Die Streamingdienste Apple und Amazon setzen bei ihrer neuen Kinostrategie auf jährliche Investitionen von einer Milliarde Dollar in Filme, die zuerst auf der großen Leinwand gezeigt werden sollen. Bei „Killers of the Flower Moon“ und „Napoleon“ hat sich das ausgezahlt. Nur Netflix mauert weiter und gönnt Prestigeproduktionen wie „Maestro“ lediglich ein mageres Kinofenster von 14 Tagen. Eine befremdliche Sturheit, mit der Netflix sich selbst und den Filmen schadet.
Noch am Vorabend zur Verkündung der diesjährigen „Oscar“-Nominierungen gab es einen Paukenschlag in Hollywood. Netflix-Filmchef Scott Stuber kündigte an, er werde den weltweit größten Streamingdienst verlassen. Einen Tag später konnte Netflix 18 „Oscar“-Nominierungen erzielen, allein sieben für „Maestro“. Das Biopic von Bradley Cooper dürfte jedoch am 10. März weitgehend leer ausgehen, wie alle Netflix-Prestigeproduktionen der letzten Jahre. Weder „Roma“ noch „The Irishman“, „Mank“, „The Power of the Dog“ oder im Vorjahr „Im Westen nichts Neues“ konnten den so prestigeträchtigen „Oscar“ für den besten Film des Jahres erhalten. Das hat Gründe, denn Netflix glaubt zwar an Filme, aber nicht ans Kino.
Dabei pumpt man Millionen in die Werbekampagnen der hauseigenen „Originals“. Nur auf der großen Leinwand fristen sie ein Schattendasein. Das könnte einer der Gründe sein, warum Scott Stuber nun weg ist. Der hatte einst vollmundig angekündigt, jede Woche mindestens ein Original zu präsentieren. Bei Netflix setzte man jahrelang vor allem auf Quantität. Der amerikanische Branchendienst „Business Insider“ veröffentlichte Ende Januar eine aufschlussreiche Statistik. 2021, im zweiten Corona-Jahr, als viele US-Kinos noch geschlossen waren, erschienen bei Netflix in den USA 232 Originals. Vieles davon war Massenware, auch aufgekaufte Filme, die Netflix nicht selbst produziert hatte. Aber schon im Herbst 2023 deutete Scott Stuber eine neue Strategie an. Man wolle nun mehr auf Qualität setzen und viel weniger Filme finanzieren. Schon im Vorjahr gab es bei Netflix nur noch 95 Originals und 2024 sollen es nur knapp 60 werden.
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Prestige als Ausnahme
Neben der reinen Masse und immer wieder auch Flops wie „Das Letzte, was er wollte“ oder „The Last Days of American Crime“, an die man sich kaum noch erinnert, setzte Scott Stuber in Ausnahmefällen auch auf Prestige und bekannte Namen. Bei einem Regisseur wie Martin Scorsese war Stuber spendabel und gab für „The Irishman“ 180 Millionen Dollar aus. Scorsese wollte ein längeres Kinofenster als nur die üblichen 14 Tage, die Netflix normalerweise gewährt. Amerikanische Kinoketten verlangten 90 Tage, Netflix bot die Hälfte. Ein Deal kam nicht zustande. Martin Scorsese zeigte sich enttäuscht und drehte wie bekannt sein neuestes Werk „Killers of the Flower Moon“ für 200 Millionen Dollar bei Apple. Im Oktober 2023 kam das Werk weltweit in die Kinos, spielte bisher 160 Millionen Dollar ein und ist mit 10 „Oscar“-Nominierungen ein Favorit der Verleihung. Erst Mitte Januar stellte Apple den Film auf seine Streaming-Plattform AppleTV+.
Ebenso wie Amazon hatte man bei Apple schon vor einem Jahr angekündigt, man wolle über eine Milliarde Dollar für neue Kinofilme ausgeben. Das klingt zunächst nach einem enormen Schub für das Kino und einer Produktionsschwemme. Aber wenn man bedenkt, dass sowohl „Killers of the Flower Moon“ wie auch Ridley Scotts „Napoleon“ beide jeweils 200 Millionen Dollar gekostet haben und auch der sehenswerte Sportfilm „Air“ von Ben Affleck für Amazon Prime ein Budget von rund 130 Millionen Dollar hatte, dann relativiert es schon wieder diese enormen Summen. Dennoch gibt es für das Kino viele interessante Aspekte und Hoffnung. Alle drei Großproduktionen richten sich eher an ein erwachsenes Publikum, setzten auf bekannte Regisseure und große Stars. Die klassischen Hollywoodstudios wie Disney, Warner oder Sony investieren diese Riesenbudgets fast nur noch in Superhelden-Abenteuer, andere Franchise-Fortschreibungen oder Animationsfilme für die ganze Familie.
Solange sich allein beim Kinostart die Produktionskosten fast einspielen lassen, werden Amazon und Apple weiter auf die große Leinwand setzen. Sie wird von den Medien viel mehr wahrgenommen, und Kinofilme bleiben länger Gesprächsstoff unter Kollegen, Freunden, und Bekannten. Außerdem spart man sich beim späteren Start auf den Streamingdiensten die teure Werbekampagne.
