Das Filmfestival München lieferte auch in der Interimsphase vor der Ernennung einer neuen Festivalleitung ein verlässlich hohes Niveau. Dabei überzeugten nicht nur die Auswahl an internationalen Werken, die zuvor in Cannes, Venedig, Sundance und Co. gelaufen waren, sondern nicht zuletzt auch Entdeckungen wie die Weltpremiere „Allen Sunshine“ oder starke Arbeiten des deutschsprachigen Filmnachwuchses.
Regisseur Joseph ist in aller Munde. Sein aktueller Film macht schon Schlagzeilen vor der Premiere, nachdem das Hauptdarstellerinnen-Duo in der Realität zum Paar geworden ist. Daher gibt es überall gespannte Erwartungen auf sein nächstes Projekt, und der Filmemacher steht in den Startlöchern. Allerdings ist er selbst noch unsicher, worum es überhaupt gehen soll. Eine Komödie soll es diesmal sein, ins Absurde gehen, vielleicht auch mit Slapstick … und der Protagonist könnte an Automatonophobie leiden, der Angst vor Statuen und anderen menschenähnlichen Figuren. Mit diesen skizzierten Ideen erntet Joseph zuerst Skepsis seines Produzenten, zeichnet aber schon einmal Menschen vor der Kamera beim Witzeerzählen auf, geht auf Statuen-Recherche und gewinnt eine Kunstlehrerin als Begleiterin und potenzielle Mitarbeiterin.
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Doch die skurrile Suche nach dem nächsten Film wird in Fabian Stumms dramatischer Komödie „Sad Jokes“ von Turbulenzen in Josephs Privatleben sabotiert: Der homosexuelle Regisseur trauert noch immer wegen der Trennung von seinem Partner drei Jahre zuvor, seine beste Freundin ist psychisch labil und muss in eine Klinik, der mit ihr gezeugte Sohn muss allein betreut werden, und obendrein bricht sich Joseph auf unwahrscheinliche Weise – Stichworte: Absurdität und Slapstick – einen Finger. Kein Wunder, dass es mit der Heiterkeit in seinem Projekt nicht recht klappen will.
Bewusst das Unabgeschlossene feiern
Mit seiner Filmfigur,
die er selbst spielt, teilt Fabian Stumm in seiner zweiten Regiearbeit
die Bereitschaft, weniger auf eine fest konturierte Handlung oder Thematik aus
zu sein als auf Sequenzen, die erzählerisch auch mal Seitenpfade einschlagen
und von leichter und komödiantischer in intensiv-dramatische Stimmung und
zurück kippen können. Die zufällige Wiederbegegnung mit dem früheren Partner
oder eine anrührende Erinnerung an die Geburt des Sohnes stehen neben einer
entgleisenden Premierenfeier oder einer am Grotesken kratzenden Krankenhaus-Erfahrung.
Mit dieser bewusst das Unabgeschlossene feiernden Erzählweise war „Sad Jokes“
im Programm des 41. Filmfests München (28.6.-7.7.2024) eine der auffallendsten
deutschen Weltpremieren.
Da nach dem Abgang der Filmfest-Chefin Diana Iljine im letzten Jahr nur ein kleiner Stabwechsel zum neuen Leitungsduo Christoph Gröner und Julia Weigl stattgefunden hatte, die beide bereits bisher die Programmgestaltung wesentlich verantworteten, war mit grundlegenden Umwälzungen bei dem Festival nicht zu rechnen gewesen; tatsächlich führte das Filmfest Tendenzen der letzten Jahre nahtlos fort. Das galt insbesondere in der Reihe „Neues deutsches Kino“, wo hybride Zugangsformen, polyglotte Umsetzung und ein Hang zur offenen, nicht stromlinienförmigen Inszenierung dominierten.
Tragik und Humor stehen produktiv nebeneinander
Gern auch mit integrierter Selbstreflexion über das Metier des Filmens, was neben „Sad Jokes“ weitere starke Beiträge der Reihe betraf. Der Rumäne Noaz Deshe bot mit „Xoftex“ eine ungewöhnliche Annäherung an den europäischen Umgang mit Flüchtlingen, die dem Trott in einem griechischen Lager mit selbst gedrehten Handyfilmen begegnen. Besonders ein junger Syrer tut sich mit originellen Ideen hervor, indem er einmal eine Kriegsreportage imitiert, wobei sich unter anderem ein Leidensgenosse als „fehlgeleitete Rakete“ verkleidet, ein anderes Mal einen Zombiefilm. Indem er allerdings auch Videos dreht, in denen er die Zustände im Camp satirisch aufgreift, bringt er die anderen Flüchtlinge gegen sich auf, sodass er sich ihrem Zorn entziehen muss. Deshe gelingt es dabei, den realistischen Rahmen von Schauplatz und Protagonisten zusehends mit verfremdenden und surrealen Sequenzen aufzubrechen, sodass sich das Lager als immer schwerer zu greifender Ort erweist; und auch hier stehen Tragik und ein Humor, der Bitterkeit ebenso umfasst wie alberne Momente, produktiv nebeneinander.
