Seit im Zuge der „MeToo“-Debatte das Thema Missbrauch in der Filmbranche in den Fokus geraten ist, haben Filmschaffende auch angefangen, eine neue Form des Umgangs mit Sexszenen zu fordern, um bei deren Inszenierung die Beteiligten vor verletzenden Erfahrungen zu schützen. So hat sich ein neuer Berufsstand etabliert: Die sogenannten „Intimitätskoordinator:innen“ stehen den Filmteams beim Dreh intimer Szenen beratend zur Seite. Ein Interview mit Franzy Deutscher und Florian Federl vom Berufsverband für Intimitätskoordination und Kampfchoreographie über Arbeitsprofil und Ansprüche.
Als der Regisseur Bernardo Bertolucci und sein Hauptdarsteller Marlon Brando für den Film „Der letzte Tango in Paris“ (1972) kurzfristig beschlossen, die Schauspielerin Maria Schneider in einer (auf fragwürdige Weise sehr bekannt gewordenen) Sexszene zwischen Brando und ihr zu überraschen, hatte dies einschneidende Konsequenzen für die Hauptdarstellerin. Wie sie in einem Interview später erklärte, fühlte sie sich in der Szene, die so nicht im Drehbuch stand, von Marlon Brando vergewaltigt. Bertolucci gestand später, er bedauere, was er damals gemacht habe. Damals gab es noch keine Funktion am Set, die heute „Intimitätskoordination“ genannt wird. 2016 wurde mit Intimacy Directors International (IDI) in den USA die erste Organisation gegründet, die Expertise zu dem Thema anbot. Für die Serie „The Deuce“ hat der Fernsehsender HBO 2018 zum ersten Mal mit einer Intimitätskoordinatorin zusammengearbeitet. Alicia Rhodis, die dafür engagiert wurde, gilt als Pionierin der Intimitätskoordination in den USA. Durch den Aufwind für die „MeToo“-Bewegung im Zuge des Weinsteins-Skandals ist das Thema umso dringlicher geworden.
Auch in Deutschland tut sich was. Es gibt einen Berufsverband für Intimitätskoordination und Kampfchoreographie, der im Februar eine große Tagung zum Thema veranstaltete. Franzy Deutscher ist die erste Vorsitzende und Florian Federl der zweite Vorsitzende des Verbands. Ein Gespräch über einen notwendigen Wandel und einen neuen Berufszweig in der Film- und Fernsehproduktion.
Was genau macht die Intimitätskoordination in der Filmproduktion? Wann beginnt die Arbeit? Erst bei den Dreharbeiten oder schon früher?
Florian Federl: Im Idealfall kann man bereits beim Drehbuchschreiben beraten. Üblich ist, dass die Produktion auf die Intimitätskoordination mit einem Skript zugeht, damit alle Szenen, die intime Inhalte haben, markiert werden. Dann wird eine Risikoanalyse geschrieben. Es gibt also bereits sehr viel Arbeit am Schreibtisch, bevor man an ein Set geht. Es folgen Gespräche mit der Regie, weil wir ja die künstlerische Vision der Beteiligten umsetzen wollen. Was soll in den Szenen genau passieren? Die Risikoanalyse wird dann angepasst. Mit den Schauspielerinnen und Schauspielern finden Einzelgespräche statt, damit alle in einem geschützten Rahmen über die Szenen reden können. Danach folgen wieder Gespräche mit der Regie und mit allen Gewerken, Garderobe, Make-up, Kamera natürlich, eventuell auch mit der Stuntkoordination, wenn sexualisierte Gewalt dargestellt werden soll. Daran schließen sich Proben an, die zwar nicht so lang wie zum Beispiel beim Theater sind, aber nur so können Unklarheiten geklärt und der Ablauf festgelegt werden, der für alle, und das ist wichtig, einvernehmlich ist. Dann erst kommt der Drehtag, das ist also der kleinste Teil. Nach dem Drehtag werden den Beteiligten nochmal Nachgespräche angeboten.
