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Disziplin & Kontrolle (III): „The Killing“ von Stanley Kubrick

Der dritte Beitrag zum Blog „Disziplin & Kontrolle“ behandelt Stanley Kubricks „The Killing“ (1956)

Veröffentlicht am
21. April 2024
Diskussion

Der dritte Beitrag zum Blog „Disziplin & Kontrolle“ über die Wandlungen des Heist-Movie-Genres nimmt sich Stanley Kubricks „The Killing“ (1956) vor. Dessen Schilderung eines perfekt geplanten Geldraubs, bei dem jedes erzählerische Detail von Bedeutung für die Gesamtkonstruktion ist, zeugt nicht nur von Perfektionismus des jungen Regisseurs, es verweist auch auf die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Entwicklungen seit den 1910er-Jahren. Eine Deutung des Films im Zusammenhang mit den industriellen Produktionsbedingungen im Sinne von Henry Ford.


Es macht keinen Spaß, Stanley Kubricks „The Killing“ (1956) nachzuerzählen, womit nicht gesagt sein soll, dass der Film uninteressant sei. Der Grund dafür liegt darin, dass die filmische Erzählung einem reinen Funktionszusammenhang gleicht. Keine Szene steht für sich. Sie alle verkörpern bedeutungsgeladene Handlungselemente. Das ist notwendig, da Kubrick die zeitliche und räumliche Kontinuität seiner Welt auseinanderschraubt, wie ein Kind es mit einem Kugelschreiber tun würde, um nachzuforschen, wie dessen Federmechanismus funktioniert. Die Kausalitätsbeziehungen, also die funktionale Qualität der einzelnen Szenen, halten die auseinandergeflochtene Welt in ihrem Verweisen aufeinander zusammen.

In „The Killing“ scheint kein Bestandteil der Bilder zufällig gewählt. Das Hufeisen, das der schwarze Parkplatzwächter (James Edwards) empört auf den Boden wirft, als der Scharfschütze Nikki (Timothy Carey) seinen Glücksbringer mit einer rassistischen Beleidigung zurückweist, um ungestört das Rennpferd Red Lightning erschießen zu können, existiert nur deshalb, damit der Hinterreifen von Nikkis Auto bei der Flucht von ebendiesem Hufeisen aufgeschlitzt wird und er in Folge davon selbst erschossen wird. Der Federmechanismus, dem Kubrick mit seinem Auseinanderschrauben auf die Spur kommen will, ist das Ereignis eines Überfalls auf eine Pferderennbahn. Welche Handlungsketten überlappen sich, welche reihen sich auf, damit es sich verwirklichen kann?

Präzise Planung der Geldräuber (© Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc.)
Präzise Planung der Geldräuber (© Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc.)

„Eine oder zwei Minuten zu früh waren zulässig, doch zehn Sekunden zu spät wären fatal gewesen.“ Die Stimme des Erzählers kommentiert aus der Vogelperspektive die Autofahrt des korrupten Polizisten (Ted de Corsia) zur Rennbahn. Es ist seine Aufgabe, die aus dem Fenster der Buchhaltung geworfene Beute aufzusammeln. Der Kopf der Bande – Sterling Hayden, Hauptdarsteller auch in John Hustons „Asphalt Dschungel“ (1950) – wird den Beutel auf die Straße hinauswerfen, nachdem er, vermummt durch Clownsmaske und Filzhut, in das Büro stürmte, eine Schrotflinte auf die vier Buchmacher richtete – einer von ihnen hält noch einige Dollar-Noten in den gehobenen Händen – und ihnen befahl, den Tresor zu leeren. Das Chaos, ausgelöst durch das in den Pferdekörper eingedrungene Projektil, ermöglicht es ihm, die Ordnung seines Plans auf der Wettrennbahn durchzusetzen.

Außerdem ist da noch Maurice Oboukhoff (Kola Kwariani), ein schachbesessener Ringkämpfer mit russischem Akzent, der eine bezahlte Schlägerei in der Bar im Erdgeschoss anzettelt, um die Wachmänner abzulenken. Alles ist klug durchdacht. Man merkt, dass „The Killing“ zum Frühwerk eines Filmemachers zählt, der sein handwerkliches Können unter Beweis stellen will. Dabei wirkt Kubrick manchmal wie einer, der bei einem Date unbedingt clever erscheinen will, und darüber vergisst, dass das Gegenüber sich auch an der Unterhaltung beteiligen will.


Die Durchdringung des Lebens von der Arbeit

Hartmut Bitomsky schreibt in seinem Buch „Die Röte des Rots von Technicolor“ über „Kinorealität und Produktionswirklichkeit“: „Wann immer die Filmemacher ein Wort sagen, reden die Produktionsbedingungen ein Wort mit.“ Dies trifft umso mehr auf „The Killing“ zu, da Kubrick nicht bloß Regisseur, sondern auch Mitgründer der für den Film verantwortlichen Produktionsfirma Harris-Kubrick Pictures Corporation ist. In diesem Fall lässt sich sogar behaupten, dass die im Film verschlüsselte Lebensform seine Produktionsbedingungen direkt spiegelt. Der marxistische Philosoph Antonio Gramsci beschäftigte sich im neunten Band seiner „Gefängnishefte“ mit der Verschränkung von Produktionsmodi und Daseinsweisen am Beispiel des zeitgleichen Aufkommens der Fließbandarbeit in den Fabriken von Henry Ford und der Prohibition in den USA. In Anschluss an Leo Trotzki analysiert er, auf welche Weise mit dem äußeren Zwangsmittel der Disziplin die industrielle Produktion beschleunigt und auf welche Weise die Gewohnheiten der Menschen dadurch den Arbeitserfordernissen angepasst wurden. Das Ziel sei es gewesen, „mit unerhörter Geschwindigkeit und in einer Geschichte nie dagewesenen Zielbewusstheit einen neuen Arbeiter- und Menschentypus zu schaffen“. Die neuen Erfordernisse des Fordismus verlangten eine Reduktion der Arbeit auf einen bloßen maschinell-physischen Rest.