In einer vergleichbaren Balance ist auch „Another German Tank Story“ des Regie-Debütanten Jannis Alexander Kiefer gehalten. Kiefer setzt auf den Kontrast von Bewohnern eines ostdeutschen Kaffs mit Abkömmlingen der Hollywood-Studios, die in dem heruntergekommenen Ort Kulissen für eine Weltkriegsproduktion sehen. In dem Städtchen, dessen größte bisherige Stunde eine angebliche Heilung des Komponisten Telemann war, worauf jahrhundertelang nichts Spektakuläres mehr geschah, wittern einige Bewohner den Beginn einer neuen Zeit.
Darunter sind die emsige Bürgermeisterin und ein gescheiterter Journalist, der gerade erst in sein Heimatdorf zurückgekehrt ist und nun mit einer skandalträchtigen Reportage über die Filmleute endlich den Durchbruch schaffen will. Der Sohn der Bürgermeisterin verdankt dem Dreh seinen ersten Job, bricht aber als – mangels Führerschein – übervorsichtiger Chauffeur sämtliche Langsamkeitsrekorde, und seinem besten Freund steigt die kleine Rolle als Nazi derart in den Kopf, dass er die Uniform nicht mehr auszieht. Der größte Teil des Orts allerdings ist ungerührt bis genervt, nicht zuletzt, weil seit der Ankunft des Filmteams überall der Strom ausgefallen ist.
Kiefer entwickelt aus diesem Szenario eine einfallsreiche, mit viel Sympathie ausgebreitete Provinzkomödie, die mit ihrem optimistischen Pragmatismus auch als augenzwinkernder Kommentar zum deutsch-amerikanischen Filmproduktionsgefälle funktioniert.
Stark als Entdecker-Festival in Sachen deutsches Kino
Oder auch für das Filmfest München insgesamt, das 2024 mit betontem Optimismus der ewigen Frage begegnete, mit welchem Profil es zukünftig aus dem Schatten anderer Festivals heraustreten will. Dazu beschwor das neue Leitungsduo die Vorgaben von der „Plattform Nr. 1 für deutsches Filmschaffen“ und Münchens Stellung als „Entdeckerfestival“, was sich gerade bei den deutschen Premieren auch durchaus bewahrheitete. Mit einer hohen Zahl von Debüts und Zweitfilmen bot die Reihe „Neues deutsches Kino“ einige frische Zugänge, die alles in allem auch überzeugender gerieten als die Werke schon länger etablierter Filmemacher. Die Gesellschaftssatiren „Muxmäuschenstill˟“ von Jan Henrik Stahlberg und „Die geschützten Männer“ von Irene von Alberti sind im Detail zwar einfallsreich und treffsicher, schwächeln aber in ihren Gesamtentwürfen und bleiben trotz ihrer gelungenen Spitzen gegen Populismus und sexistische Denkmuster doch recht unverbindlich.
Runder war das aus unterschiedlichen Perspektiven aufgerollte Drama „Klandestin“ von Angelina Maccarone. Diese führt eine konservative deutsche Politikerin mit harter Haltung gegen Flüchtlinge, die übers Meer nach Europa gelangen wollen, mit ihrem Freund aus liberaleren Jugendtagen, ihrer neuen Assistentin mit marokkanischen Wurzeln und einem jungen, illegal nach Deutschland gelangten Marokkaner zusammen. In Folge eines Anschlags in Frankfurt geraten alle vier in brenzlige Situationen, was zwar im „Babel“-Stil mit einigen etwas bemühten Verknüpfungen vor sich geht, in der Kontrastierung der Blickwinkel aber nicht zuletzt durch die komplexen Figuren geglückt ist.
