© Imago/S. Gabsch/ Future Image (Vicki Berlin und Ruben Östlund bei der Verleihung des 35. Europäischen Filmpreises am 10.12.2022 im Konzerthaus Harpa in Reykjavik)

Zur Verleihung der 35. Europäischen Filmpreise

Die Verleihung der 35. Europäischen Filmpreise in Reykjavik zeigte vor allem, dass in der Filmbranche noch einiges zu tun bleibt, um dem europäischen Gedanken zur Blüte zu verhelfen.

Veröffentlicht am
27. Januar 2023
Diskussion

Mit der Mehrfach-Prämierung von Ruben Östlunds „Triangle of Sadness“ hat die Europäische Filmakademie bei der Verleihung der 35. Europäischen Filmpreise am 10. Dezember wenig Mut bewiesen. Vom isländischen Gastgeber zwar durchaus mit Charme ausgerichtet, zeigte das Event vor allem, dass der europäische Gedanke in der Filmbranche immer noch nicht so wirklich angekommen ist.


Im Französischen gibt es eine Redewendung, die frei übersetzt auf Deutsch lautet: „Man nimmt dieselben und fängt wieder von vorne an.“ Nach diesem Motto vergaben die Mitglieder der Europäischen Filmakademie sehr uninspiriert gleich vier Hauptpreise an Ruben Östlunds Vulgär-Satire „Triangle of Sadness“, ähnlich wie 2017 an Östlunds „The Square“, der sogar sechs Preise bekommen hatte.

Nun ist Film immer Geschmackssache, und Mehrheitsentscheidungen einer Akademie muss man, ob man sie mitträgt oder nicht, anerkennen. Dennoch wirkt es mehr als zwiespältig, wenn man zusammenkommt, um die Vielfalt des europäischen Kinos zu feiern, sich am Ende dann jedoch eher für filmische Einfalt entscheidet. „Triangle of Sadness“ wurde bester europäischer Film, Ruben Östlund bester Regisseur und bester Drehbuchautor und Zlatko Buric für seine Leistung als russischer Kapitalist auch bester Darsteller.


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Es hätte verdientere Preisträger gegeben!

Völlig leer aus gingen die sehr viel innovativeren und komplexeren Filme „Close“ des Belgiers Lukas Dhont und „Holy Spider“ des in Dänemark lebenden iranisch-stämmigen Filmemachers Ali Abbasi. Gerade dem 31-jährigen Lukas Dhont mit seinem sehr persönlichen und wunderschönen zweiten Spielfilm hätte man die Auszeichnung als bester Regisseur gegönnt. Zartfühlend erzählt er in „Close“ von zwei 12-jährigen Jungs, die seit der Kindheit beste Freunde sind, aber deren Jungenfreundschaft auf die Probe gestellt wird, weil sie plötzlich als ein „Paar“ angesehen werden. Der in Gent lebende Belgier ist dabei ein sprachgewandter Europäer, der neben seiner Muttersprache Flämisch auch fließend Französisch und Englisch spricht. Sein Film erreichte in Belgien sensationelle 200.000 Zuschauer und zieht auf Festivals ein jüngeres Publikum an, dass sich Kinobetreiber und Verleiher so sehnlichst zurück in die Arthouse-Kinos wünschen. „Close“ schon fast demonstrativ zu ignorieren, bedeutet auch, dass die Mitglieder der Europäischen Filmakademie das junge Kino in Europa noch nicht gebührend würdigen.

Ein bisschen überbewertet: "Triangle of Sadness" (© Alamode Film)
Ein bisschen überbewertet: "Triangle of Sadness" (© Alamode Film)

Holy Spider“ wiederum ist ein verstörendes Gesellschaftsporträt über den fundamentalistisch erstarrten Iran und hätte mindestens den Preis für das beste Drehbuch oder die beste Hauptdarstellerin verdient gehabt. Der wie „Close“ oder „Triangle of Sadness“ ebenfalls in Cannes uraufgeführte politische Thriller porträtiert frei nach wahren Begebenheiten einen Familienvater als Serienmörder, der in der heiligen Stadt Maschhad in den Jahren 2000 und 2001 über 16 Prostituierte umbringt, weil sie für ihn „unrein“ sind. Gerade vor dem aktuellen Hintergrund der mutigen Proteste im Iran sieht man diesen „historischen“ Film mit ganz anderen Augen. Gezeigt werden eine korrupte, selbstgefällige Polizei, verlogene geistliche Oberhäupter und eine indoktrinierte Gesellschaft, die den Frauenmörder größtenteils sogar feiert.


