„This is your brain on Anime“ kündigte die Werbezeile für „Paprika“ einst vollmundig an – und behält damit auch mehr als eine Dekade später Recht. Der spektakuläre Anime-Ausflug in die Welt der Träume überflutet das Publikum mit Bildern, die alle Synapsen kribbeln lassen. Eine restaurierte, kürzlich erschienene 4kUHD-Fassung des modernen Klassikers von Satoshi Kon lässt die Farben intensiver glühen und die Lautsprecher beben.
In
einer endlosen Karawane tanzen Dinosaurier mit Briefkästen und Buddha-Statuen werfen
Konfetti, während Ritterrüstungen an Marionettenfäden Purzelbäume schlagen. Die
scheppernde Musik, teilweise von einem Froschorchester eingespielt, erinnert vage
an Pachelbels berühmten Kanon. Doch beim genaueren Hinhören ist es eine andere Melodie.
Es ist das Abbild einer Erinnerung. Es ist die Musik, die im Kopf entsteht,
wenn man zu Pachelbels Musik einnickt und auf der Grenze zwischen Wachen und
Träumen die letzten Noten der Melodie in den Schlaf vordringen. Es ist völlig
anders und doch vertraut. Wenig andere Filme können das Chaos des träumenden
Unterbewusstseins so greifbar machen wie „Paprika“. Und die
allerwenigsten machen es derart genüsslich, dass es ein Leichtes ist, vom Wahnsinn
auf der Leinwand die eigene Vernunft marinieren zu lassen. In einer Szene des
Filmes sprechen die Figuren darüber, dass Filme zu schauen einem kollektiven
Traum ähnele. Wenn das die Wahrheit ist, dann ist „Paprika“ Kino in Reinform.
Traumlogik mit breiten Pinselstrichen
In
all dem wohligen Gewusel versteckt sich tatsächlich auch eine Geschichte, die
zumindest ansatzweise erklärt, wie all das zusammenhängt. Kōsaku Tokita ist ein
Genie mit kindlichem Gemüt, gefangen in einem riesenhaften Körper, der beim
ersten Auftritt selbst an ein absurdes Traumbild erinnert. Er hat den DC-Mini
erfunden, eine Maschine, die es Psychotherapeut:innen gestattet, in die Träume
ihrer Patent:innen einzudringen, um diese besser analysieren zu können. Seine
Mitarbeiterin Atsuko Chiba hat diesen Vorgang so häufig wiederholt, dass sich
ein Traum-Alter-Ego namens Paprika manifestiert hat. Paprika tanzt sorglos auf
der Grenze zwischen Wachen und Schlafen, tauscht im fliegenden Wechsel die
Rolle mit Chiba und hilft bei Therapiesitzungen aus.
Das Projekt gerät jedoch außer Kontrolle, als jemand zwei DC-Minis stiehlt und damit beginnt, die Träume diverser Patienten:innen zu infizieren. Schleichend werden Wahnvorstellungen ins Unterbewusstsein der Bevölkerung eingepflanzt, die sich wie ein Virus vermehren und irgendwann Traum und Realität verschmelzen lassen.
Träumt Christopher Nolan von Paprika?
Der
Vorwurf, dass Christopher Nolan die Grundideen von „Paprika“
einige Jahre später für „Inception“ nutzte, steht bis heute im
Raum. Beide Filme teilen das Konzept der futuristischen Technik, die
kollektives Träumen ermöglicht, und dennoch tut der direkte Vergleich beiden
Werken Unrecht. Nolan spielt in „Inception“ mit der Idee, dass Traum und
Realität sich dermaßen ähneln können, dass es schwerfällt, den Unterschied zu
sehen. Satoshi Kon geht in „Paprika“ den entgegengesetzten Weg
und gestaltet seine Träume derart surreal und opulent, dass nie
Verwechslungsgefahr besteht. Nolan versetzt sein Publikum damit in die
Perspektive der Träumer, die sich bis zum Schluss fragen können, was wahr ist
und was nicht. Damit diese Frage relevant bleibt, muss er Stück für Stück die
Absurdität seiner Welt reduzieren, bis Vorstellung und Realität
deckungsgleicher werden. Satoshi Kon versetzt hingegen in die
Beobachterperspektive, in der wir endlich hellwach sein können, während die
wildesten Fantasien sich vor unseren Augen abspielen. Um dieses wundersame Staunen
zu erhalten, muss er bis zum Ende seine Bilder mit immer neuer Energie und
kreativen Einfällen füttern.
Trotz dieser Unterschiede gibt es jedoch eine gemeinsame Basis, die weit vor der Entstehung beider Filme gesetzt wurde. Insbesondere in den therapeutischen Momenten von „Paprika“ schimmern immer wieder die Ansätze der Psychotherapie-Methoden von Sigmund Freud und C.G. Jung durch. Das kollektive Unterbewusstsein, dass sich die Träumenden teilen, ist ein Konzept, das hauptsächlich Jung stark geprägt hat. Vielleicht hat es also durchaus seine Logik, dass zwei Filmemacher zufällig den gleichen Traum träumten und ihn unterschiedlich auslebten. Satoshi Kon schreckt dafür auch vor den unangenehmeren Seiten des menschlichen Geistes nicht zurück. Träume können in seiner Welt auch Albträume sein. Er geizt nicht mit verstörenden Bildern, die von Horrorszenarien bis zur Vergewaltigungsfantasie gehen und keine leichte Kost sind. Doch selbst die positiven Szenarien sind nicht immer klar zu deuten. Insbesondere sein Finale basiert auf assoziativer Traumlogik, die nicht für alle schlüssig sein wird. Der einzige Ausweg ist es, sich dem eskalierenden Bildrausch hinzugeben und die Geschichte so anzunehmen, wie sie präsentiert wird.
