Die Ukraine im Jahr 2025: Der Krieg mit Russland liegt ein Jahr zurück, zerstörte Städte und Regionen werden nach und nach von den Trümmern befreit. Zu den Hinterlassenschaften gehören unzählige Tote auf beiden Seiten, die schnell verscharrt wurden und bislang kein richtiges Grab finden konnten. Der nach der Schließung eines Stahlwerks arbeitslos gewordene Sergiy meldet sich als Freiwilliger zu einem Exhumierungskommando. In einem durch Bomben kontaminierten und offiziell als unbewohnbar deklarierten Gebiet sucht er nach menschlichen Überresten, um diese zu bergen, zu identifizieren und endlich würdevoll zu bestatten. Inmitten des Grauens geschieht das Unvorstellbare: die Liebe keimt auf und setzt Zeichen der Hoffnung.
Mit „Atlantis“ hat
Regisseur Valentyn Vasyanovych 2020 eine beklemmende Dystopie
inszeniert, die plötzlich zur realistischen Vision einer Zeit nach dem gerade
stattfindenden Gewaltexzess geworden ist. Sein Film mutet den Zuschauern
einiges zu. Er ist dabei höchst artifiziell inszeniert; Bezüge zu „Stalker“
von Andrej Tarkowskij und dessen geheimnisvoller „Zone“ drängen sich auf. Vasyanovych
gelingt eine ganz unprätentiöse Gratwanderung zwischen Hommage und ästhetischer
Eigenständigkeit, nicht zuletzt durch die Besetzung mit Laien. Entlassene
Stahlarbeiter spielen entlassene Stahlarbeiter, ehemalige Soldaten ehemalige
Soldaten. Mehrere Szenen wurden mit einer Infrarot-Kamera gedreht, die das
Geschehen immer wieder in einen flirrenden Kunstraum transformieren. Obwohl
„Atlantis“ umjubelte Aufführungen beim Filmfestival in Venedig erlebt hat und
als ukrainischer Beitrag für das Rennen um den „Oscar“ nominiert wurde, fand
der Film in Deutschland keinen Verleiher; er war nur in ausgewählten
Einzelveranstaltungen und beim Streaming-Anbieter Mubi zu sehen.
Das Internationale Filmfestival in Vilnius wählte das Werk jetzt für eine Reihe aus, die am Tag vor der eigentlichen Eröffnung des Filmfestes zur Aufführung kam. An diesem 23. März 2022 wurden aus Anlass des russischen Überfalls vier Wochen zuvor sechs aktuelle Produktionen aus der Ukraine gezeigt. In dem kleinen, in der Altstadt von Vilnius gelegenen Programmkino „Pasaka“ drängten sich die Zuschauer - teils aus Neugierde, vor allem aber aus dem Bedürfnis heraus, ihre Verbundenheit zu zeigen und konkrete Unterstützung zu leisten. 250 Zuschauer zahlten insgesamt rund 1500 EUR Eintritt. Alle Einnahmen gingen direkt an Hilfsfonds.
Der Krieg bedroht die ukrainische Filmkultur der Ukraine
Die Filme dieses „Ukrainischen Kinotages“ in Vilnius zeigten einmal mehr die Potenzen des jungen ukrainischen Kinos. Und sie führten bitter vor Augen, dass dieses gerade im Entstehen begriffene nationale Filmwunder mitten im Aufblühen brutal unterbrochen wird. Schon jetzt kann der Aufschwung, der sich nach dem „Euro-Maidan“ ab 2013 auf dem Gebiet der Kultur und insbesondere des Films vollzogen hat, als „Kyjiwer Frühling“ bezeichnet werden. Dass er nicht wie der „Prager Frühling“ als kurzes, tragisch endendes Zwischenspiel in die Geschichte eingeht, liegt auch in unser aller Verantwortung.
Einer der ersten,
aufsehenerregenden Beiträge dieser „Neuen Welle“ war 2014 „The Tribe“
von Myroslaw Slaboschpyzkyj (für den Valentyn Vasyanovych die Kamera führte).