Das hört sich so an, als sei es sehr naheliegend, dass es eine solche Funktion geben muss. Warum gibt es das aber erst jetzt? Womit hat das Ihrer Meinung nach zu tun?
Franzy Deutscher: Ich wage mal eine Hypothese. Es ist abhängig vom Standing der Spielerinnen und Spieler und der Regie. Wenn man sich Film- genauso wie Theaterproduktionen anschaut, hat man häufig ein ganz klares machthierarchisches Gefälle. Im Regelfall müssen die Spielenden liefern, um die künstlerische Vision der Regie zu erfüllen. Wenn es um Grenzen geht, liegt es auch viel an den Schauspielenden selbst. Möchte man verklemmt oder offen wirken? Wann hat man das Standing, bestimmte Dinge abzulehnen? „MeToo“ war in Deutschland eine unfassbar wesentliche Entwicklung. Sie hat nicht nur dazu geführt, dass sich die Themis-Vertrauensstelle gegründet hat, sondern eben auch, dass man wegen sexualisierter Übergriffe und Machtmissbrauch sowohl auf der Theaterbühne als auch im Film die Notwendigkeit festgestellt hat, etwas zu ändern. Es geht darum, dass alle mitarbeiten. Es kamen auch Studien im Lauf der „MeToo“-Bewegung heraus, die über Traumatisierungen bei den Spielenden geforscht haben. Intimitätskoordination ist, das ging auch aus der internationalen Tagung hervor, die wir ausgetragen haben, ein Politikum. Es geht um einen Kulturwandel.
Was haben
Kampfchoreographie und Intimitätskoordination gemeinsam?
Deutscher: Da gibt es ganz
wesentliche Überschneidungen. Aus meiner Perspektive als Kampfchoreographin
kann ich sagen, dass die gleichen Prinzipien schalten. Kommunikation ist
wesentlich, wir sprechen erst einmal mit allen und entwickeln gemeinsam eine
Szenerie. Ich habe zweitens ein Prinzip, das „Displacement of Target“ heißt.
Ich haue dir ja nicht ins Gesicht, sondern daneben. Das gleiche kann als Kuss
verwendet werden. Ich arbeite außerdem mit Perspektive, das heißt, ich habe eine
Sichtachse, auf der ich Dinge platzieren kann, je nachdem wie der Kamerawinkel
ist, die Einstellung, wo sich das Publikum befindet. Das sind schon mal
wesentliche Dinge. Außerdem nehme ich „echte“ Techniken und passe sie an
ästhetische Technik an, was sicher ist, was wiederholbar ist. Das ist das
choreographische Element: Man spielt mit künstlerischen Gesten, vielleicht
Zitaten von echter Intimität, und man baut sich etwas Neues daraus.
Federl: In beiden Bereichen können wir Geschichten ohne Worte, nur über Körper unterstützen. Die Schauspielenden erlauben, dass jemand in ihren privaten Raum eindringt, auch Berührungen, die für uns nicht so normal sind. Zum Beispiel einen Menschen zu küssen oder bei einem fremden Menschen ein simuliertes Würgen. Ich vergleiche das gerne mit Magie. Wir erzeugen die Illusion von Gewalt, um die Geschichten zu unterstützen, genauso wie wir die Illusion von Intimität mit diesen Werkzeugen erzeugen.
Deutscher: Es gibt natürlich immer Produktionen, die „on the edges“ arbeiten, wo man schaut, wo ist das Performative, wo löst man welche Grenze und Teile dieses Sicherheitsnetzes auf. Wenn ich mich aber in diesem Sicherheitsnetz befinde, habe ich auch die Möglichkeit, mich zurückzuziehen und meine Psyche zu schützen.
