Mit 9 „Lolas“ war „Lieber Thomas“, Andreas Kleinerts Beschäftigung mit dem Schriftsteller, Dissidenten und Filmemacher Thomas Brasch, der große Gewinner bei der Verleihung der Deutschen Filmpreise 2022. Die von Katrin Bauerfeind moderierte Gala war kein Glanzstück, kündete aber immerhin vom vorsichtigen Optimismus der deutschen Filmbranche nach Corona.
Andere Preisverleihungen sind einfach glamourös, der Deutsche Filmpreis ist obendrein noch nachhaltig. Bereits seit 2019 wird Nachhaltigkeit als wichtige Säule der Deutschen Filmakademie definiert, neben ihrer Förderung des traditionellen Filmschaffens. Und dass das Bemühen um Umweltbewusstsein nicht bloß ein hehres Ziel ist, belegt pünktlich zur 72. Verleihung der Filmpreise nunmehr ein offizielles Zertifikat. Nach zwei Jahren, in denen Organisatoren, Preisträger, Filmwelt und Cineasten froh sein konnten, dass die „Lola“ im Schatten von Corona überhaupt vergeben wurde, war es der Akademie offensichtlich ein Anliegen, ihre Arbeit in Sachen Nachhaltigkeit in ein besonderes Licht zu stellen – und so begann der Abend mit Gästen, die nicht in der Luxuslimousine, sondern im Elektrobus oder mit dem Fahrrad am roten Teppich des Berliner Palais am Funkturm eintrafen.
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Etwas vom Geist der Wiederverwertung konnte man dann im Folgenden auch bei der Preisgala spüren. In der Wahl der Preisträger bleibt sich die Filmakademie auch unter dem neuen Duo an der Spitze der Filmakademie, Alexandra Maria Lara und Florian Gallenberger, treu. So hat der Deutsche Filmpreis seit einigen Jahren Filme über gequälte, früh verstorbene Künstlerinnen und Künstler ins Herz geschlossen, das hat bereits 2018 zu Preisregen für das Romy-Schneider-Biopic „3 Tage in Quiberon“ und 2019 für „Gundermann“ über den ostdeutschen Liedermacher Gerhard Gundermann geführt. Auch der große Gewinner des Jahres 2022 gehört in diese Reihe, wie „3 Tage in Quiberon“ ein Schwarz-weiß-Drama und wie „Gundermann“ ein Film, der (größtenteils) in der DDR spielt: „Lieber Thomas“, Andreas Kleinerts zweieinhalbstündige Beschäftigung mit dem Schriftsteller, Dissidenten und Filmemacher Thomas Brasch, konnte am Ende neun „Lola“-Trophäen auf sich vereinen.
Verdienter Preisregen fürs „Lieber Thomas“-Filmteam
Der Abend wurde deswegen
auf der Bühne über weite Strecken eine Feier dieses einen Films, zumal etliche
der Ausgezeichneten wie Kameramann Johann Feindt, Editorin Gisela Zick und Setdesignerin Myrna Drews seit vielen Jahren mit Andreas Kleinert zusammenarbeiten und dementsprechend ihren Dank ausdrückten.
Kleinert, der im Rennen um die beste Regie den Routinier Andreas Dresen
und den Newcomer Sebastian Meise schlug, hatte nach anderthalb
Jahrzehnten ambitionierter Fernseharbeiten bei „Lieber Thomas“ erstmals seit
„Freischwimmer“ (2007) wieder fürs Kino gearbeitet – diese Comeback-Geschichte
dürfte bei der Entscheidung der Akademie ebenso eine Rolle gespielt haben wie die
formale Brillanz der Gewerke, das wendungsreiche, fast fünf Jahrzehnte und
zahlreiche Figuren umspannende Drehbuch von Thomas Wendrich
(ebenfalls mit einer „Lola“ geehrt) und die treffsicher besetzten Schauspieler.
Auch von denen konnten mit Jella Haase (als Nebendarstellerin für die verblüffend authentische Interpretation von Katharina Thalbach) und Hauptdarsteller Albrecht Schuch an diesem Abend zwei über „Lola“-Gewinne jubeln. Schuch gewann damit nach der Doppelauszeichnung 2020 für „Systemsprenger“ und „Berlin Alexanderplatz“ bereits die dritte „Lola“ und muss endgültig als einer der wandlungsfähigsten deutschen Darsteller des Gegenwartskinos gelten.
Was nicht heißt, dass nicht auch Franz Rogowski den Preis für seine einfühlsame Darstellung in „Große Freiheit“ verdient gehabt hätte, in dem der Schauspieler einmal mehr vor allem mit seinem Augen- und Mienenspiel Großartiges leistet, um die versteckten Gefühle eines homosexuellen Mannes zu verdeutlichen, der über zwanzig Jahre wegen seiner sexuellen Ausrichtung von der Justiz verfolgt wird. Für „Große Freiheit“ blieb es am Ende beim Preis fürs Maskenbild und dem dritten Preis in der Hauptkategorie; dazwischen platzierte sich Dresens „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“, der sich bei dem Drama um den Kampf der Mutter des Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz für dessen Freilassung auch einmal mehr als starker Schauspielerregisseur bewährte. Die Stand-up-Komikerin Meltem Kaptan und der erfahrene Alexander Scheer als Rabiye Kurnaz’ Anwalt reizen die Eigenheiten ihrer Charaktere (überschäumende Herzlichkeit beziehungsweise Beamtentrockenheit in Reinkultur) bis an die Karikatur-Grenze aus, gewinnen ihnen jedoch gerade dadurch ihre Menschlichkeit ab; die Preise als Hauptdarstellerin und Nebendarsteller rundeten vier hochverdiente Auszeichnungen in den Schauspieler-Kategorien ab.
