Wie die großen US-amerikanischen Slapstick-Akrobaten ist auch Jacques Tati ein Meister der Körpersprache. Mit akribischer Genauigkeit karikiert er in seinen Filmen die Alltagsroutinen der Menschen, insbesondere beim Versuch, sich den modernen Zeiten anzupassen. Eine voluminöse Biografie zeichnet sein Leben und die komplizierte Entstehungsgeschichte seiner Werke nach.
25 Jahre nach der englischen Erstausgabe erscheint nun im Mitteldeutschen Verlag die deutsche Übersetzung der Biografie „Jacques Tati. Sein Leben und seine Kunst“ von David Bellos. Der Verfasser ist englischer Literaturwissenschaftler, der sich mit seiner umfassenden Studie zum französischen Avantgardeschriftsteller und Filmemacher George Perec einen Namen machte; sie wurde 2023 unter dem Titel „Georges Perec – Ein Leben in Wörtern“ vom Diaphanes-Verlag in einer deutschen Übersetzung publiziert.
Einen aktuellen Anlass, die Tati-Biografie von Angelika Arend ins Deutsche übertragen zu lassen, scheint es nicht zu geben. Der 1907 als Jacques Tatischeff geborene Schauspieler und Regisseur, der seinen Namen zu Beginn seiner Bühnenkarriere als Komiker zu Tati abkürzte, starb 1982. Sein letzter Kinofilm „Trafic“ kam 1971 ins Kino; sein erster und letzter Fernsehfilm „Parade“, zu dem er einige Sketche und Pantomimen beisteuerte, wurde 1974 ausgestrahlt. Doch auch ohne aktuellen Anlass ist die Herausgabe der Biografie ein wichtiges Ereignis, das die Materiallage zu Tati in Deutschland eher dünn aussieht.
„Rapidité, Rapidité“
Das voluminöse Buch bietet auf 544 Seiten die Chance, sich an die spezifischen Leistungen von Tati für den französischen Film und für die filmische Komik zu erinnern. Er startete nach Rollen in einigen Kurzfilmen seine Kinokarriere 1947 mit dem abendfüllenden Spielfilm „Jour de Fête“, der in Deutschland zu „Tatis Schützenfest“ umbenannt wurde. Darin geht es um die Abenteuer eines Briefträgers in der französischen Provinz vor und während des alljährlichen Volksfestes, das im Unterschied zu deutschen Schützenfesten aber nicht in einem Schießwettbewerb gipfelt, sondern eher einer Kirmes gleicht.
Der von Tati gespielte Briefträger ist ein Meister des Ungeschicks, der mit seiner liebevollen Begeisterung stets das Gute will und doch nur Chaos anrichtet. Ihren Höhepunkt finden seine Aktivitäten, als er während des Volksfestes in einem Zeltkino einen Film über die Post in den USA sieht, deren Zustelltempo mit dem Slogan „Rapidité, Rapidité“ (Geschwindigkeit, Geschwindigkeit) gefeiert wird. Von den Dorfbewohnern und den fahrenden Gesellen des Jahrmarkts gehänselt, will er fortan beweisen, dass auch die französische Post in der Gestalt selber selbst dazu fähig sei. So verfällt er in eine enorme Hektik, beschleunigt seine Arbeit und verrichtet mehrere Aufgaben zur gleichen Zeit, was das Dorfleben in enorme Unruhe versetzt. Nach einem Unfall bricht er das Experiment ab, und das Dorfleben kehrt zum beschaulichen Leben zurück.
Zwei Elemente aus „Jour de Fête“ spielen in allen weiteren Produktionen von und mit Tati eine entscheidende Rolle. Das ist zum einen das indirekte Loblied auf das traditionelle Leben des ländlichen Frankreichs, das als „France profonde“, als das tiefe oder auch echte Frankreich gilt. Zum anderen ist es die körpersprachliche Komik, mit der Tati die Alltagsroutine der Menschen karikiert. Es sind genau beobachtete Studien eines Verhaltens, mit dem sich Menschen gegen die Widrigkeiten der Verhältnisse und vor allem gegen die Anforderungen der Moderne wappnen.
