Am 4. März 1922 wurde Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu“ uraufgeführt, die erste Verfilmung von Bram Stokers "Dracula". In dem Stummfilm-Klassiker verkörpert der Vampir die Allmacht des Todes. Murnaus traumatische Kriegserlebnisse gingen ebenso in den Film ein wie das Massensterben an der Spanischen Grippe. Nach zwei Jahren Covid-Pandemie und ausgerechnet am Beginn eines neuen Kriegs in Europa feiert der Horrorfilm sein 100. Jubiläum.
Während der sieben Jahre, in denen der Roman „Dracula“ entstand, wurde das Kino geboren. Francis Ford Coppola verknüpft in seiner multiperspektivischen Verfilmung „Bram Stoker’s Dracula“ (1992) die Gier des Blutsaugers mit der Schaulust des frühen Filmpublikums. Während Gary Oldman sich als faustisch verjüngter Graf mit Hipster-Bärtchen an die zwischen Erschauern und Entzücken unentschiedene Mina (Winona Ryder) heranmacht, laufen im Hintergrund Filmprojektionen. Das Ganze spielt sich im viktorianischen London ab. Ein Kinosaal ist es noch nicht, eher ein Varieté, in dem sich der Vampir und die junge Lady gefährlich näherkommen. Über die Leinwände huschen erotische Szenen und die Aufnahme eines vorbeifahrenden Zuges, täuschend ähnlich dem, den die Gebrüder Lumière 1896 in La Ciotat auf Nitrofilm bannten. Bei der Uraufführung in Paris soll der Anblick der heranrasenden Lok die Zuschauer in die Flucht getrieben haben. Das ist wahrscheinlich übertrieben, aber der mediale Schock muss groß gewesen sein – die Gewalt der geisterhaft animierten Dinge. Wenn sich auch kein Fahrtwind rührt, stellen sich die Nackenhaare trotzdem auf.
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...und nähren sich von deinem Blut"
Auch schlichte Dinge können auf der Leinwand ungeheuerlich wirken. Zu den stärksten Momenten in „Nosferatu– Eine Symphonie des Grauens“ zählt jener, in der das Schiff mit dem Vampir im Hafen ankommt. Die feste Einstellung zeigt eine harmlose Hafenansicht von Wismar, das als Drehort für das fiktive Wisborg diente, mit der Marienkirche im Hintergrund. Langsam schiebt sich der Schoner ins Bild. Das sagt: Der Tod kommt in die Stadt. „Nosferatu“ hat den Expressionismus schon hinter sich gelassen, ist aus den irreal bemalten Studiokulissen des „Cabinet des Dr. Caligari“ ins Freie gezogen. Gedreht wurde neben Wismar auch in Lübeck, Rostock, auf Sylt und in den Karpaten. Das Unheimliche ist Teil der wirklichen Welt. Einzig Graf Orlok, der Vampir, sticht als Fremdkörper heraus: Rattenzähne, Fledermausohren, Hände wie bewegliche Alraunenwurzeln mit langen Krallen dran. Aber Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau, dessen Kamera hier noch statisch und nicht „entfesselt“ ist wie zwei Jahre später in „Der letzte Mann“ (1924), geht mit Nahaufnahmen sparsam um. Aus der Distanz wirkt Orlok umso schrecklicher. Und natürlich als buckliger Schatten, der im Finale die Treppe zum Schlafzimmer der Heldin hinaufschleicht. Als Schattenwesen bleibt ihm keine Tür verschlossen.
„Nosferatu“ zeigt, dass Filme doch etwas anhaben können. Nicht körperlich, aber seelisch. „Nosferatu – Tönt dies Wort Dich nicht an wie der mitternächtige Ruf eines Totenvogels. Hüte Dich es zu sagen, sonst verblassen die Bilder des Lebens zu Schatten, spukhafte Träume steigen aus dem Herzen und nähren sich von Deinem Blut.“ Mit dieser Ermahnung auf einer aufgeschlagenen Buchseite beginnt der Film.
Die Natur als Refugium des Übernatürlichen
„Nosferatu“ wurde auf Umwegen zum Klassiker. Die Uraufführung im Marmorsaal des Berliner Zoologischen Gartens am 4. März 1922 fand im Rahmen eines opulenten Kostümballs statt. Die Kritiken waren durchwachsen. Hellsichtig lobte immerhin Béla Balázs die Fokussierung des Films auf die Natur; der Film sei deshalb so wirkmächtig, „weil die stärkste Ahnung des Übernatürlichen gerade aus der Natur zu holen ist.“ Die Chance, ein großes Publikum zu erreichen, blieb dem Film jedoch versagt. Zum Konkurs der Produktionsgesellschaft Prana, deren einziger Film „Nosferatu“ blieb und der dann auch noch gepfändet wurde, kam überdies die Klage der Witwe von Bram Stoker. Drehbuchautor Henrik Galeen war dem Plot von Stokers „Dracula“-Roman weitgehend gefolgt. Eine klare Urheberrechtsverletzung. 1925 entschied ein Berliner Gericht in letzter Instanz, dass das Negativ und alle Kopien vernichtet werden müssen. Was nicht gelang, weil der Film bereits im Ausland im Umlauf war.