Federl: Es gibt Studien dazu, aus denen hervorgeht, dass unsere Körper nicht verstehen, dass es simuliert ist. Nehmen wir die Lippen. Da spielt sich eine ganze Menge ab. Wenn sich zwei Schauspielende in ihren Charakteren küssen, passieren im Körper ganz viele Dinge, gegen die man überhaupt nichts machen kann. Ich habe auch als Stuntman gearbeitet. Auch da stößt mein Körper Adrenalin aus, auch da komme ich in Stresssituationen. Die Abstraktion, die Franzy gerade erwähnt hat, die können wir mit unseren Werkzeugen zur Verfügung stellen, damit die Schauspielenden diese Emotionen nicht in ihren Körper nehmen und mit nach Hause tragen.
Das hört sich so an, als würde da die Schauspielkunst an ihre Grenzen stoßen. Es gibt ja Techniken, die eine Kontrolle des Körpers ermöglichen. Sei es psychisch oder physisch.
Deutscher: Ich glaube, wenn man in diesem „heightened state of emotion“ ist, dann hat man gegen die Chemie, die ausgeschüttet wird, wenig auszurichten. Da hilft die beste Schauspieltechnik nichts. Es passiert, dass erogene Zonen sichtbar werden, das heißt, die Brustnippel werden hart, es ist möglich, dass man Flüssigkeiten produziert, dass Erregungen entstehen, dass Adrenalin kickt. Das ist normal und das ist uns in der Intimitätskoordination und auch in der Kampfchoreographie allen klar. Und deswegen ist es völlig in Ordnung, darüber zu sprechen. Brauchst du was? Ich kann hier extra noch eine Binde reinkleben, dann ist es einfach nicht stressig für dich, weil es dazugehört. Da ist dann jemand mit Expertise dabei, der oder die dabei hilft, das so wenig schambehaftet wie möglich zu kommunizieren. Ich glaube nicht, dass es etwas mit Grenzen der Schauspielerei zu tun hat. Schlussendlich muss man sich über die Definitionen des Schauspielkörpers unterhalten, was möchte man reproduzieren, welche Schule wendet man an und zu welchem Zweck. Manche würden sagen, das ist die pure Verkörperung und deshalb ist es die eigentliche Schauspielkunst.
Federl: Wenn jemand eine besonders lustige oder traurige Szene spielt, dann werden diese Emotionen auch passieren. Wenn ich eine lustige Szene spiele, in der ich richtig gut drauf bin, dann fängt mein Körper auch an, Endorphine auszuschütten. Alle Schauspielkunst macht mit unserem Körper etwas. Das Wichtige in intimen Szenen ist, dazu zu kommen, dass es normal ist, wie unser Körper reagiert. Und zweitens, dass wir gemeinsam einvernehmlich Kunst schaffen, die mit wahnsinnigen Emotionen gefüllt ist, damit wir die Zuschauer erreichen. Denn das ist es ja, was wir am Ende wollen. Mit unseren Geschichten wollen wir Menschen berühren. Und es ist wichtig, dass die Akteure und Akteurinnen die Werkzeuge haben, um nicht die Kontrolle über ihre Handlungen zu verlieren.
Können
Sexszenen durch die Intimitätskoordination besser werden, so wie Kampfszenen
durch eine choreographische Unterstützung spannender oder dramatischer werden
können?
Deutscher: Ja. Mit absoluter
Sicherheit ist die Intimitätskoordination auch dafür da, dass man neue
künstlerische Visionen, die von Stereotypen weggehen, umsetzt. Um unsere
Kollegin Julia Effertz zu zitieren: Es muss nicht immer der intime Akt auf der
schleudernden Waschmaschine sein. Es gibt Stereotypen und Klischees, die immer
und immer wieder durch Kino und Serien wiederholt werden und dadurch auch in
eine Form von kulturellem Gedächtnis einmassiert werden, wo man denkt, so müsse
Sex sein.
Federl: Aus Gesprächen und persönlichen Erfahrungen weiß ich, dass man früher solche Szenen auch oft improvisiert hat. Was ganz viele Risiken birgt. Wenn es etwa um Einvernehmlichkeit geht. Wenn sie koordiniert werden, sind Sexszenen auf jeden Fall so, wie wir sie uns vorstellen. Wenn wir eine zumindest grobe dramaturgische Struktur in der Probenarbeit entwickeln, dann erzählen wir genau die Geschichte, die die beteiligten Künstlerinnen und Künstler gemeinsam erzählen wollen.
