicht weniger problematisch als bei anderen Online-Foren.
„Burn the list to free your ass“, schrieb die Filmwissenschaftlerin Elena Gorfinkel 2019 in einem um die Filmwelt gehenden Manifest, das sich dezidiert gegen die vor allem am Ende jedes Kinojahres auftauchenden Bestenlisten wandte. In ihrem Text stellt die Autorin klar, inwiefern Listen zu jenen Mechanismen beitragen, die das Kino längst in eine Fetischware transformiert haben. Futter für die Algorithmen, Metrik gegen die Ambiguität in der Erfahrung von Kunst. Egal ob in der Form von Bewertungen, Erinnerungsstützen oder Vergleichen, Listen würden die Kunst reduzieren, die Imagination abtöten. Dass die Praxis des Auflistens auch eine eigene Kultur- und dezidiert Kinogeschichte hat, stellt die Autorin dabei nicht zur Debatte. Es geht ihr um Listen im hypermedialen Zeitalter.
Vor fünf Jahren konnte Gorfinkel noch nicht absehen, wie schnell ihre Kritik verpuffen würde, schließlich beherrscht seit der Corona-Pandemie mit Letterboxd eine Website den filmkulturellen Diskurs, die sich vornehmlich durch Listen auszeichnet. Nutzer:innen verknüpfen ihr Profil mit Seiten der Filme, die sie gesehen haben (im Letterboxd-terminus: sie „loggen“ die Filme), können Tagebuch führen, eine Watchlist anlegen, Listen erstellen, Rezensionen schreiben, bewerten, sich gegenseitig folgen, Filme empfehlen und so weiter. Die sich selbst als eine Art „Goodreads“ für die Filmbranche bezeichnende, von Matthew Buchanan and Karl von Randow 2012 in Neuseeland gegründete Firma ist in der Pandemie regelrecht explodiert, ihr Wert wird inzwischen auf mehr als 50 Millionen Dollar geschätzt. Vergangenes Jahr übernahm die kanadische Holdinggesellschaft tiny 60 Prozent der Anteile, seither wächst die Präsenz des Mediums fühlbar mit eigenen Videoformaten, einem hauseigenen Journal, großen Marketingkampagnen und Präsenz auf Filmfestivals weltweit. Weitere Schritte sind in Entwicklung, so etwa ein Letterboxd für die Serienlandschaft. Ist diese Form der Filmkultur ein Segen oder ein Albtraum?
Selbstverständnis als Vermittler
2020 waren es noch knapp 2 Millionen User, heute sind es fast 14 Millionen, wobei das Gros im Alterssegment der 16- bis 24-Jährigen liegt. Man übertreibt also nur ein bisschen, wenn man in diesem Netzwerk nach der Zukunft des Kinos sucht. Tatsächlich verstehen sich die Betreiber selbst als Vermittler zwischen Filmbranche und Zuschauer:innen. Es ist eine virtuelle Welt für Filmfans, der Ton der Seite ist dezidiert dem Kino zugewandt, auch wenn Kritik eine Rolle spielen darf. Die Betreiber, die mehrheitlich selbst auf der Seite aktiv sind und sich als Fans bezeichnen, werden in Interviews nicht müde, von der so wichtigen Kinoerfahrung zu sprechen, kollaborieren aber gleichzeitig mit Netflix und Konsorten. Das ist nicht der einzige Widerspruch.
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Strenggenommen arbeitet Letterboxd wie ein riesiger Marketing-Leviathan für die Filmbranche. Die Seiten für den jeweiligen Film enthalten zugleich Informationen wie kritische Auseinandersetzungen, wirken aber auch wie ein eigener Flyer für den Film. Es gibt eine Ästhetik, die Kino schreit, ohne Kino zu sein. Das beginnt beim hauseigenen Branding mit den orange-grün-blauen Kreisen, einem sich durch die Seite ziehendem Look, großen Bildern, einer Schriftart, die Filmästhetik per se kodifizieren, als gebe es einen filmaffinen Stil, der sich auch in T-Shirts ausdrückt, die Nutzer:innen tatsächlich tragen. Schon lange arbeitet das Kino vom Marketing ausgehend an der eigenen Ästhetik (irgendwann haben Plakate oder Trailer sich in die globale Filmsprache eingeschrieben), bei Letterboxd wird das Ganze auf eine Form der eleganten Sauberkeit, gut gelaunten Euphorie und einen schlagfertigen Zynismus getrimmt. Alles sieht immer so aus, als wäre es die Werbung für die Sache. Und alles sieht ziemlich gleich aus. Auch der Streaming-Anbieter Mubi arbeitet mit dieser Form der Oberflächenästhetik, die das Kino im Internet als visuelle Erfahrung versteht und Inhalte eher als Beiwerk mitnimmt. Was diesen Dienstleistern gelingt: Sie befreien das Kino aus dem verstaubten Muff einer Kunst der Vergangenheit, holen es in die Gegenwart.