Es mangelt an Zusammenhalt

Während auch die Regisseurinnen Carla Simón („Alcarràs“) und Marie Keutzer („Corsage“) leer ausgingen, erhielt immerhin die derzeit sehr angesagte Vicky Krieps für ihre originelle und eigenwillige Sisi-Verkörperung den Preis als beste Darstellerin. Sie war während der Preisverleihung live zugeschaltet und gesundheitlich angeschlagen. In einer etwas wirren Dankesrede thematisierte sie das Leid von vielen Frauen, ihre gesellschaftliche Marginalisierung, und gab zu, mit Preisen generell zu fremdeln. Immerhin ließ sich Vicky Krieps digital sehen, während die ebenfalls nominierten Kolleginnen Penélope Cruz oder Léa Seydoux durch komplette analoge wie digitale Abwesenheit glänzten. Physisch anwesend waren nur zwei der fünf nominierten Frauen: Meltem Kaptan für Andreas Dresens „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ und die im Exil lebende Iranerin Zar Amir Ebrahimi für „Holy Spider“.

Vicky Krieps als Sisi in "Corsage" (© Komplizen Film)
Vicky Krieps als Sisi in "Corsage" (© Komplizen Film)

Diese Nicht(be)achtung von Stars für den Europäischen Filmpreis hat leider Tradition und verdeutlicht das Problem der Auszeichnung. Während man gerne Sonntagsreden über den europäischen Geist und das Verbindende in der Kultur hält, mangelt es in der Filmbranche am Zusammenhalt und Engagement für die gemeinsame Sache. Man ist zwar bereit, aus finanziellen Gründen viele europäische Koproduktionen zu ermöglichen, spätestens beim Verleih beziehungsweise der Herausbringung scheitert der europäische Gedanke dann aber oft plötzlich am Geld, wie auch der neue Geschäftsführer der Europäischen Filmakademie, der Niederländer Matthijs Wouter Knol, kritisch in Interviews anmerkt.


Ein Award ohne Strahlkraft

Nach 35 Jahren ist es dem Europäischen Filmpreis trotz vieler Versuche und „Re-launches“ immer noch nicht gelungen, wirklich populärer und bekannter zu werden. Die Nominierten sucht man sich hauptsächlich aus den Preisträgern von Cannes und Berlin zusammen, eigene Akzente werden kaum gesetzt. Verblüffend ist vor allem, wie das französische Kino in diesem Jahr außen vor blieb. Das Land mit dem wichtigsten und größten europäischen Markt, wo der Besucherrückgang im Vergleich zu Vor-Covid-Zeiten „nur“ 30 Prozent beträgt, war gerade einmal mit einer Nominierung für Léa Seydoux für Mia Hansen-Løves „An einem schönen Morgen“ vertreten. Ein überaus erfolgreicher Autorenfilmer wie Cédric Klapisch, der mit „Das Leben ein Tanz“ auch beim Publikum mit 1,4 Millionen Zuschauern allein in Frankreich reüssiert, gilt weder Festivaldirektoren noch Akademiemitgliedern als nominierungswert.

Und so kann man sich nur wünschen, dass die positiven Impulse aus der Preisverleihung in Reykjavik mitgenommen werden. Zwei lokale Stars führten so kurzweilig wie es nur ging durch die mit drei Stunden immer noch überlange Veranstaltung. Einige der Witze saßen, wie zum Beispiel das Bonmot: „Das ist die einzige Preisverleihung, bei der alle Filme ‚foreign‘ sind.“ Im bekanntesten Arthouse-Kino der Stadt, dem Bioparadis, stellte sich am Sonntagnachmittag der italienische Regisseur Marco Bellocchio, der mit dem Preis für „Innovatives Storytelling“ ausgezeichnet wurde, dem Publikum. Gezeigt wurden zwei Episoden seiner 6-teiligen Fernsehserie „Esterno notte“ über den Mord an Aldo Moro aus sechs verschiedenen Blickwinkeln. Der Kinosaal war leider nicht bestens besucht, aber auch nicht leer. Dafür brillierte der Maestro dann im anschließenden Publikumsgespräch. Genau dort muss die Europäische Filmakademie weiter nachlegen: die prämierten Filme müssten Wochen vor der Preisverleihung in europäischen Metropolen in Anwesenheit ihrer Schöpfer und Stars in den Kinosälen gezeigt werden. Nur durch mehr Sichtbarkeit und Vielfalt und auch ein Bekenntnis zum populären Publikumsfilm kann der europäische Filmpreis mehr erreichen, als immer nur im Schatten der „Oscars“ zu stehen.

Eine Übersicht der 35. Europäischen Filmpreise findet sich hier.

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