© Venedig 2024 (Alessandro Nivola, Adrien Brody in "The Brutalist")

Venedig 2024 - Seelenlandschaft

Zur Halbzeit präsentiert sich der Wettbewerb der 81. „Mostra“ mit überzeugenden Beiträgen und bewegenden Filmen

Veröffentlicht am
12. September 2024
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Halbzeit am Lido. Bisher gelingt dem Wettbewerb der 81. „Mostra“ der Brückenschlag zwischen süffigem Starkino, ambitionierter Filmkunst und relevanten Themen. Mit Brady Corbets „The Brutalist“ feierte einer der aufregendsten Beiträge Premiere, während mit George Clooney und Brad Pitt auch für Glamour-Höhepunkte gesorgt war.


Festival-Sonntag am Lido. Vor dem Palazzo Grande ist es bei Temperaturen über 30 Grad und stechendem Sonnenschein nicht gerade angenehm. Trotzdem haben erste Unermüdliche schon morgens um 8.30 Uhr ihren Posten an der Absperrung zum roten Teppich bezogen, um später ganz vorne zu sein, wenn das Schaulaufen der Stars beginnt.


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Das hat an diesem ersten Septembertag Brad Pitt und George Clooney zu bieten. Die beiden ungekrönten Glamour-Könige der 81. „Mostra del Cinema“ präsentieren Jon Watts’ Buddy-Krimikomödie „Wolfs“. Ein Crowdpleaser, der das „Einsamer Wolf“-Männerbild des Profikiller-Genres durch den Kakao zieht und mit einer innigen Screwball-„Bromance“ konterkariert. Zwei professionelle „Cleaner“, die für ihre Kunden die Spuren krimineller Schlamassel vertuschen, kommen sich bei einem Auftrag in die Quere, sehen sich dann aber zur Zusammenarbeit gezwungen und wachsen im Lauf einer turbulenten, von ständigen Kabbeleien begleiteten Nacht zum Dreamteam zusammen. Eine schlichte Story, die Watts aber mit vielen schrägen Ideen und einem guten Gespür für die Chemie seiner beiden Stars umsetzt.

Die Chemie stimmt: Brad Pitt, George Clooney in "Wolfs" (Sony Pictures)
Die Chemie stimmt: Brad Pitt, George Clooney in "Wolfs" (© Sony Pictures)

„Löwen“-würdig: „The Brutalist“

Noch vor Clooney und Pitt schritt am Sonntag Adrien Brody anlässlich der Premiere von Brady Corbets „The Brutalist“ über den roten Teppich, der auf dem Weg zur Pressekonferenz einen kleinen Menschenauflauf verursachte. Man könnte Brody bei der Preisverleihung auf der Bühne der Sala Grande durchaus wiedersehen, denn „The Brutalist“ ist einer der herausragendsten Filme in einem ohnehin starken Wettbewerb und Brodys Part eine Tour de force, die sich auf Augenhöhe mit seiner Rolle in „Der Pianist“ bewegt.

Brody verkörpert László Toth, einen jüdischen Architekten und Holocaust-Überlebenden aus Ungarn, der einst am Dessauer Bauhaus lernte und sich nach dem Krieg nun einer Bauweise verschreibt, die man als Brutalismus bezeichnet. Der Film beginnt mitten in den Wirren der Nachkriegszeit. Toth und seine Frau Erzsébet (Felicity Jones) haben das KZ überlebt, was erst ganz am Ende des Films benannt wird, aber so deutlich die Physis und Psyche der Figuren prägt, dass man von Anfang an darum weiß. Beide irren voneinander getrennt als „Displaced Persons“ in einem desolaten Osteuropa umher. Mit Hilfe eines Freundes schafft es László in die USA, wohin ihm Erzsébet gemeinsam mit Lászlós Nichte erst einige Jahre später folgen kann.

Bis dahin hat es László nach harten Anfängen geschafft, einen reichen Gönner zu finden, der ein monumentales Bauwerk in Auftrag gibt. Für den Selfmade-Millionär Harrison Lee Van Buren (Guy Pearce) soll er in Erinnerung an dessen Mutter ein Kultur- und Gemeindezentrum auf einem Hügel in Pennsylvania errichten, einen gewaltigen Mehrzweckbau für Sport und Bildung, inklusive eines Kirchraums.

Guy Pearce, Adrien Brody, Isaach de Bankolé in "The Brutalist" (Focus Features)
Guy Pearce, Adrien Brody, Isaach de Bankolé in "The Brutalist" (© Focus Features)

Toth lässt sich mit viel Enthusiasmus auf den Auftrag ein, der die Realisierung seiner kreativen Visionen und zugleich seine persönliche „American Dream“-Aufsteigergeschichte zu sein scheint. Doch das (Abhängigkeits-)Verhältnis zu Van Buren, einem Herrenmenschen kapitalistischer Prägung, und der Kontakt zu seinen erwachsenen Kindern bleibt schwierig; das Gefühl, „displaced“ zu sein, lässt sich nicht abschütteln. Und selbst als er wieder mit seiner Frau vereint ist, heilen die Wunden der Vergangenheit nicht. Das Bauprojekt, das sich immer mehr in die Länge zieht, wandelt sich vom Zweckbau zur Symbolarchitektur für diese offene Wunde.