Keine Zeit für Überschwang an Leidenschaft (© Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc.)
Keine Zeit für Überschwang an Leidenschaft (© Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc.)

In welchem Verhältnis steht diese maschinelle Arbeitsweise mit dem Alkoholverbot der Jahre 1920 bis 1933? Nach Gramsci sei es das Ziel dieses neuen Puritanismus gewesenen, „außerhalb der Arbeit ein bestimmtes psycho-physisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, das den physiologischen Zusammenbruch des von der neuen Produktionsmethode ausgepressten Arbeiters verhindert.“ Um am nächsten Morgen wieder am Fließband zu stehen, muss die nervlich-muskuläre Leistungsfähigkeit in der Freizeit regeneriert werden. Es darf, mit anderen Worten, nicht gesoffen werden. Gleiches gilt für die Promiskuität: „Der Überschwang an Leidenschaft verträgt sich nicht mit den zeitgemessenen Bewegungen der an die perfektesten Automatismen gebundenen menschlichen Produktionsgesten.“ Aus diesem Grund will der Fordismus die Stabilität der monogamen Ehe. Anhand dieser beiden Beispiele macht Gramsci sichtbar, dass der neu geschaffene Menschentypus somit einem Anhängsel der Maschine gleicht. Charlie Chaplin kam in „Moderne Zeiten“ (1936) etwa zur selben Zeit auf anderem Wege zum selben Schluss.


Ein Film wie Fords Model T

Gramscis Analyse lässt sich auf „The Killing“ übertragen. Die Produktionsbedingungen des Fordismus und die von ihr eingeforderte Lebensform sickerten in die US-amerikanische Gesellschaft ein. Viktor Šklovskij beschreibt diesen Vorgang in seinem experimentellen Briefroman „Zoo“ (1923) mit poetischen Worten: „Der MG-Schütze und der Kontrabaß-Spieler sind Fortsetzungen ihrer Instrumente.“ Vom Innern der Gesellschaft aus färbten die industriellen Produktionsbedingungen auf die Produktionsweise von Kubricks Film ab und prägten so die dem Film eingeschriebene Lebensform, seine filmische Welt und die Verhaltensweisen seiner Figuren. Kubricks Film gleicht insoferns Fords Model T, dem ersten Automobil, das vom Fließband rollte, als die verschiedenen Komponenten seiner nichtlinearen, raumzerstückelten Erzählung einer Reihe von ineinandergreifenden Einzelteilen entsprechen müssen, die ein funktionales Ganzes ergeben, das keine Durchlässigkeit, keinen Überfluss dulden kann.

In seiner „Theorie des Films“ beschreibt Siegfried Kracauer Filme dieser Sorte als „zweckgebundenes Ganzes“. Kubricks Erzählung kann ebenso wenig auf Abwege gelangen, wie es am Fließband möglich ist, zu improvisieren. Die Spontaneität würde lediglich die Funktionalität des Ganzen zum Stottern bringen. Aus diesem Grund kennen die Figuren in „The Killing“ keine Freizeit. Es gibt kein Außen. Die Arbeit, der letzte Job, bestimmt ihre Welt. Und auch ihre Liebesbeziehungen, allem voran die des Protagonisten und seiner Freundin Fay (Coleen Gray), die seine fünfjährige Gefängnishaft wartend zugebracht hat und ohne Zögern gewillt ist, mit ihm nach Boston zu fliehen, sind auffallend leidenschaftslos. Bloß der fremdgehenden Sherry (Marie Windsor) wird etwas Begehren zugestanden. Doch für diesen „Überschwang an Leidenschaft“ zahlen sie – und sechs weitere Männer – mit dem Tod.

Sterling Hayden als Kopf der Bande (© Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc.)
Sterling Hayden als Kopf der Bande (© Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc.)


Literaturhinweis

Die Röte des Rots von Technicolor. Kinorealität und Produktionswirklichkeit. Von Hartmut Bitomsky. Luchterhand, Neuwied und Darmstadt 1972.

Zoo oder Briefe nicht über die Liebe. Von Viktor Šklovskij. Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980.

Gefängnishefte Band 9. Von Antonio Gramsci. Argument Verlag mit Ariadne, Hamburg 1999.

Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Von Siegfried Kracauer. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1985.


Zum Siegfried-Kracauer-Stipendium

Das Blog „Disziplin & Kontrolle“ von Leo Geisler über die Wandlungen im Heist-Genre entsteht im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums, das der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit MFG Filmförderung Baden-Württemberg, der Film- und Medienstiftung NRW und der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) jährlich vergibt.

Die einzelnen Beiträge des aktuellen Stipendiums, aber auch viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.

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