Das ganz ohne Dialoge auskommende, in nur wenigen, extrem langen und exzellent
durchchoreografierten Plansequenzen aufgelöste Drama über Gehörlose war ein
kraftvolles Gleichnis auf die Spätwirkungen des postsowjetischen Erbes. Seither
realisierten die Studios in Odessa und Kiew zahlreiche weitere brisante, sowohl
dokumentarische als auch fiktionale Filme. Daneben trugen frei produzierte
Arbeiten oder europäische Co-Produktionen zu dieser bislang wenig beachteten
kinematografischen Renaissance bei.
Beim Festival in Vilnius
faszinierten neben „Atlantis“ vor allem „Mariupolis“
und „Bad
Roads“. In vier Kapiteln führt der Episodenfilm „Bad Roads“ in ein
Niemandsland voller Untiefen und Katastrophen. Als realer Hintergrund eines
sozialen „Limbo“-Reiches stehen die Grenzregionen zwischen den euphemistisch
„Volksrepubliken“ genannten Marionetten-Regime in Lugansk und Donezk und dem
ukrainischen Kernland. Längst ist die Zivilbevölkerung zum Spielball imperialer
Machtfantasien geworden. Oft ist unklar, wer Freund und Feind, wer Täter oder
Opfer ist. Bis in die kleinsten sozialen Einheiten hinein sind elementarste
menschliche Zusammenhänge erodiert.
Regisseurin Natalija Woroshbyt (Jahrgang 1975) gilt als eine der begabtesten ukrainischen Theater- und Filmkünstlerinnen; sie hat auch schon am Berliner Maxim-Gorki-Theater und am Royal Court Theatre in London gearbeitet. Am 24. Februar 2022 befand sie sich in der ostukrainischen Stadt Myrhorod, drehte hier an den letzten Szenen ihres neuen Spielfilms „Demon“. Dann fielen die Bomben. In ihrem neuen Film geht es um eine komplizierte Liebesgeschichte zwischen einem jungen Russen und einer zwanzig Jahre älteren Ukrainerin. Das ungleiche Paar weiß nicht, was sie eigentlich zusammenhält. Dennoch finden die beiden immer wieder zueinander.
Kein Platz für die künstlerischen Alibis der Putin-Diktatur
Als in den Morgenstunden des 24. Februar der Krieg begann, befand sich das Internationale Filmfestival Vilnius in der finalen Vorbereitungsphase. Es war klar, dass auf die dramatische Entwicklung umgehend reagiert werden musste. Zunächst schloss man sich den Aufrufen zum Boykott russischer Staatskunst an. Filme, die mir Geldern des Moskauer Kulturministeriums entstanden waren, wurden kurzfristig ausgeschlossen. Ein harter Schritt, denn davon waren auch die finnisch-russische Co-Produktion „Abteil Nr. 6“ von Juho Kuosmanen und „House Arrest“ von Aleksej German Jr. betroffen, zwei Werke, die in keiner Weise russische Machtallüren unterstützen.
Abgesehen davon, dass demagogische
Filme ohnehin gar nicht erst eingeladen worden wären, ging es bei dem Embargo
vorrangig um eine Rote Linie. „Jetzt nicht“, besagt dieses Veto. Jetzt, im
Augenblick der offen ausgebrochenen Aggression, sollte keinem mit russischen
Staatsgeldern entstandenen Film ein Forum gegeben werden. Keinem ukrainischen
Filmemacher sollte zugemutet werden, neben den künstlerischen Alibis der
Putin-Diktatur als Statist auftreten zu müssen. Später passen diese Filme sicher
wieder in den internationalen Kulturaustausch. Im
Zeichen des Krieges passen sie nicht; zumindest nicht im Nachbarland des
Aggressors.