„The Brutalist“ ist ein schwergewichtiges Künstlerdrama um einen Mann, der zwar dem europäischen Faschismus entkommen ist, nun aber mit dem (US-)Kapitalismus konfrontiert ist, und das nicht nur im übertragenen Sinn. Der Film wurde analog im 70mm-Format gedreht. Die Bildtextur und eine besondere Farbstimmung verleihen „The Brutalist“ eine ganz besondere, ans Kino der 1950er-Jahre erinnernde Atmosphäre. Corbet hat sieben Jahren daran gearbeitet, um nach seinem fulminanten Erstlingsfilm „Childhood of a Leader“ und „Vox Lux“ sein Herzensprojekt zu vollenden. Die Akribie, die er und seine Drehbuch- und Lebenspartnerin Mona Fastvold dabei walten ließen, zeigt sich in packenden Figuren und suggestiven Raumfantasien, lauter Seelenlandschaften einer Moderne, die energisch der Zukunft entgegenstrebt, während sich das Vergangene gleichzeitig als hartnäckiger Subtext in sie einschreibt.


Faschistoide Ideologie & rechte Gewalt

Die Auseinandersetzung mit Faschismus, rechten Ideologien und der daraus entstehenden Gewalt ist eines der Themen, das sich wie ein roter Faden durch das Filmfestival zieht, oft festgemacht an historischen Stoffen, aber dennoch schmerzhaft aktuell, wie die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen belegen.

Neben Andres Veiels Auseinandersetzung mit Leni Riefenstahl greift auch der Film „The Order“ von Justin Kurzel dieses Thema auf. Hier geht es in Form eines bitter getönten, historisch grundierten Thrillers um eine terroristische White-Power-Gruppierung in den USA. „The Order“, wie sich die Terrorzelle nennt, beschafft sich in den 1980er-Jahren mit brutalen Überfällen die Mittel, um eine Armee für den geplanten Umsturz aufzurüsten. Zusammen mit politisch motivierten Morden erregt das jedoch die Aufmerksamkeit eines FBI-Mannes (Jude Law), der auf das organisierte Verbrechen spezialisiert ist.

Jude Law, Jurnee Smollett, Tye Sheridan in "The Order" (Michelle Faye)
Jude Law, Jurnee Smollett, Tye Sheridan in "The Order" (© Michelle Faye)

Walter Salles blickt in „I’m Still Here“ in Form eines hochemotionalen Familiendramas auf die brasilianische Militärdiktatur zurück und kreist um das Verschwinden des ehemaligen Kongressabgeordneten Rubens Paiva (1929-1971) sowie um das Trauma, das sein Verschwinden für seine Familie bedeutet. Im Zentrum stehen seine Frau Eunice Paiva („Löwen“-würdig: Fernanda Torres) und eine Perspektive, die dem Terror der Diktatur den hartnäckigen Willen zum Widerstand entgegensetzt. „I’m Still Here“ ist eine Warnung davor, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben, und gleichzeitig ein Film, der Mut macht, sich gegen die Zeitläufte zu wehren.

Gegen Ende der 81. „Mostra“ wird auch die faschistische Vergangenheit Italiens ins Zentrum rücken, in der Serie „M – Il figlio del seclo“, die vom Aufstieg Benito Mussolinis handelt.

Der Brückenschlag zwischen süffigem Starkino, umschwärmten Auftritten auf dem roten Teppich, ambitionierter Filmkunst und relevanten Themen ist dem Festival in Venedig bislang gut gelungen. Der Wettbewerb um die „Löwen“ bewegt sich auf einem guten Niveau, mit nur wenigen Ausreißern nach unten. Dazu zählen „Babygirl“ von Halina Reijn, ein Erotikdrama mit Nicole Kidman, das seltsam krampfhaft davor zurückscheut, die Obsessionen der Hauptfigur offenzulegen. Und „Leurs enfants après eux“ von Ludovic und Zoran Boukherma, ein in den 1990er-Jahren angesiedeltes Coming-of-Age-Drama, das sich zwischen Zeitbild, jugendlicher Romanze und Sozialdrama um gewaltsame Vater-Sohn-Verhältnisse verheddert.

Paul Kircher, Angelina Woreth in "Leurs entfants après eux" (Trésor Films)
Paul Kircher, Angelina Woreth in "Leurs enfants après eux" (© Trésor Films)

Angesichts von Filmen wie „The Brutalist“, „Maria“, „The Order“ oder dem bezaubernden tragikomischen Liebes- und Freundschaftsfilm „Trois amies“ von Emmanuel Mouret fällt das aber kaum ins Gewicht. Mouret tastet in „Trois amies“ formal unprätentiös, aber mit unglaublich fein austarierten Dialogen und einem furiosen Ensemble die Unsicherheiten und die Fragilität emotionaler Bindungen ab.

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