Geht man in einem bestimmten Alterssegment ins Kino, ist man heute auf Letterboxd. Man gehört dazu. Das Kino wird zu einer Gesellschaft der Eingeweihten. Die Frage aber, die bereits Gorfinkel in ihrem Artikel aufgeworfen hat, bleibt virulent: Inwiefern verändern solche Kulturpraktiken die Art und Weise, in der wir das Kino erleben? Und ist der von Letterboxd vorgeschlagene Modus einer, der diese Erfahrung bereichert oder verarmt?
Eine Goldgrube fürs Marketing
Bricht man es wenig wohlwollend herunter, ist Letterboxd eine riesige Maschine für Influencing, Networking und Beurteilungen. Längst haben große Firmen und Studios wie Sony Pictures oder Universal das immense Potenzial der Seite entdeckt. Sie nutzen es nicht nur für Werbung, sondern werten auch die Daten der Nutzer:innen aus, nichts Neues also, „soziale“ Medien eben. Algorithmen empfehlen Filme basierend auf den Filmen, die man gesehen hat. Eine Goldgrube für diejenigen, die mit Filmen Geld verdienen.
Der Erfolg der Seite hängt sicherlich mit dem Hunger nach filmkulturellem Austausch zusammen und stellt somit auch wichtige Fragen an die Filmkritik, Kinematheken und die Filmvermittlung. Denn während sich die großen Institutionen seit Jahren in einer Abwärtsspirale bewegen, was die Filmkunst betrifft, blüht der Diskurs bei Letterboxd auf. Dabei fällt auf, dass dieser Diskurs deutlich niederschwelliger geführt wird, eher an popkulturellen Themen als an Politik oder filmästhetischen Analysen interessiert ist. Niemand wird ausgeschlossen bei Letterboxd, wobei man schon festhalten muss, dass die englische Sprache auf einer solchen Seite ihre Hegemonie auf dem Filmmarkt noch einmal ausweitet. Was problematisch ist, weil Sprachen bestimmte Arten des Denkens und Sehens nahelegen.
Da auf der jeweiligen Filmseite zunächst die populärsten Reviews angezeigt werden, gibt es einen gewissen Überhang an mehr oder weniger humorvollen One-Linern, die komplexere Kritiken verdrängen. Die populärsten dieser „Takes“ werden regelmäßig in anderen sozialen Netzwerken geteilt, sie dienen als Marker der bereits erwähnten guten Laune, der Zeitgeistigkeit des sich bislang durch eine durchgreifende Moderation gegen den rechtspopulistischen Konterschlag, der viele andere soziale Medien im Griff hat, wehrenden Mediums. Das Kino ist vielleicht auch nicht wichtig genug, um in dieselben Fallen zu tappen wie Facebook oder X. Trotzdem dominieren auch hier Meinungen über Beschreibungen, Emotionalität über Sachverstand, Radikalität über Ausgewogenheit. Das betrifft nicht alle und alles auf Letterboxd, sondern beschreibt eine Tendenz in dem, was auf der Seite am besten ankommt.
Eine Chance für die Nischen der Filmkultur
Selbstredend kann man die Seite so nutzen, wie es einem selbst beliebt,
nicht alles daran ist zu verteufeln. Außer der Pro-Variante, in der man keine
Werbungen sieht und Filmseiten mitgestalten kann, ist der Service umsonst. Die
Seite eignet sich sehr dafür, seltene Filme zu entdecken, sogar die Lagerstätte
mancher Filmkopie herauszufinden und sich jenseits der wöchentlichen
Kinostarts, die das Feuilleton offline und online dominieren, über das Kino zu
informieren. Sie bieten auch Austauschmöglichkeiten für kleinere Nischen der
Filmkultur, die Seite passt sich sozusagen den eigenen Spleens an und hilft
letztlich dabei, dass Filme gesehen werden. Vor allem Nutzer:innen, die nicht
in großen Städten mit lebendiger Filmkultur leben, können so auch am Austausch
teilnehmen.
Filmkritik-Magazine wie die „Cahiers du Cinéma“, „Little White Lies“ oder „Kino-Zeit“ nutzen die Seite, um Artikel und Rezensionen zweitzuveröffentlichen beziehungsweise um auf ihre Seiten zu verlinken. Längst verwenden Verleiher und Kinos Zitate von Letterboxd, um Filme zu bewerten. Es ist scheinbar egal, ob diese Zitate von einem 18-Jährigen stammen, der sie bekifft um 3 Uhr nachts auf seinem Smartphone tippte, oder von professionellen Filmkritiker:innen. Die Abschaffung der Expertise erfährt hier einen weiteren Höhepunkt. Die Gleichschaltung von Marketing und Filmkritik auch. Als wäre ernsthafte Kritik kein Akt der Zuneigung, ein Problem, das leider weit über Letterboxd hinausgeht.
