Der Gangsterfilm „Revolte in der Unterwelt“ (1973) ist eine von vielen Verfilmungen des Kriminalautors Donald E. Westlake um die Figur des Berufsverbrechers Parker. Zielstrebig verfolgt dieser mit äußerster Rücksichtslosigkeit seinen Weg und bildet damit eine negative Spiegelung zum ikonischen Privatdetektiv Philip Marlowe. Der fünfte Beitrag zum Blog „Disziplin & Kontrolle“ folgt den Spuren von Parkers gewaltsamem Verständnis von Freiheit, in dem er sich selbst mehr und mehr auflöst.
„Eine Maschine behandelt Dich wie eine Maschine, und wesentlich ist nicht das, was sie Dir sagt, sondern jene Art von Auflösungstaumel, den Dir die Tatsache verschafft, derart maschinisiert zu werden“, schreibt der Psychoanalytiker Félix Guattari. Im Kino löst sich das Ich auf. Das filmische Zeichensystem kolonisiert gewissermaßen das, was an seine Leerstelle tritt: „Das Unbewusste findet sich wieder, bevölkert mit Indianern, Cowboys, Bullen, Gangstern, Belmondos, Marilyn Monroes…“
Guattaris Liste der filmischen Archetypen, die die Maschine Kino dem in der Dunkelheit des Saals zur Maschine-Gemachten ins Hirn pflanzt, kann um zwei weitere Figuren ergänzt werden. Beide erschienen im Jahr 1973 ein weiteres Mal auf den Leinwänden der Welt: einerseits der Privatdetektiv Philip Marlowe aus den Hardboiled-Romanen Raymond Chandlers, gespielt von Elliott Gould in Robert Altmans „Der Tod kennt keine Wiederkehr“; andererseits der Bankräuber Parker aus den Kriminalromanen von Donald E. Westlake, gespielt von Robert Duvall in John Flynns „Revolte in der Unterwelt“, dessen Figur hier allerdings – wie zur Tarnung – den Namen Earl Macklin trägt.
Während die berühmteste Inkarnation Philip Marlowes wohl Humphrey Bogart in „Tote schlafenfest“ (1946) darstellt, wurde der Berufskriminelle Parker zuvor prominent in „Point Blank – Keiner darf überleben“ (1967) von Lee Marvin gespielt (mit dem Rollennamen Walker). Wie Quentin Tarantino in seinem Buch über das „New Hollywood“-Kino jedoch treffend herausstellt, gab es wohl schon so viele Parkers, wie es Philip Marlowes gegeben hat. Tatsächlich ließe sich behaupten, dass es sich bei Parker und Marlowe um etwas wie zwei Seiten derselben Münze handelt, eine Art Quintessenz des amerikanischen Mythos: die Figur des desillusionierten Nonkonformisten im entschiedenen Widerspruch zu den herrschenden Mächten, ein Anzugträger mit individuellem Ehrenkodex, jemand, dem Freundschaft ebenso wichtig ist wie Schnaps. Vielleicht wurde seine Krawatte zu dem, was einst der Cowboy-Hut gewesen ist. Und vielleicht ist es eben die Eigenart des Mythos, dass er überliefert, soll heißen, wieder und wieder erzählt wird.
Im Herbst 1978 reflektiert Jean-Luc Godard an der Universität Montreal, weshalb er und die anderen Protagonisten der Nouvelle Vague die Kriminalfilme damals so mochten, obwohl wir, damals wie heute, in Polizeisystemen leben, die Institution der Polizei in uns also doch ein gewisses Unbehagen auslösen müsste. Godards Antwort ist simpel: „Der Polizist, der Detektiv stellt für die Männer – für die Frauen weiß ich’s nicht –, stellt für den westlichen Mann das Maximum an Freiheit dar. Das ist einer, den eigentlich nichts was angeht, der einfach mal so in eine Bar geht, Auto fährt, sich eine Zigarette ansteckt, Leute anquatscht und ihnen Fragen stellt oder sie einfach stehenlässt, wenn sie ihn langweilen. Das heißt, er repräsentiert Freiheit in einem stupiden Sinn: machen, was man will.“
Chandlers Marlowe verkörpert ein ebensolches Maximum der Freiheit. Und es ist kein Zufall, dass der kettenrauchende Marlowe bei Altman von den anderen Figuren „Marlboro“ gerufen, mit eben dem Reklame-Cowboy in Verbindung gebracht wird, der in seinem Pferdesattel seit jeher den Aufbruch ins Offene verspricht. Ebenfalls kein Zufall, dass Altmans Marlowe mit einer Katze lebt (und nicht etwa einem Hund oder gar einer Familie). Es ist diese Katze, die das Sinnbild für Marlowe stellt: machen, was man will.
