Radikale Ambivalenz

Annäherungen an den Filmemacher Thomas Heise

Veröffentlicht am
14. Juni 2024
Diskussion

Sich mit dem filmischen Werk Thomas Heises auseinander zu setzen, heißt, lineare Methoden der Rezeption auf den Prüfstand zu stellen. Man kommt seiner Komplexität nicht bei, wenn man einzelne Filme ins Zentrum der Analyse rückt und die übrigen Aspekte außer Acht lässt; denn die Filmografie des 1955 in Ost-Berlin geborenen Heise lässt sich von seinen Aktivitäten für Theater und Hörfunk sowie von autobiografischen Wechselfällen nicht trennen. 

Auch läuft der Versuch, Heises Movens fürs Filmemachen auf die Herstellung spektakulärer Porträts von Außenseitern zurückzustutzen, ins Leere. Sein Ansatz wurzelt in gegenteiliger Position. Zielsicher steuert er soziale wie geografische Peripherien an und findet hier signifikante Symptome, die präzises Zeugnis über den Zustand der Gesellschaft sowie des Einzelnen ablegen. Selbstverständlich gehört Heises Sympathie den Verlierern des sich unablässig drehenden Gesellschaftskarussells – Fehlinterpretationen scheinen dabei vorprogrammiert. Im Herbst 1992 kam Thomas Heises Dokumentarfilm „Stau – Jetzt geht’s los“ in die Kinos. Parallel dazu geriet eine ganze Reihe von Filmen in den Fokus des Misstrauens: Christoph Schlingensiefs „Terror 2000“ und Philip Grönings „Terroristen“ gehörten ebenso zu den inkriminierten Werken wie „Beruf: Neonazi“ von Winfried Bonengel. Der Vorwurf war immer der gleiche: einseitige Darstellung der Täterwarte, Ignoranz der Opfer, damit Legitimierung von Gewalt und Ermunterung zu weiteren Straftaten. Angedrohte Konsequenzen: Torpedierung von Vorführungen durch gezielte Störaktionen, Attentate mit Buttersäure, Diebstahl von Filmmaterial und Zerstörung von Vorführtechnik. Wie immer in solchen Fällen von doktrinärer Ereiferung trat das eigentliche Objekt in den Hintergrund; und wie immer hielten es die leidenschaftlichsten Anfeinder nicht für nötig, den an den Pranger gestellten Film vor ihrer Verurteilung überhaupt zu sehen. Als „Stau – Jetzt geht’s los“ nach einigem Gerangel doch noch zur Premiere kam, waren die Reaktionen der Eiferer eher verhalten, ja zeugten fast von Enttäuschung; die Bilder eines Kuchen backenden Rädelsführers oder von den dem Verfall anheim gegebenen Quartieren in Mitteldeutschland passten so gar nicht zu den erwarteten Hasstiraden. Dass „Stau“ weniger ein Dokumentarfilm über das Phänomen rechtsradikaler Positionen als Vivisektion zwischenmenschlicher Beziehungen beziehungsweise deren Erosion ist, ging im allgemeinen Getöse unter.


Subversives Selbstverständnis

Wie jede andere Werkbiografie unterliegt auch die von Thomas Heise einem komplexen Geflecht von begünstigenden und behindernden Faktoren. Sein Werk zeigt sich von zwei wesentlichen Faktoren geprägt: zum einen der frühzeitigen personellen, musischen und politischen Formatierung durch das Elternhaus, zum anderen dem synästhetischen Ansatz seines gesamten künstlerischen Schaffens. Der Vater des vielgestaltigen Künstlers ist der Philosoph und Literaturwissenschaftler Wolfgang Heise (1925-87), bis 1985 eine Art Leuchtturm für ganze Generationen von nach intellektueller Integrität suchenden DDR-Studenten; seine namhaftesten Schüler heißen Volker Braun, Wolf Biermann und Heiner Müller. Vor allem Müller sollte auf Sohn Thomas einen entscheidenden Einfluss ausüben.