Sehenswerte Weltpremieren
Jenseits der 2024 nicht überragenden, aber solide besetzten deutschen Reihe setzte das Filmfest in seinem Programm auf eine weitere Ausweitung von Weltpremieren auch aus anderen Ländern. Durchaus mit fruchtbarem Resultat: So war es etwa möglich, neben soliden Werken wie Désirée Nosbuschs mit Trine Dyrholm und Tim Roth exquisit besetzter Theateradaption „Poison“ und Ulrike Koflers Problemfamilien-Drama „Gina“ auch eine meditative kleine Film-Kostbarkeit wie „Allen Sunshine“ zu entdecken und zu genießen. Die Handlung kreist um einen Musikproduzenten, der sich in die kanadische Wildnis zurückgezogen hat, sein Eremitendasein aber durch neue Begegnungen, vor allem mit zwei neugierigen Jungen aus der Gegend, nach und nach wieder aufbrechen sieht. Ob der Stand des Filmfests in der Branche ausreicht, diesem stillen, aber intensiven Film eine weitere internationale Karriere zu bescheren?
Als Beleg für die Stärken eines „Entdeckerfestivals“ fügte sich das Spielfilm-Debüt des Kanadiers Harley Chamandy jedenfalls gut in die bereits auf anderen Festivals gezeigten Filme ein. Auch war „Allen Sunshine“ stimmiger Teil der generell herausragenden Präsenz des kanadischen Kinos in diesem Münchner Jahrgang mit nicht weniger als zehn Werken aus dem nordamerikanischen Staat. Die Bandbreite reichte dabei von Debüts bis zum neuen Streich des Altmeisters Guy Maddin: der gemeinsam mit seinen häufigen Co-Regisseuren Evan und Galen Johnson zuvor in Cannes uraufgeführten Satire „Rumours“, in der die Staatsoberhäupter der wichtigsten Demokratien in ein aberwitziges Science-Fiction- und Horrorszenario geraten. „Rumours“ lief in der Sektion für internationale Koproduktionen, die nach 2019 zum zweiten Mal Teil des Filmfests war und für sich genommen durchaus herausragende Filme zeigte, aber erneut kein zwingendes künstlerisches Profil entwickelte. Erhöhte Aufmerksamkeit für die Vernetzungen deutscher Produktionsfirmen und die Möglichkeiten durch den mit 100.000 Euro hochdotierten „CineCoPro“-Award in allen Ehren, drängt sich die Reihe weiterhin nicht unbedingt als echte Bereicherung des Festivals auf.
Verlässlich hohes Niveau
Umso mehr fiel dies auf, weil die übrigen Sektionen auch 2024 ein hohes Niveau erreichten. Die Übernahmen vom Cannes-Festival umfasste zwar mit 14 Filmen eine vergleichsweise niedrige Zahl, doch steuerten sie die gewohnten Höhen zum Festival bei, sei es mit der verblüffend souveränen Studie einer jungen Influencerin in „Diamant brut“, dem virtuosen Triptychon „Kinds of Kindness“ von Yorgos Lanthimos oder dem bestechend subtilen indischen Frauen- und Gesellschaftsporträt „All We Imagine as Light“. Insbesondere im „CineMasters“-Wettbewerb stachen aber auch Entdeckungen von anderen Festivals heraus. „Sujo“, das feinfühlige Coming-of-Age-Porträt eines Jungen im Bannkreis der mexikanischen Drogenkartelle, empfahl sich nach dem Gewinn des „World Cinema“-Preises in Sundance auch in München für eine Auszeichnung, ebenso wie der in San Sebastián preisgekrönte galizische Historienfilm „O Corno“ oder das exzellent gespielte Liebesdrama „Memory“ aus dem Venedig-Wettbewerb 2023.
Am Ende ging der „CineMasters“-Preis etwas überraschend an den ebenfalls letztes Jahr in Venedig uraufgeführten ungarischen Film „Eine Erklärung für alles“ von Gábor Reisz, mit dem die Jury dezidiert vor allem dessen zeitgemäße Einlassung auf das Phänomen gespaltener Gesellschaften gewürdigt wissen wollte. Derartige Verweise auf die politische Relevanz seiner Auswahl dürften für die künftige Gestalt des Filmfests München letztlich aber weniger ausschlaggebend sein als ein selbstbewusster Gesamtauftritt. Vielleicht ja auch über die beiden festgelegten Übergangsjahre 2024 und 2025 hinaus mit dem neuen Leitungsduo. Dessen erster Jahrgang jedenfalls wird durch sorgfältige Kuration, dezente Neuerungen und nicht zuletzt auch mit der Steigerung der 58.000 Zuschauer aus dem Vorjahr auf 71.000 in guter Erinnerung bleiben.