Als Regisseur lässt Tati seine Darsteller, die in all seinen Filmen fast ausnahmslos Laien sind, diese Verhaltensweisen nachahmen und so auf die Spitze treiben, dass sie als Marotten sichtbar werden. Bellos verweist darauf, dass manche der Darsteller sich gleichsam selbst karikierten, was für diese nicht immer angenehm gewesen sein muss. Der Satz von André Bazin, der Tati eine „grausam genaue Beobachtung“ testierte, gewinnt so eine ganz andere Bedeutung.
Liebevoller fällt die Gestalt des Briefträgers
aus, dessen Rolle Tati selbst übernommen hatte. Er verleiht ihr noch beim
größten Ungeschick nicht nur eine artistische Form, sondern zugleich eine
gewisse Eleganz. Tatis körpersprachliche Komik steht deutlich in der Tradition
des US-amerikanischen Slapstick-Kinos und dessen Protagonisten wie Charles
Chaplin, Buster Keaton oder Harold Lloyd. Diese waren alle enorm sportlich und drehten
noch die wildesten und gefährlichsten Stuntszenen selbst. Wie sie brachte Tati
seinen Körper bei den Dreharbeiten immer wieder in Gefahr, wenn er sich mit dem
Fahrrad an einem Lastwagen hängt und auf dessen Ladeklappe während der Fahrt
die Briefe abstempelt. Oder wenn sich sein Körper beim Errichten eines großen Fahnenmastes
in eine wilde Choreografie einfügt.
Ein akustisches Tohuwabohu
Auch im Verzicht auf einen realistischen Ton erinnerte Tati an die die besten Filme seiner Vorbilder, die alle vor Einführung des Synchrontons um 1928 entstanden. In den Filmen von Tati sind Gespräche auf Kürzel und Floskeln oder auf ein akustisches Tohuwabohu reduziert. Das Gesprochene erscheint als ein Geräusch neben vielen anderen, die alle im Studio nachsynchronisiert wurden. Hört man Tatis Filmen heute zu, merkt man erst, wie sehr man sich an die Konventionen eines Sounds gewöhnt hat, der auf Verständlichkeit und auf den Naturalismus der gesprochenen Sprache basiert, die ja vieles erklärt und vermittelt. Der Sound der Tati-Filme mutet in seiner Reduktion radikaler an als viele Filme, deren Tonkulisse aus zahllosen Spuren zusammengemischt werden. Im Sprachenchaos seiner Filme schimmert stets auch etwas von den Kommunikationsdesastern durch, wie sie auch vielen Theaterstücken von Samuel Beckett zueigen ist.
Hinzukommt etwas, was oft erst bei einem zweiten oder dritten Sehen der Filme bewusst wird. Denn Tati entwickelt seine visuellen Gags aus einer filmischen Logik heraus, wenn der Schnitt in „Die Ferien des Monsieur Hulot“ beispielsweise eine räumliche Situation vorgaukelt, auf die selbst ein Darsteller im Bild hereinfällt. Oder wenn in „Mein Onkel“ (1958) zu Spiegeleffekten in kommt, wie sie nur die Kamera einfangen kann. Und wenn in den Totalen von „Playtime“ (1967) mehrere Handlungen parallel ablaufen und mitunter mehrere Kopien von Monsieur Hulot die Szenerie bevölkern.
Diese visuelle Komplexität basiert auf dem Verzicht auf jedwede Spannungsdramaturgie; in Tatis Filmen spitzt sich nichts zu; stattdessen läuft alles allein nach einer Zeitroutine ab, ob es sich nun um die Tage eines Jahrmarkts in der Provinz, eine Urlaubswoche am Meer, einen langen Tag und eine lange Nacht in der Vorstadt von Paris oder um eine Autofahrt von Frankreich nach Amsterdam handelt.
Bellos beschreibt, wie Tati in seiner Jugend
sportlich aktiv war, Tennis spielte und in einer Rugby-Mannschaft mitwirkte.
Und er rekonstruiert, dass viele Kollegen aus dem Rugby-Team Freunde bis ans
Ende seines Lebens geblieben sind. Im Umfeld ihrer Spiele begann Tati mit
seinen komischen Einlagen, in denen er sportliche Momente pantomimisch karikierte.