Thomas Heise kommen als Sohn eines prominenten DDR-Intellektuellen gewisse Privilegien zu. Aber anders als die meisten seiner im DEFA-Filmschaffen beschäftigten Kollegen oder Kommilitonen wurde Heise nie zum Mitglied der SED; nicht einmal der FDJ gehörte er an – alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Nie dienen ihm die vom Elternhaus bzw. dessen Freundeskreis gegebenen Referenzen als Anlass für eine Etablierung im offiziellen Kunstbetrieb der DDR, in dem es sich bei einem Mindestmaß an Gehorsam komfortabel einrichten und leben ließ. Sein Misstrauen gegenüber der vorgefundenen Situation und vor allem das Misstrauen sich selbst gegenüber führten stets zu einer Unterwanderung der ihm gewährten Privilegien. Diesem subversiven Selbstverständnis ist Heise stets treu geblieben; aus ihm zehrt sich sein aktueller Status als unbequemer, damit auch unberechenbarer Filme- und Theatermacher.

Bereits als 20-Jähriger kann Heise im DEFA-Studio für Spielfilme erste praktische Erfahrungen sammeln. Von 1975 bis 1978 ist er als Regieassistent für Spielfilme tätig, parallel zum an der Volkshochschule abgelegten Abitur. Heiner Carow beschäftigt Heise als Rechercheur für sein Ehedrama „Bis dass der Tod euch scheidet“. Im Herbst 1978 kam Heise dann in die Babelsberger Filmhochschule als Regiestudent. Vier Jahre später verlässt er sie wieder, ohne Diplom, aber um einige Desillusionierungen reicher. Binnen dieser Jahre vollzieht sich in künstlerisch-politischer Hinsicht ein erstes Durchmessen der Spielräume zwischen Utopie und Scheitern. Nach drei kleineren Übungsfilmen findet Heise mit „Wozu denn über diese Leute einen Film?“ zu einer eigenen Handschrift. In kühnem Cinéma-Vérité-Stil entworfen, fokussiert die Dokumentation ein sonst ausgeblendetes Segment aus dem kleinkriminellen „Milljöh“ Ostberlins. Die Konfrontation mit der Hochschulleitung ist vorprogrammiert: mit 30 Minuten viel zu lang für die verlangte Beobachtungsstudie, zitiert der Filmtitel den Ausspruch eines Dozenten, dem das Sujet vorgestellt worden war. Dies wird als Provokation verstanden, als die sie auch gemeint ist. Als Heise realisiert, wie weit der offizielle Konsens von seiner Blickweise entfernt ist, bricht er das Studium an der begehrten Kaderschmiede vorzeitig ab.


Erstaunliche Kontinuität

Zwischen 1980 und 1989 führt Heises Werkverzeichnis drei Drehbücher, vier Filme und drei Originaltonhörspiele an – sämtliche dieser Arbeiten werden erst nach dem Zusammenbruch der DDR der Öffentlichkeit zugänglich. Daneben entstehen in dieser Zeit diverse Entwürfe, Fragmente und Videoprotokolle. Heise praktiziert als Künstler während der letzten Dekade der DDR faktisch außerhalb der allgemeinen Wahrnehmung. Abgesehen von seiner Mitarbeit an den Theaterprojekten von Fritz Marquardt und Heiner Müller ist er rezeptiv gar nicht vorhanden.