Wenn sich Filmkritik in diesem Feld behaupten will, täte sie gut daran, ihre höhere Komplexität zu verteidigen, statt sich in die Mechanismen der Seite einzugliedern. Auf Letterboxd findet eine kontinuierliche Verwechslung von Fans und Kritiker:innen statt, was unter anderem daran liegt, dass kein sachlich arbeitender und vertrauenswürdiger Mensch seine Identität in einem virtuellen oder realen Raum über die gesehenen Filme definieren würde. Eine uninformierte Meinung kann einflussreicher sein als ein durchdachtes Argument. Das logische Endstadium wäre das Abschaffen der eigenen Seiten und Publikationen, es ist nämlich möglich, seine Inhalte auf Letterboxd etwa über Patreon zu monetarisieren. Dort fänden sich ziemlich sicher mehr Leser:innen, wenn man es richtig aufzöge. Aber was für ein Schritt wäre das? Das Publizieren komplexer Inhalte auf der Seite lügt sich letztlich in die eigene Tasche, man macht sich zum Teil einer Kultur, die Vereinfachung belohnt, egal wie tiefsinnig man sich selbst wähnt.
Bis zum Zwang zum Sehen
Die eigentlichen Probleme der Letterboxd-Erfahrung sind aber nicht nur auf die bereits genannten, üblichen Themen kapitalistischer Interessen im sozialen Tarnanzug zu reduzieren. Sie hängen vielmehr an der Beziehung zwischen Film und Betrachter:in, jenen Aspekten also, die bereits Gorfinkel in ihrem Manifest ausmachte. Ein wenig, erzählen mir befreundete Nutzer:innen der Plattform, sei es wie mit den Schrittzählern auf den digitalen Uhren oder dem Hochladen der absolvierten Laufstrecke. Das Loggen von Filmen geschehe in einer Art Wettbewerb gegen sich selbst und die Community, die der Cinephilie ohnehin nie fremd war. Die Gefahr ist, dass man Filme sieht, damit man sie loggen kann. Der Prozess des Abhakens hat dann den der eigentlichen Erfahrung überholt. Man schaut nicht mehr, um etwas zu erleben, man schaut, um geschaut zu haben. Wer hat mehr Filme gesehen? Wer hat den neuesten Film bewertet? Wer hat den längsten … Film gesehen? Da das Ganze auch über generierte Follower funktioniert, entsteht in diesem eigentlich individuellen Raum ein gewisser Zwang. Das muss nicht so sein, wird aber von den Mechanismen der Seite nahegelegt. Dass man einen Film gesehen hat, ist dort wichtiger, als dass es ihn gibt. Die individuelle Existenz als Filmbetrachter:in steht im Fokus, nicht die Kunst selbst. Die Tatsache, dass man Lieblingsfilme hat (laut der jüngsten Videokampagne der Website sind das vier Stück), macht einen menschlich oder so ähnlich. Das alles wird selbstredend im Modus eines Spiels präsentiert, sodass niemand auf die Idee kommen könnte, es gehe im Kino wirklich um etwas.
Das sofortige Loggen oder Bewerten eines Films hat letztlich nichts mit der Erfahrung eines Films zu tun, es widerspricht der Fähigkeit von Filmen, sich nach dem Sehen in uns auszubreiten. Man heftet ab, was lebendig gehört. Empfehlungen, die auf algorithmischen Wegen zu uns kommen, ignorieren die individuelle Erfahrung mit Filmen, sie geben vor, dass Filmgeschmack mathematisch messbar ist, das Gegenteil also von dem, was Kunst leisten kann. Auch das so wichtige Vergessen von Filmen ist ausgeschlossen, wenn man digital abspeichert, was man gesehen hat. Das entwertet letztlich die Erinnerung. Was bleibt, löst sich von der Seherfahrung und wird einem luftleeren Informationssammelsurium überlassen, dessen einziger Zweck die Generierung einer riesigen Datenmenge ist, die sich in Kapital übertragen lässt. Es ist wohl zu spät, um die Listen zu verbrennen. Vielleicht wäre schon etwas gewonnen, wenn man sich von Zeit zu Zeit daran erinnern würde, dass kein Film auf eine Liste passt und die eigene Meinung nicht so wichtig ist, wie einen die Maschinen glauben lassen wollen.