Insgesamt schlägt dem ukrainischen
Volk seitens der Litauerinnen und Litauer eine ungemeine Welle von Empathie und
Solidarität entgegen. Das kleine Land im Baltikum schwimmt derzeit in einem
einzigen gelbblauen Farbenmeer, die ukrainischen Landesfarben sind omnipräsent.
Sie prangen auf riesigen Plakaten an der Autobahn, sind überall verteilt im
Stadtbild von Vilnius, leuchten von Fassaden und in Schaufenstern. Nahezu alle
öffentlichen sowie zahllose private Gebäude und Fahrzeuge sind beflaggt. Die
Farben finden auch Einzug in die Alltagskleidung der Passanten, werden auf
T-Shirts, Schals oder Ansteckern getragen.
Eine Welle von Empathie und Solidarität
Um diese Seelenverwandtschaft besser verstehen zu können, hilft ein Blick in die jüngere und auch die weiter zurückliegende Vergangenheit. Denn traditionell sind die Völker Litauens und der Ukraine eng verbunden. Fast schon mythische Dimension kommt in diesem Zusammenhang dem litauisch-polnisch-ukrainischen Großreich zu, das sich im Mittelalter vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer erstreckte und im 16. Jahrhundert zwischen den rivalisierenden Großmächten Preußen und Russland zerrieben wurde. In unmittelbar abrufbarer Erinnerung sind hingegen die Verbindungen, die von der unfreiwillig sowjetischen Zeit herrühren. Während Litauen infolge des Ersten Weltkriegs zwischen 1918 und 1940 die Eigenstaatlichkeit behaupten konnte, geriet die Ukraine frühzeitig unter kommunistische Herrschaft. Im März 1990 war Litauen dann die erste der Teilrepubliken der UdSSR, die sich von der Herrschaft des Kremls befreite und zur Unabhängigkeit zurückkehrte.
Seither hat das kleine Land mit seinen knapp drei Millionen Einwohnern einen ungeheuren Modernisierungsschub vollzogen. Litauen streifte offensiv die realsozialistische Vergangenheit ab. Der Weg der Ukraine zur Demokratie war dagegen viel langwieriger und schwieriger. Der Versuch des Landes, sich endgültig aus den Fängen Russlands zu lösen, wird durch Putins Truppen gerade auf brachiale Weise bestraft. Ausgang ungewiss. Die Nähe der damit verbundenen Bedrohung ist in Vilnius viel unmittelbarer zu spüren als in Deutschland.
Litauen und die Ukraine teilen heute keine gemeinsame Grenze. Menschen, die aus dem Kriegsgebiet flüchten, müssen sich im Uhrzeigersinn über Polen zurück Richtung Nordosten bewegen, um in die Hauptstadt Vilnius zu gelangen. Dies erklärt, warum nach Beginn der russischen Aggression zunächst relativ wenige Ukrainerinnen und Ukrainer das kleine Land als Ziel wählten. Diese Quote steigerte sich Ende März von Tag zu Tag. Kurz vor der Eröffnung des Filmfestivals waren ungefähr 30.000 Menschen angekommen. Sie fanden herzliche Aufnahme.
Ringen um eine europäische Zukunft
Das Internationale Filmfestival Vilnius gibt es seit 1995. Es handelt sich um ein typisches Kind der Unabhängigkeit. Sein Name „Kino Pavasaris“ (Kino-Frühling) spricht noch vom damaligen Gefühl des Aufbruchs und der Hoffnung. Bis 2017 bot das Festival unter der Überschrift „New Europe, New Names“ eine eigenständige Sektion mit Beiträgen aus dem einstigen Einflussbereich Moskaus. Hier liefen die interessantesten aktuellen Produktionen, etwa aus Polen, Russland oder vom Balkan. Um die Orientierung Richtung Westen zu betonen, wurde dieses wichtige Angebot leider wieder abgeschafft: man wollte mit dem aktuellen Programm nicht länger an die einstigen, unfreiwilligen Zusammenhänge anknüpfen, wollte stattdessen offensiver auf die europäische Zukunft verweisen. Mit dem spontan organisierten „Ukrainischen Tag“ vor der eigentlichen Eröffnung besann sich das Festival nun auf die einstige Notgemeinschaft mit den anderen, innerhalb der vormaligen UdSSR unterdrückten Völkern. Wohl auch deshalb, weil die eigene Bedrohung plötzlich wieder in unheimliche Nähe rückt.