Sieht man sich die Schaffensphase zwischen 1982 und 1987 genauer an, ergibt sich jedoch eine erstaunliche Kontinuität, erscheinen die Arbeiten als folgerichtige Bausteine einer geradlinigen künstlerischen Genealogie. Das O-Ton-Hörspiel „Vorname Jonas“ zum Beispiel, 1983 für den Rundfunk der DDR in Angriff genommen, nimmt vom Gestus her unmittelbaren Bezug auf die empirischen Studien, die Heise als Regieassistent für „Bis dass der Tod euch scheidet“ von Heiner Carow unternommen hatte sowie auf die inkriminierte HFF-Dokumentation „Wozu denn über diese Leute einen Film?“. In „Vorname Jonas“ wird ein straffällig gewordener Jugendlicher nach seiner Haftentlassung bei seinen Resozialisierungsversuchen begleitet: Bewährungshelfer, Wohnungsamt, Krankenversicherung und so weiter. Diese Methode greift Heise auch bei zwei für die „Staatliche Filmdokumentation der DDR“ entstandenen Filmen auf: In „Das Haus“ begibt er sich 1984 mit Peter Badel ins „Berolinahaus“ auf dem Alexanderplatz, dem damaligen Sitz der Stadtbezirksverwaltung Berlin-Mitte, beobachtet Vorgänge in Amtszimmern und darin bittstellende Staatsbürger. In „Volkspolizei 1985“ treiben Heise und Badel diese Innensicht noch weiter. Sie filmen in einem Revier der ostdeutschen Volkspolizei, auf der Invalidenstraße, unmittelbar an der Mauer. Es gibt nur wenige Dokumente, die den Mief und die dicht daneben lagernde Aggression der DDR-Wirklichkeit in solchem Maße nacherlebbar machen. „Das Haus“ und „Volkspolizei 1985“ werden bis 1990 nicht gezeigt – das Hörspiel „Jonas“ bleibt ungesendet. Dasselbe Schicksal widerfährt 1987 „Widerstand und Anpassung – Überlebensstrategie“, ein auf biografischen Gesprächen mit Erwin Geschonneck basierendes OTon- Projekt.

Im Herbst 1989 geht für Heise eine lange Phase des Interims zu Ende. Die letzten vier Jahre im Schutzraum der Akademie der Künste als Meisterschüler überwinternd, scheinen sich nun bislang verschlossene Wege und Bühnen künstlerischer Aktivität aufzutun. Zunächst widmet er sich der nachträglichen Veröffentlichung seiner bislang weggeschlossenen Arbeiten, knüpft teilweise an sie an. Ein Zeitvertrag bindet ihn sieben Jahre lang ans Berliner Ensemble; seine Inszenierungen umkreisen die Fixsterne Müller und Brecht, zwei Aufträge führen ihn mit dem westdeutschen Autor Michael Wildenhain zusammen. Grob lassen sich Heises Dokumentarfilme in zwei Blöcke einteilen. Zum einen die multipersonellen Beobachtungen, bei denen jeweils ein relevanter Ort als sozialer Umschlagplatz für ein Spektrum individueller Höhen und Tiefen fungiert. Dazu gehören: „Das Haus“ (1984), „Volkspolizei 1985“ (1985), „Imbiß spezial“ (1990) und „Meine Kneipe“ (2000). Zum anderen die Gruppenporträts aus der gesellschaftlichen Peripherie, bei denen die insistierende Perspektive mehrere Einzelpersonen aus ihrem Umfeld herausschält: „Wozu denn über diese Leute einen Film?“ (1980), „Eisenzeit“ (1991), „Stau – jetzt geht’s los“ (1992) und „Neustadt. Stau – Stand der Dinge“ (2000). „Barluschke“ (1997) kommt ein Sonderstatus zu: Die Figur des schwulen Doppelagenten Berthold Barluschke wartet mit einer derart bizarren Biografie auf, dass Heises Konzeptdenken dabei bisweilen ins Hintertreffen gerät. Auch die Eingliederung filmischen Fremdmaterials arbeitet der sonst sehr homogenen Stilistik entgegen. Die Filme des ersten Blocks stehen noch am ehesten in einer von Jürgen Böttcher begründeten DEFA-Tradition des genauen filmischen Beobachtens. Bei den Filmen der zweiten Werkgruppe geht Heise viel weiter und begibt sich nach einer auch im fertigen Film nachvollziehbaren Annäherungsphase mitten hinein in die geschlossenen Zirkel sozialer Randbereiche. Seine Methode, die eher misstrauischen Exponenten dieser Bezirke „zu knacken“, ist denkbar einfach: Heise nimmt sich Zeit für sie. Im Fall von „Stau“ setzt er sich in eine einschlägig bekannte Kneipe, trinkt Bier, wartet, bis er angesprochen wird, und bringt erst nach mehreren Wochen des gegenseitigen Umkreisens Aufzeichnungsgeräte mit.