Professionell und rücksichtslos
Westlakes Parker, der Anti-Marlowe, lebt gegenüber diesem mit einem erheblichen Nachteil. So ist Marlowe in den Worten Godards „der Rücksichtslose, aber auf der richtigen Seite des Gesetzes, er hat also alle Vorteile für sich“. Der Bankräuber Parker hingegen wird zu Beginn von Flynns Film aus dem Gefängnis entlassen. Er musste rein, weil er in einer willkürlichen Bar-Razzia mit einer scharfen Pistole erwischt wurde. Was ihr an juristischen Privilegien abgeht, weiß die Figur Parker jedoch durch eine entfesselte Rücksichtslosigkeit wettzumachen, deren Grenzen lediglich von Parkers wesenhafter Professionalität diktiert werden. Für Parker ist Gewalt immer ein Mittel zum Zweck und nie eine Tugend an sich. Er ist schließlich Berufskrimineller und kein alttestamentarischer Gott.
Als Reparation für die
Hinrichtung seines Bruders, mit welcher „Revolte in der Unterwelt“ beginnt,
verlangt Parker von Mailer (Robert Ryan), dem Kopf des Syndikats, 250.000 Dollar. Würde Mailer das Geld zahlen,
würde er in Ruhe gelassen werden, denn Parker interessiert sich, im Gegensatz
zum Syndikat, nicht für Blutrache. So musste Parkers Bruder mit dem Leben
zahlen für einen Bankraub, den sie zusammen begingen, denn bei der Bank handelte
es sich lediglich um eine Fassade für Mailers organisierte Kriminalität.
Als handelte es sich bei diesem, der filmischen Erzählung vorgängigen Bankraub um ein ursprüngliches Trauma, ist Parker gezwungen, dieses Ereignis – nun mit seinem Komplizen Cody (Joe Don Baker) anstelle seines Bruders – zu wiederholen. Die sich entfaltende Wiederholung ist jedoch verschoben. Ausgeraubt wird eine Pokerrunde, ein Restaurant, ein Unternehmen, nicht aber eine weitere Bank.
Maximum einer traurigen Freiheit
Die Kritik an dieser
Vorstellung von Freiheit, die bereits in Godards Zitat anklingt, möchte ich an einer Szene zwischen Parker und seiner Geliebten Bett (Karen Black)
konkretisieren. Parker sitzt im Motel-Zimmer und säubert seine Handfeuerwaffen,
als Bett das Zimmer betritt. Sie ist hinausgegangen, um Zigaretten zu kaufen.
Parker macht ihr dies zum Vorwurf. Als Bett im folgenden Streit ihre Sorge um sein
Leben kundtut, dreht er sich nicht zu ihr um, poliert bloß weiter den Revolver
in seiner Hand. Bett reißt ihm die Pistole aus der Hand, schleudert sie an die
Wand. Putz bröckelt herunter. Parkers Rücksichtslosigkeit, das Maximum einer
traurigen Freiheit, die Freiheit der Unabhängigkeit nämlich, hat ihn selbst zu
einem Stück Mauer werden lassen.
Foucault schreibt: „Unter den Fingern des Anderen, die über den Körper gleiten, beginnen alle unsichtbaren Teile des Körpers zu existieren. An den Lippen des Anderen werden die eigenen Lippen spürbar.“ Parkers Körper hingegen löst sich in nichts auf, ist durchsetzt von den Lücken des Unberührten, hat sich verhärtet zu einem Stück Technik. Seine Lippen sind ihm abhandengekommen.
Literaturhinweis
Die Couch des Armen. Die Kinotexte in der Diskussion. Von Félix Guattari. b_books, Berlin 2011
Cinema Speculation. Von Quentin Tarantino. HarperCollins, New York 2022
Einführung in eine wahre Geschichte desKinos. Von Jean-Luc Godard. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1984
Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Von Michel Foucault. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 2013
Zum Siegfried-Kracauer-Stipendium
Das Blog „Disziplin & Kontrolle“ von Leo Geisler über die Wandlungen im Heist-Genre entsteht im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums, das der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit MFG Filmförderung Baden-Württemberg, der Film- und Medienstiftung NRW und der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) jährlich vergibt.
Die einzelnen Beiträge des aktuellen Stipendiums, aber auch viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.