Halbzeit am Lido. Bisher gelingt dem Wettbewerb der 81. „Mostra“ der Brückenschlag zwischen süffigem Starkino, ambitionierter Filmkunst und relevanten Themen. Mit Brady Corbets „The Brutalist“ feierte einer der aufregendsten Beiträge Premiere, während mit George Clooney und Brad Pitt auch für Glamour-Höhepunkte gesorgt war.
Festival-Sonntag
am Lido. Vor dem Palazzo Grande ist es bei Temperaturen über 30 Grad und stechendem
Sonnenschein nicht gerade angenehm. Trotzdem haben erste Unermüdliche schon
morgens um 8.30 Uhr ihren Posten an der Absperrung zum roten Teppich bezogen,
um später ganz vorne zu sein, wenn das Schaulaufen der Stars beginnt.
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Das hat an diesem ersten Septembertag Brad Pitt und George Clooney zu bieten. Die beiden ungekrönten Glamour-Könige der 81. „Mostra del Cinema“ präsentieren Jon Watts’ Buddy-Krimikomödie „Wolfs“. Ein Crowdpleaser, der das „Einsamer Wolf“-Männerbild des Profikiller-Genres durch den Kakao zieht und mit einer innigen Screwball-„Bromance“ konterkariert. Zwei professionelle „Cleaner“, die für ihre Kunden die Spuren krimineller Schlamassel vertuschen, kommen sich bei einem Auftrag in die Quere, sehen sich dann aber zur Zusammenarbeit gezwungen und wachsen im Lauf einer turbulenten, von ständigen Kabbeleien begleiteten Nacht zum Dreamteam zusammen. Eine schlichte Story, die Watts aber mit vielen schrägen Ideen und einem guten Gespür für die Chemie seiner beiden Stars umsetzt.
„Löwen“-würdig: „The Brutalist“
Noch vor Clooney und Pitt schreitet am Festival-Sonntag außerdem anlässlich der Premiere von Brady Corbets „The Brutalist“ Adrien Brody über den roten Teppich, der schon vormittags auf dem Weg zur Pressekonferenz einen kleinen Menschenauflauf verursacht hat. Ihn könnte man bei der Verleihung der „Löwen“, der Festivalpreise, am kommenden Samstag als Preisträger auf der Bühne der Sala Grande wiedersehen, denn „The Brutalist“ ist bisher einer der stärksten Filme in einem ohnehin starken Wettbewerb und Brodys Schauspiel darin eine tour de force, die sich auf Augenhöhe mit seinem „Oscar“-gekrönten Auftritt in „Der Pianist“ bewegt.
Brody verkörpert in „The Brutalist“ László Toth, einen jüdischen Architekten und Holocaust-Überlebenden aus Ungarn, der einst am Dessauer Bauhaus lernte und sich nach dem Krieg nun einer Bauweise verschreibt, die später als Brutalismus bezeichnet werden wird. Der Film beginnt mitten in den Wirren der Nachkriegszeit. Toth und seine Frau Erzsébet (Felicity Jones) haben KZ-Internierungen (die erst ganz am Ende des Films klar benannt werden, aber so deutliche Physis und Psyche der Figuren prägen, dass man von Anfang an um sie weiß) überlebt. Sie sind aber voneinander getrennt worden und nun als „displaced persons“ in einem desolaten Osteuropa unterwegs. Mit Hilfe eines Freundes schafft es László in die USA, wohin ihm Erzsébet mit Lászlós Nichte erst einige Jahre später, ungefähr in der Mitte des gut dreieinhalb Stunden langen Epos, folgen kann.
Vom Faschismus zum Kapitalismus
Bis dahin wird es László nach harten Anfängen geschafft haben, einen reichen Gönner zu finden, der ein monumentales Bauwerk bei ihm in Auftrag gibt: Für den Selfmade-Millionär Harrison Lee Van Buren (Guy Pearce) soll er in Erinnerung an dessen Mutter ein Kultur- und Gemeindezentrum auf einem Hügel nahe seines Landsitzes in Pennsylvania errichten – einen gewaltigen Mehrzweck-Bau mit Raum für Sport und Bildung, inklusive eines Kirchenraums. Toth lässt sich mit Enthusiasmus auf den Auftrag ein, der die Realisierung seiner kreativen Visionen und zugleich seine persönliche „American Dream“-Aufsteigergeschichte zu sein scheint. Doch das (Abhängigkeits-)Verhältnis zu Van Buren, diesem Herrenmenschen kapitalistischer Prägung, und dessen erwachsenen Kindern bleibt immer schwierig, das Gefühl, „displaced“ zu sein, unabschüttelbar. Und selbst als Erzsébet wieder mit ihm vereint ist, bleiben die Wunden der Vergangenheit ungeheilt – und das Bauprojekt, das sich immer mehr in die Länge zieht, wird vom Zweckbau immer mehr zur Symbolarchitektur für diese offenen Wunden.