Am Ende der Zeit

Ähnlich wie „Eisenzeit“ oder „Stau. Neustadt – Stand der Dinge“ greift „Vaterland“ (Kritik in dieser Ausgabe) auf Vorarbeiten zurück. Der Unterschied zu allem, was bisher an Filmen, Hörspielen und Theaterinszenierungen entstanden ist, besteht in der starken autobiografischen Gewichtung des Stoffs. Heise artikuliert diesen Ansatz im Titel, verweigert aber jeglichen weiterführenden Erklärungsapparat. Nur drei von ihm selbst aus dem Off verlesene Texte verweisen auf diese Zusammenhänge. Eine zunächst sehr privat anmutende Archäologie, die durch ihre radikale Ambivalenz weit über den familiären Rahmen hinaus weist. Nahezu jeder andere Filmemacher hätte sich vor Ort an eine klassische Spurensuche gemacht und versucht, Zeitzeugen dingfest zu machen, hätte sie mit historischen Fakten konfrontiert und auf Positionierungen bestanden. Nicht so Thomas Heise. Ihm geht es nicht um die Herstellung moralisch auswertbarer Konstellationen. Nicht der politisch korrekte und ethische Nutzwert einer filmischen Situation interessiert ihn, sondern die eigene Erfahrung bei der Begegnung mit dem im unscheinbaren Straguth waltenden „genus locci“. Er lässt die Landschaft und die darin eingegrabenen zivilisatorischen Spuren auf sich einwirken und damit auf die Zuschauer. Ein „Unort“ am Ende der Zeit, vergessen von der Gegenwart. Nicht einmal die Sprache der Dorfbewohner ist richtig zu verstehen. In der wohnküchenartigen Kneipe von „Onkel Natho“ laufen rudimentäre Kommunikationsstränge zusammen. Hier ist stets vom Krieg die Rede, so, als hätte dieser nie aufgehört.

Heises Filme sind zuallererst Selbstversuche. Zerreißproben, deren freigesetztes energetisches Potenzial filmisch akkumuliert wird. Genau aus diesem Umstand resultieren Unberechenbarkeit und Innovation. Man muss nur genau hinsehen und die Schwingungen aufnehmen.


Thomas Heise – Filmografie

Imbiss (DDR 1978 – 5’ – kein Verleih)
Maria und Joseph (DDR 1979 – 8’ – kein Verleih)
Wozu denn über diese Leute einen Film? (DDR 1980 – 30’ – kein Verleih)
Erfinder ‘82 (DDR 1982 – 15’ – kein Verleih)
Das Haus (DDR 1984 – 60’ – Verleih: Progress)
Volkspolizei 1985 (DDR 1985 – 60’ – Verleih: Progress)
Arila Siegert – Bachpréludium (DDR 1986 – kein Verleih)
Elli Müller – Erinnerungen (DDR 1987 – kein Verleih)
Heiner Müller 1 (DDR 1987 – 55’ – kein Verleih)
4. November 1989 (DDR 1989 – 240’ – kein Verleih)
Imbiss Spezial (DDR 1990 – 27’ – Verleih: Progress)
Zuchthaus Brandenburg, Dezember 1989 (DDR 1990 – 120’ – kein Verleih)
Eisenzeit (Deutschland 1991 – 87’ – kein Verleih)
STAU – Jetzt geht’s los (Deutschland 1992 – 83’ – Verleih: Ö-Film)
Barluschke (Deutschland 1997 – 90’ – Verleih: Basis)
Neustadt, Stau – Der Stand der Dinge (Deutschland 2000 – 87’ – Verleih: Ö-Film)
Meine Kneipe (Deutschland 2000 – 60’ – kein Verleih)
Vaterland (Deutschland 2002 – 98’ – Verleih: Salzgeber)

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