„Kino Pavasaris“ ist inzwischen vor allem zu einem Publikumsfestival geworden. Zehn Tage lang bekommen die cineastisch interessierten Einwohner von Vilnius (in diesem Jahr zusätzlich auch im knapp hundert Kilometer entfernten Kaunas, aktuell eine der Europäischen Kulturhauptstädte) Gelegenheit, Filme zu sehen, die hier normalerweise regulär nie ins Kino gelangen würden. Wirtschaftlich bietet Litauen einen viel zu kleinen Markt, um anspruchsvolle Autorenfilme herauszubringen. Allein schon Untertitelung und Bewerbung würden sich kaum amortisieren. Im Rahmen des Festivals aber wird auch komplizierten oder wenig spektakulären Filmen ein hohes Maß an Neugierde entgegengebracht. Zur Eröffnung wurde vor begeistertem Publikum so „First Cow“ von Kelly Reichardt gezeigt.
Ein Festival im Schatten des Kriegs
Die Eröffnung stand ganz im Zeichen des Kriegsgeschehens und floss über vor Emotionen. Als Ehrengast stand die Theater- und Fernsehschauspielerin Karina Chernyavskaya auf der Bühne, die gerade aus Kiew nach Vilnius geflohen war. Sie berichtete von ihren Erlebnissen, den Raketen und Bomben, ihren Nächten im Keller und von der Entwurzelung durch die Flucht. Die Zuschauer erhoben sich von den Plätzen und brachten ihre Anteilnahme durch Zurufe, Applaus und Tränen zum Ausdruck. Spürbar war dabei auch ein gewisses Maß an Hilflosigkeit sowie die Frage, was ein Filmfestival denn schon gegen die brachiale Gewalt eines Krieges ausrichten kann.
Es zeigte sich dann aber, dass es durchaus Konzepte für konkrete Unterstützung gibt. Denn es blieb in Vilnius nicht bei Ergriffenheit und Gesten. Neben der Organisation weiterer Spendenaktionen machten sich die Organisatoren sofort an die Einbindung von nach Litauen Geflohenen in den laufenden Festivalbetrieb. Für Familien wurden kostenlose Kindervorstellungen angeboten. In der Ukraine begonnene, nun kriegsbedingt abgebrochene Projekte sollen, soweit dies möglich ist, hier abgeschlossen werden. Dies betrifft auch „Demon“, die jüngste Arbeit von Natalija Woroshbyt.
Ein Schock: Der Tod von Mantas Kvedaravičius
So blieb der Krieg Russlands gegen die Ukraine das gesamte Festival über präsent. Am letzten Tag erreichte die Organisatoren und das Publikum die schockierende Nachricht vom gewaltsamen Tod des litauischen Regisseurs Mantas Kvedaravičius (Jahrgang 1976). Der Schöpfer des am Vorabend der Eröffnung gezeigten Dokumentardramas „Mariupolis“ (Premiere auf der Berlinale 2016) hielt sich für Dreharbeiten erneut am Asowschen Meer auf. Die seit Wochen belagerte Stadt wurde zu seinem Schicksalsort. Die genauen Todesumstände sind bislang nicht geklärt. Erst hieß es, sein Wagen sei von einer Rakete getroffen worden. Später verbreiteten sich Nachrichten, dass der Künstler als Geisel genommen und nach Misshandlungen ermordet worden sei. Der Schock für die Veranstalter und die Öffentlichkeit war unbeschreiblich. Zunächst konnte nur mit Trauer und Wut und mit einer Schweigeminute reagiert werden. Selten schob sich die politische Realität derart drohend über den vermeintlich routinierten Ablauf eines Filmfestivals.