Inwiefern lernt man an Schauspielschulen Techniken, wie man sich bei Sex- oder anderen Intimszenen verhält? Auch was man da rein technisch machen kann, zum Beispiel Körperregionen abkleben?
Deutscher: Ein ganz wichtiger Punkt, an dem wir als Berufsverband dran sind. Das Interesse der Schulen nimmt zu. Wir gehen mit Intensivseminaren und Schulungen zu intimitätssensiblem Arbeiten an Hochschulen und auch an Schauspielhäuser und zu Produktionsfirmen. Wissenstransfer ist das A und O. Das Interesse steigt, zum Teil wegen des Drucks der Studierenden. Zum Teil auch, weil viele Wechsel an Hochschulen anstehen und die Schulen sich hinterfragen, auch durch Corona: Welche Formen von Spiel sind notwendig? Welchen Schauspielkörper sollen wir entwickeln?
Gibt es denn
schon die Möglichkeit, eine richtige Ausbildung in Intimitätskoordination zu
machen?
Federl: Wir bieten einzelne
Workshops an zur Weiterbildung, aber noch keine komplette Ausbildung. Am
besten, man sucht sich jemanden mit viel Erfahrung, zum Beispiel von IDC oder
Moving Body Arts in UK. Ich habe eine Ausbildung gemacht mit Safe Sets, einer
Organisation aus Südafrika, die aber auch Wurzeln in Großbritannien hat. Mir
ist immer ganz wichtig, dass sie ein Mentoring-Programm danach anbieten. Ich
finde es verantwortungsvoller zu sagen: Ich gebe dir diese Werkzeuge, und wenn
du dann später noch mal Fragen hast, kannst du dich nochmal bei mir melden oder
wir checken nochmal zusammen ein. Es ist ein sehr verantwortungsvoller Job, man
ist ja Head of Department als Intimitätskoordination beim Film. Wir wollen eine
Ausbildung anbieten, aber wir wollen, dass das auf stabilen Füßen steht. Die
Profis bei uns im Verband sind im Moment mit ihren Jobs und dem Entwickeln von
Richtlinien beschäftigt. Die haben gar nicht so viel Zeit, eine komplette
Ausbildung zu konzipieren und zu unterrichten und dann auch noch ein
Mentoring-Programm anzubieten. Wir bieten Plätze für Junioren und Juniorinnen
an, die hospitieren oder Fragen stellen können. Dafür muss man sich bewerben
und braucht gewisse Vorerfahrungen.
Deutscher: Wir sind gerade dabei, die ganzen Rollendefinitionen, Richtlinien und so weiter zu etablieren und auch durchzusetzen. Es ist ein Kulturwandelphänomen, das wir „on the go“ beschreiben müssen. Man muss gucken, dass es nicht so eine Art Yoga-Lehrer-Ausbildung wird, wo jeder kurz mal nach Bali fliegt und sagt: Ich mach’ das für zwei Wochen, jetzt bin ich mega erleuchtet. Und ich kann dieses Ding hier am Set und mach’ das. Intimitätskoordination ist wichtig, aber man muss auch verstehen, was die Arbeit dahinter ist.
Wie stehen die Chancen, dass
Intimitätskoordination bei Filmen verpflichtend eingesetzt wird?
Deutscher: Es gibt neue
Filmförderungsgesetze, die in den nächsten zwei Jahren in Kraft treten, das
heißt, die Chancen stehen gut. Um hier Standards zu setzen, setzen wir uns im
BIK intensiv für Richtlinien und Qualitätsstandards ein und führen Gespräche
und Verhandlungen mit Branchenverbänden, Filmakademien und Gewerkschaften.
Kulturwandel braucht Zeit: Wir sehen uns hier in der Wissensvermittlungsinstanz
und arbeiten verstärkt mit Stakeholdern zusammen, um diese Kulturposition in
Deutschland vollumfänglich zu installieren.