Aufgekratzt: Moderatorin Katrin Bauerfeind
Nicht alle Entscheidungen des Abends waren ebenso glücklich. Die Konzentration auf einen Hauptgewinner mit zwei klaren zweiten Siegern bescherte der Gala eine gewisse Einseitigkeit, die nur gelegentlich unterbrochen wurde. Zumal auch die Laudationes und die aufgekratzte Moderation von Katrin Bauerfeind sich eher im Mittelfeld, mit leichter Tendenz nach unten bewegten. Immerhin: Den Preis für die Filmkomponistin Annette Focks, die für die Musik zur Episodenkomödie „Wunderschön“ ihre erste „Lola“ erhielt, muss man schon allein wegen seiner Überfälligkeit begrüßen. Unter dem Radar liefen einmal mehr Dokumentarfilm- und Kinderfilmkategorie, im ersten Fall, weil die Betonung des Wahrheitscharakters von Dokumentarfilmern sich mittlerweile Jahr für Jahr in der Laudatio dieser Rubrik findet, im zweiten Fall, weil der Preisträgerfilm „Der Pfad“ eher als konventionelle Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg gelten muss und mit der Kinder-Fantasy-Adaption „Die Schule der magischen Tiere“ nur einen, gleichfalls nicht herausragenden, Konkurrenten hatte.
Überhaupt machte die Gala klar, dass die alten Fragwürdigkeiten bei der „Lola“-Vergabe noch immer bestehen, auch nach Corona, nach dem Wechsel im Amt der Staatsministerin für Kultur und nach dem erneuten Wechsel an der Spitze der Filmakademie. Doch immerhin verfiel der Abend nicht in eine Selbstbeweihräucherung der Filmbranche, bei der die Zwischentöne ganz außen vor blieben: Der Kameramann Jürgen Jürges nahm nach 50 Jahren im Filmgeschäft seinen Ehrenpreis mit einer Rede entgegen, die von der Hoffnung kündete, drängende Probleme wie den Klimawandel und die Aufrüstungspläne im Schatten des Kriegs in der Ukraine in den Griff zu bekommen. Zudem warb er dafür, mit engagierten Filmen und Geschichten die Menschen wieder fürs Kino zurückzugewinnen, woran sich auch andere Filmschaffende anschlossen.
Vorsichtiger Optimismus
Die Sorge um den schleppenden Neustart nach den Corona-Zwangsschließungen steckt der deutschen Filmbranche unverkennbar noch in den Knochen, vorsichtiger Optimismus und Appelle häuften sich daher bei der Gala. Auch „Die Schule der magischen Tiere“, im letzten Jahr Deutschlands stärkster Film an den Kinokassen, wurde dabei zur Vorlage für eine utopische Formulierung: „Das Kino selbst ist doch die magischste Schule, aus der wir im besten Fall verwandelt hervorgehen.“ Schöne Worte, die hoffentlich auch bei den Zuschauern Früchte tragen.
Alle Auszeichnungen beim Deutschen Filmpreis 2022
Bester Spielfilm in Gold: Lieber Thomas
Bester Spielfilm in Silber: Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush
Bester Spielfilm in Bronze: Große Freiheit
Bester Dokumentarfilm: The Other Side of the River
Bester Kinderfilm: Der Pfad
Beste Regie: Andreas Kleinert für „Lieber Thomas“
Bestes Drehbuch: Thomas Wendrich für „Lieber Thomas“
Beste weibliche Hauptrolle: Meltem Kaptan in „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“
Beste männliche Hauptrolle: Albrecht Schuch in „Lieber Thomas“
Beste weibliche Nebenrolle: Jella Haasein „Lieber Thomas“
Beste männliche Nebenrolle: Alexander Scheer in „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“
Beste Kamera / Bildgestaltung: Johann Feindt für „Lieber Thomas“
Bester Schnitt: Gisela Zick für „Lieber Thomas“
Bestes Szenenbild: Myrna Drews für „Lieber Thomas“
Bestes Kostümbild: Anne-Gret Oehme für „Lieber Thomas“
Bestes Maskenbild: Heiko Schmidt, Kerstin Gaecklein, Roman Braunhofer für „Große Freiheit“
Beste Filmmusik: Annette Focks für „Wunderschön“
Beste Tongestaltung: Jonathan Schorr, Dominik Leube, Gregor Bonse, John Gürtler für „Niemand ist bei den Kälbern“
Beste visuelle Effekte: Dennis Rettkowski, Markus Frank, Tomer Eshed für „Die Schule der magischen Tiere“
Ehrenpreis des Deutschen Filmpreises für herausragende Verdienste um den deutschen Film: Jürgen Jürges
Bernd Eichinger Preis: Komplizen Film
Besucherstärkster Film: „Die Schule der magischen Tiere“ von Gregor Schnitzler