Elemente dieser Sportszenen lassen sich in allen seinen Filmen finden, wenn er
als Briefträger in „Jour
de Fête“ im Geschwindigkeitsrausch mühelos das
Peloton der Tour de France überholt, als Urlauber in „Les vacances de Monsieur
Hulot“ mit wilder Technik die Gegner vom Tennisplatz fegt oder in „Parade“ die
Niederschläge eines Boxers mimt. In diesen komischen Imitationen legt Tati
immer auch etwas von der Absurdität sportlicher Bewegungen frei.
Der Anpassungsdruck der Moderne
Ähnliches gilt für alltägliche Verrichtungen, die Menschen ja sehr oft ritualisiert vollziehen. In „Monsieur Hulot“ sind es Freizeitaktivitäten aller Art an der Atlantikküste und in „Mon Oncle“ (1958) verlangt ein moderner Neubau enorme Anpassungen an neue Geräte wie beispielsweise einen selbstfahrenden Staubsauger oder ein sich selbstschließendes Garagentor ab. In „Playtime“ (1967) hat der Anpassungsdruck der Moderne auf den einzelnen extrem zugenommen; geradezu hilflos irrt die von Tati gespielte Hauptfigur durch eine unwirtliche Beton- und Glaswelt, hinter deren Geheimnisse er trotz größter Bemühungen nicht kommt. Wie prägend Tatis Darstellung dieser modernen Welt war, klingt in dem Essay „Eine Arbeiterin“ von Didier Eribon nach, in dem die „kalte, unmenschliche Kulisse“ eines Altenheims mit dem Hinweis ergänzt wird: „wie aus einem Film von Jacques Tati“.
Zur Tücke des Objekts kommt bei Tati eine technische Komponente hinzu; die Apparate verselbständigen sich und degradieren die Menschen, für die sie einst entwickelt wurden, zu hilflosen Handlagern. In „Trafic“ kulminiert das in einer absurden Massenkarambolage, in der sich die Autos und manche ihrer Einzelteile verselbständigen.
Im Gegensatz zu dieser Technikwelt, für die Tati und seine Mitarbeiter mitunter Geräte wie das Mobiltelefon in „Jour de Fête“ oder den selbstfahrenden Staubsauger erfunden haben, steht die beschauliche Idylle des Provinznestes in „Jour de Fête“, des vor sich hindösenden Urlaubsdorfs in „Monsieur Hulot“ oder des windschiefen Vorstadthauses in „Mon Oncle“. Bellos beschreibt treffend, wie sehr Tatis Filme eine vortechnische Welt feiern, die schon zum Zeitpunkt der Dreharbeiten obsolet war. Er ordnet die Filme in die Entwicklung der französischen Gesellschaft ein und verweist beispielsweise darauf, dass jenes „France profonde“, das Tati filmisch feiert, längst einer Modernisierung unterworfen war.
In „Playtime“, der 1967 in die Kinos kam, deutet sich der Protest der Studenten, der ein Jahr später Paris lahmlegt, nicht einmal an. Nur in den brachialen Scherzen der Kinder in „Mein Onkel“ (1958), die auf ähnliche Szenen in Filmen von Jean Vigo und François Truffaut verweisen, lässt sich jene fröhliche Anarchie erahnen, die im Mai 1968 auf den Straße von Paris losbrach.
Komplizierte Produktions- und Verleihgeschichte
Interessanterweise hält sich David Bellos bei der
Interpretation von Tatis Filmen zurück. Dass er beispielsweise die Parallelen
der Restaurantszene aus „Playtime“ zu der von „Zazie“
von Louis Malle ignoriert, ist schon überraschend, da dieser Film ja auf dem
gleichnamigen Roman von Raymond Queneau beruht, mit dem Tati befreundet war.