Eine Art Traumtherapie
Der viel zu jung verstorbene Satoshi Kon hat einen Gastauftritt in seinem eigenen Film. Gemeinsam mit Yasutaka Tsutsui, dem Autoren des Romans, auf dem „Paprika“ basiert, mimt er ein Duo virtueller Barkeeper. Beide arbeiteten eng zusammen, um das als unverfilmbar geltende Buch zu adaptieren, und der Prozess, in den Kon Einblick gewährt, gleicht beinahe selbst einer Traumerfahrung.
Häufig begann er nicht mit dem Schreiben, sondern mit Skizzen, Storyboards oder grafischen Impulsen. Manchmal direkt vom Buch inspiriert, häufig aber auch seiner eigenen Fantasie entsprungen. Seine Hoffnung war, dass die Handlung im Nachhinein an diese Bilder andocken würde, um ihnen in irgendeiner Weise Sinn und Zusammenhang zu geben. Die Produktion begann ohne ein finales Drehbuch, und bis zum letzten Schnitt schummelten sich immer wieder Entwürfe in den Film, die Kon nicht niedergeschrieben hatte, sondern die lediglich als Zeichnungen an seiner Wand hingen. Als ob sein Unterbewusstsein sich Stück für Stück den Weg in diesen, seinen letzten, Film gebahnt hätte. Die Details, auf die Kon achtet, fallen häufig erst beim wiederholten Sehen auf. Wenn er beispielsweise in einer eigentlich trivialen Dialogszene damit beginnt, Wassertropfen zu animieren, die symbolisch für den Gesprächsinhalt stehen, oder Licht und Schatten einsetzt, um verschiedene Bewusstseinsebenen zu symbolisieren, sind das subtile Kunstgriffe, die beim ersten Schauen nur unbewusst eine Wirkung hinterlassen.
Trotz all dieser hintergründigen Botschaften und der generellen Absurdität der Handlung schafft es Kon dennoch, seinen Charakteren Leben und Persönlichkeit einzuhauchen. Im Kern dreht sich „Paprika“ eben auch um therapeutische Ideen, und im Laufe des Filmes lernt man die Figuren besser kennen, indem man gemeinsam mit ihnen versucht, ihre Träume zu deuten, um den Heilungsprozess nachzuvollziehen. Besonders anschaulich wird diese Reise in der Storyline um den Polizisten Konakawa, der aus unterschiedlichen Gründen eine Hassliebe zum Kino aufgebaut hat. In kleinen Schritten entsteht hier eine wunderschöne Analogie zwischen Traum und Film, die eine unglaubliche Fülle an Referenzen für Cineasten bereithält. Eine bittersüße Abschlussnote findet sich, als Konakawa in der letzten Szene ein Kino besucht, in dem Plakate von Satoshi Kons bisherigen Werke hängen. Der Polizist löst ein Ticket für „Die träumenden Kinder“ – ein Film, der angeblich Kons nächstes Projekt hätte sein sollen. Ein Traum, den er leider nie verwirklichen konnte.
Ein wunderbarer Zirkus
„Paprika“
ist ein würdiges Ende für das beeindruckende Oeuvre eines großen Regisseurs. Es
ist einer dieser Filme, der jedes Mal neue Eindrücke hinterlässt. Andere
Details fallen auf, andere Themen klingen an, als sehe man stets nur einzelne
Fragmente eines größeren Ganzen. Es ist auch einer der Filme, die dazu einladen,
Essays und Videos darüber zu posten, was der eigentliche Sinn oder die Aussage
ist, die hier versteckt sein könnte. Glücklicherweise gibt es darauf, egal wie akribisch
man „Paprika“ analysiert, aber keine eindeutige Antwort. Selbst die Figuren
betrachten Träume aus völlig unterschiedlichen Blickwinkeln: Für den einen sind
sie ein Vergnügungspark des Unbewussten, für den anderen sind sie ein
Kinobesuch, und für die dritte ist die digitale Welt des Internets eine
Traumwelt, in der die Welt ihr kollektives Unterbewusstsein ablädt. Alles ist
richtig. Und alles ist falsch. Genau darin liegt die Traumlogik.
Was jedoch eindeutig feststeht, ist, dass „Paprika“ allein im Prolog, in dem Konakawa sich quer durch alle Filmgenres träumt, mehr Kreativität abfeuert als andere Filme in ihrer kompletten Laufzeit. Und bereits davor, in der ersten Szene, zeigt Satoshi Kon, was „Paprika“ auch ist: Aus der Dunkelheit der Leinwand fährt ein winziges Auto ins Scheinwerferlicht, und heraus steigt mit schweren Schritten ein hochgewachsener Clown. Zur vollen Größe aufgerichtet, wird im ersten Satz des Films stolz verkündet: „It’s the greatest showtime!“ Und für die nächsten 90 Minuten bietet die Leinwand nichts Geringeres als das!
„Paprika“ ist in restaurierter Fassung als 4kUHD/BD-Steelbook-Edition beim Label Plaion erschienen. Der Film ist aber auch digital & als DVD verfügbar. Mehr Informationen hier.