Ein schwergewichtiger Film ist dieses Künstlerdrama um einen Mann, der dem europäischen Faschismus entkommt, nur um sich mit dem (US-)Kapitalismus konfrontiert zu sehen (wie es Regisseur Brady Corbet selbst im Pressegespräch kompakt auf den Punkt bringt), nicht nur im übertragenen Sinn. Corbet und seine Crew reisten mit 26 Filmrollen im Gepäck am Lido an. Gedreht ist „The Brutalist“ nämlich analog. Die Bildtextur und eine besondere Farbstimmung geben dem Film eine ganz besondere, ans Kino der 1950er erinnernde Atmosphäre. Ganze sieben Jahre hat Corbet daran gearbeitet, nach seinem fulminanten Erstlingsfilm „Childhood of a Leader“ und dem ebenso starken „Vox Lux“ (beide feierten ebenfalls in Venedig Premiere) dieses Herzensprojekt auszuarbeiten. Die Akribie, die er, seine Drehbuch- und Lebenspartnerin Mona Fastvold und alle Beteiligten dabei walten ließen, zeigt sich in den packenden Figurenzeichnungen ebenso wie in den suggestiven Raumfantasien, die der Film eröffnet – Seelenlandschaften einer Midcentury-Moderne, die energisch der Zukunft zustrebt, in die sich das Vergangene aber hartnäckig als Subtext einschreibt.
Faschistoide Ideologie & rechte Gewalt
Die Auseinandersetzung mit Faschismus, rechten Ideologien und der daraus entstehenden Gewalt ist eines der Themen, das sich wie ein roter Faden durch das Filmfestival zieht, oft festgemacht an historischen Stoffen, aber dennoch schmerzhaft aktuell, wie die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen belegen.
Neben Andres Veiels Auseinandersetzung mit Leni Riefenstahl greift auch der Film „The Order“ von Justin Kurzel dieses Thema auf. Hier geht es in Form eines bitter getönten, historisch grundierten Thrillers um eine terroristische White-Power-Gruppierung in den USA. „The Order“, wie sich die Terrorzelle nennt, beschafft sich in den 1980er-Jahren mit brutalen Überfällen die Mittel, um eine Armee für den geplanten Umsturz aufzurüsten. Zusammen mit politisch motivierten Morden erregt das jedoch die Aufmerksamkeit eines FBI-Mannes (Jude Law), der auf das organisierte Verbrechen spezialisiert ist.
Walter Salles blickt in „I’m Still Here“ in Form eines hochemotionalen Familiendramas auf die brasilianische Militärdiktatur zurück und kreist um das Verschwinden des ehemaligen Kongressabgeordneten Rubens Paiva (1929-1971) sowie um das Trauma, das sein Verschwinden für seine Familie bedeutet. Im Zentrum stehen seine Frau Eunice Paiva („Löwen“-würdig: Fernanda Torres) und eine Perspektive, die dem Terror der Diktatur den hartnäckigen Willen zum Widerstand entgegensetzt. „I’m Still Here“ ist eine Warnung davor, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben, und gleichzeitig ein Film, der Mut macht, sich gegen die Zeitläufte zu wehren.
Gegen Ende der 81. „Mostra“ wird auch die faschistische Vergangenheit Italiens ins Zentrum rücken, in der Serie „M – Il figlio del seclo“, die vom Aufstieg Benito Mussolinis handelt.
Der Brückenschlag zwischen süffigem Starkino, umschwärmten Auftritten auf dem roten Teppich, ambitionierter Filmkunst und relevanten Themen ist dem Festival in Venedig bislang gut gelungen. Der Wettbewerb um die „Löwen“ bewegt sich auf einem guten Niveau, mit nur wenigen Ausreißern nach unten. Dazu zählen „Babygirl“ von Halina Reijn, ein Erotikdrama mit Nicole Kidman, das seltsam krampfhaft davor zurückscheut, die Obsessionen der Hauptfigur offenzulegen. Und „Leurs enfants après eux“ von Ludovic und Zoran Boukherma, ein in den 1990er-Jahren angesiedeltes Coming-of-Age-Drama, das sich zwischen Zeitbild, jugendlicher Romanze und Sozialdrama um gewaltsame Vater-Sohn-Verhältnisse verheddert.
Angesichts von Filmen wie „The Brutalist“, „Maria“, „The Order“ oder dem bezaubernden tragikomischen Liebes- und Freundschaftsfilm „Trois amies“ von Emmanuel Mouret fällt das aber kaum ins Gewicht. Mouret tastet in „Trois amies“ formal unprätentiös, aber mit unglaublich fein austarierten Dialogen und einem furiosen Ensemble die Unsicherheiten und die Fragilität emotionaler Bindungen ab.