Wichtiger und geradezu unverzichtbar ist Bellos' Biografie dort, wo sie die komplizierten Produktions- und Distributionsgeschichte der einzelnen Filme beschreibt. So schildert er, wie es dazu kam, dass Tati „Jour de Fête“ parallel mit zwei Kameras in Schwarz-Weiß und auf einem kaum erprobten Farbmaterial drehte. Und er beschreibt minutiös, was Tatis Entscheidung, „Playtime“ auf 70mm zu drehen, für die Dreharbeiten für Folgen nach sich zog. Bellos rekonstruiert überdies, wie Tati seine alten Filme immer wieder anders montierte oder mit neugedrehten Szenen ergänzte.
Breiten Raum nimmt die Geschichte von „Playtime“ ein, der sich produktionstechnisch zu einer einzigen Katastrophe entwickelte. Es war ein viel zu groß angelegtes Projekt, für das eine riesige Fassadenstadt am Rande von Paris errichtet wurde, und bei dem Tati auch dann noch auf Änderungen und Umbesetzungen drang, als das Budget längst aufgebraucht war. Tati verlor bei diesem Film nicht nur sein eigenes Vermögen, sondern auch das seiner Familie und von Freunden. Er büßte auch die Rechte an seinen älteren Filmen, was sie für eine gewisse Zeit aus der Öffentlichkeit verbannte. Und er verlor das Vertrauen in eine Branche, die ihn zuvor autonom gewähren hatte lassen.
In der Beschreibung dieses Desasters werden auch unangenehme Seiten von Jacques Tati sichtbar, der seine Freunde und seine Familie belog, um an ihr Geld zu kommen, und der Menschen ausbeutete oder als Verräter brandmarkte, wenn sie seinen wilden Ideen nicht mehr folgten. Höhepunkt der an absurden Verläufen nicht armen Produktionsgeschichten ist die des Zirkusfilms „Parade“, zu dem die unterschiedlichsten Aufnahmen zusammengefügt wurden, welche Tati seinem Produzenten vom Schwedischen Fernsehen abtrotzen konnte.
Die Schieflage von Atlas-Film
Was im Buch fehlt, ist eine Ergänzung dieser Produktionsgeschichte in Richtung Deutschland. Denn das finanzielle Desaster von „Playtime“ zeitigte auch hierzulande Folgen. Der Filmverleih Atlas, der mit Bergmans Film „Das Schweigen“ zu viel Geld gekommen war und danach viele Produktionen des Jungen Deutschen Films in die Kinos brachte, hatte sich an „Playtime“ finanziell beteiligt. Als Tati nicht fertig wurde und immer weitere Mittel verlangte, geriet Atlas-Film in eine finanzielle Schieflage und musste seinen Kinovertrieb einstellen. Die jungen deutschen Filmemacher verloren damit eine wichtige Vertriebsbasis; es begann eine mehrere Jahre währende Verleihkrise in Westdeutschland. Da Atlas die nebengewerblichen Rechte aus der Finanzkrise retten konnte, erstand die Firma als 16mm-Verleih wenig später neu, die dann bis weit in die 1980er-Jahre Kommunale Kinos, Jugendclubs und Freizeiteinrichtungen, aber auch Schulen mit meist bedeutsamen Filmen belieferte.
Die
größte Qualität des mit 94 Schwarz-Weiß-Fotos ausgestatteten Buches besteht
darin, dass sie große Lust macht, die Filme von Tati wiederzusehen. Seit
einigen Jahren liegen seine fünf Kinofilme sowie der Fernsehfilm „Parade“ in restaurierten
DVD- und Blu-ray-Fassungen vor. Hinzukommen einige Kurzfilme, prägnante
Ausschnitte seiner Filme und manche Improvisationen im Internet, etwa das Tennisspiel in
„Jour de Fête“, eine Zeitlupenvariante
aus „Parade“ oder die Karikatur eines
Torhüters auf dem Fußballplatz. So kann man während oder nach der Lektüre von „Jacques Tati. Sein Leben und seine Kunst“
prüfen, worin die besondere Qualität des Filmkomikers Jacques Tati noch immer
besteht.
Literaturhinweis
Jacques Tati. Sein Leben und seine Kunst. Von David Bellos. Aus dem Englischen von Angelika Arend. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2024, 544 Seiten, 94 s-w-Bilder. 32,00 EUR. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.