Das gescheiterte Experiment der Parallelstarts
Zu Corona-Zeiten, als die Kinos leer waren, experimentierten die großen Studios noch mit Parallelstarts. Man konnte die Filme zeitgleich im Kino und für ziemlich viel Geld (meistens für ca. 20 Dollar und mehr) auch zu Hause als VoD sehen. Das hat aber nur bedingt funktioniert, und Regisseure wie Christopher Nolan mit seinem Film „Tenet“ auch so verärgert, dass er „Oppenheimer“ nicht mehr mit Warner drehen wollte, weil er seine Filme für das Kino macht. Natürlich darf man sich als Kinogänger über den Strategiewechsel von Amazon und Apple freuen, aber muss nicht gleich in Jubel ausbrechen, denn am Ende geht es neben dem Prestige natürlich immer auch um Geld. Kritiker und Produzenten befürchten, dass mit den hohen Budgets die Preise hochgetrieben werden. Und wenn einige der teuren Filme floppen, dann könnte auch schnell wieder ein Umdenken einsetzen. So hat das jüngste Apple-Original, der kürzlich gestartete „Argylle“, in seiner ersten Auswertungswoche weltweit nur 37 Millionen Dollar eingespielt, aber könnte am Ende noch deutlich zulegen.
Und nicht jeder Film kommt überall in die Kinos. „Saltburn“, das eher preiswerte neue Werk der britischen Regisseurin Emerald Fennell („Promising Young Woman“), wurde nur in den USA, Großbritannien, Neuseeland und Australien ins Kino gebracht, spielte immerhin in diesen vier Ländern 21 Millionen Dollar ein. In Deutschland läuft er nur bei Prime.
Andererseits mehren sich zurzeit die Anzeichen, dass Streamer und das Kino besser zusammenarbeiten. Vorgemacht hat es der kleine, aber feine Streamingdienst MUBI, der seine (angekauften) prestigeträchtigeren Filme gerne im Kino zuerst auswertet. Bestes Beispiel dafür ist „Priscilla“ von Sofia Coppola.
Warum bleibt Netflix so stur?
Mehr denn je stellt sich abschließend die Frage: Warum bleibt Netflix so stur und setzt auf „Streaming First“? Und was passiert nach dem Weggang von Scott Stuber? Netflix sieht das Kino nur als Werbung und lässt die Filme nur ein bis zwei Wochen exklusiv im Kino laufen und verbietet außerdem, dass die Kinos Besucherzahlen oder Einspielergebnisse veröffentlichen. Die Strategie lautet: Netflix-Kunden wollen einen Film sofort streamen und nicht 45 Tage oder drei Monate warten, bevor er auf die hauseigene Plattform kommt. Da zeigt man sich auch unbelehrbar. Hinzu kommt, dass bis auf „Roma“ oder „The Irishman“ zumindest in Deutschland die Kinobetreiber sehr unzufrieden mit der Auswertung der Netflix-Titel sind. Es gibt zu wenig Werbung für die Kinostarts, sodass diese kaum wahrgenommen werden. Ende Dezember lief in wenigen Kinos in Deutschland der spanisch-uruguayische Katastrophenfilm „Die Schneegesellschaft“, einer der besten Filme 2023, der auch eine „Oscar“-Nominierung erhielt. Großes, tragisches, packendes Kino um den Flugzeugabsturz einer Rugbymannschaft aus Uruguay 1972 auf dem Weg nach Santiago de Chile. Das Werk war der Abschlussfilm beim Festival in Venedig. Ende Dezember 2023 sah ich den Film um 20.45 Uhr in einem Kino in Rom. Wir waren insgesamt zwei Zuschauer! In Berlin lief das Werk nur in einem kleinen Kino um 11.00 Uhr früh und in ganz Deutschland in fünf Städten. Erst seitdem der Film Anfang Januar auf Netflix läuft, wurde er vom Streamer aufwändig beworben.
Noch krasser ist der tiefe Fall von „Maestro“. Der anspruchsvolle Film mit seinem Formatwandel von 4:3 zu Breitwand oder dem langen ersten Teil in schwarz-weiß war augenscheinlich zu anspruchsvoll für die Kunden und kam nicht einmal in die Netflix-„Top 10“. Nur in den Niederlanden wurden die Boxoffice-Einnahmen der Kinos veröffentlicht. „Maestro“ spielte dort in zwei Wochen auf 43 Leinwänden magere 232.000 Dollar ein. Das reichte in der Startwoche am 7. Dezember 2023 für den 7. Platz. In der gleichen Woche lag in den Niederlanden „Napoleon“ von Apple in der dritten Woche auf Platz eins mit einem Einspiel von über 4 Millionen Dollar.
Die Frage wird bleiben, wie lange sich Netflix diese teuren Prestigeproduktionen überhaupt noch leistet. Auch „Maestro“ hat 80 Millionen Dollar gekostet.