Bis „Nosferatu“ auf Betreiben des Filmmuseums München 1981 erstmals rekonstruiert wurde, geisterten verschiedene Versionen mit unterschiedlichen Titeln herum. Eine französische Schnittfassung begeisterte Ende der 1920er- die Surrealisten um André Breton. Es waren die fließenden Übergänge zwischen Alltag und Traum, die Breton für den Film einnahmen. „Kaum hatte Hutter die Brücke überschritten, da ergriffen ihn die unheimlichen Gesichter, von denen er mir oft erzählt hat“, wird in einem Zwischentitel berichtet. Das Bild dazu ist die profane Holzbrücke über einem Gebirgsbach, die der junge Hutter (Gustav von Wangenheim) auf dem Weg zum Grafenschloss überschreitet. Das Unheimliche erwächst der Fantasie des Publikums, und das ist in „Nosferatu“ nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Oberflächlich betrachtet weicht der Plot kaum von der Vorlage ab. Der junge Mitarbeiter eines Häusermaklers, Thomas Hutter (im Buch: Jonathan Harker) bricht aus der friedlichen Biedermeierwelt des Hafenstädtchens nach Transsylvanien auf, um mit dem Grafen Orlok (Max Schreck – Dracula) über den Ankauf von Grundbesitz in Wisborg (London) zu verhandeln. Hutter wähnt sich im Karpatenschloss bald wie ein Gefangener. Die drei schönen Vampirinnen, die den jungen Mann bei Stoker zum Anbeißen finden, tauchen im Film nicht auf. Dass der unheimliche Graf Hutter „mein Liebwertester“ nennt, und dieser – anders als im Buch, wo Harker unversehrt bleibt – mit Bissspuren am Hals aus dem Schlaf erwacht, ist als Reflex auf Murnaus Homosexualität interpretiert worden. Dessen offenbar bisexuelles und überaus melancholisches Monster – darin der haarigen Märchen-Bestie in Jean Cocteaus „La Belle et la Bête“ (1946) vergleichbar – weicht jedenfalls deutlich von späteren virilen Dracula-Verkörperungen eines Bela Lugosi, Christopher Lee oder Frank Langella ab.
Der Pesthauch der Pandemie
Aber wie Dracula hat auch Orlok ein Auge auf Ellen Hutter (also Mina Harker, gespielt von Greta Schröder) geworfen. Ihr Porträt auf einem von Hutter mitgeführten Medaillon scheint für ihn den Ausschlag zu geben, schleunigst nach Wisborg zu reisen, in einem von sechs Särgen – die anderen fünf sind mit transsylvanischer Erde gefüllt. Von seinem Fenster aus sieht der eingesperrte Hutter die Kutsche mit den Särgen aus dem Burghof fahren. Es folgt eine komplexe Parallelmontage, die sich 30 Minuten lang der Schiffspassage des Vampirs widmet und zugleich zeigt, wie Hutter sich gleichsam über Stock und Stein nach Hause durchschlägt. Ebenso eingeflochten sind Geschehnisse in Wisborg: Der verrückte Makler Knock (Alexander Granach als der Renfield des Romans), der das Geschäft eingefädelt hatte, harrt voller Ungeduld auf den „Meister“ Orlok. Und Ellen wartet, von Sehnsucht wie von düsteren Vorahnungen geplagt, am Meer auf Hutters Wiederkehr, was eigenartig ist, weil sie ihren Mann ja auf dem Landweg erwarten müsste. Murnau kam es offenbar primär auf Stimmungen an – das Bild Ellens neben Friedhofskreuzen am Meeresstrand ist unübersehbar von Caspar David Friedrich inspiriert.
Die versprochene „Symphonie des Grauens“ wird vor allem in diesem mehrsträngigen Abschnitt erfüllt, dessen suggestiver Rhythmus einzigartig ist und der von Orloks Schiff mit geblähten Segeln wie von einem musikalischen Kopfthema zusammengehalten wird. Abweichend von Stokers Roman bringt der Graf auf seiner fatalen Reise eine Schar von Ratten mit nach Wisborg. Die Pest breitet sich in der Hafenstadt aus. Die Attribute des Blutsaugers werden vernachlässigt; Orlok ist jetzt eine Art mittelalterlicher Sensenmann, eine Allegorie des Todes. Bis 1919 wütete noch die Spanische Grippe in Europa, die hier offenbar verarbeitet wird.
Dracula, Nosferatu & Erben
Das von Stoker etablierte Arsenal der Vampir-Gegenmittel, Knoblauch, das Kreuz, der ins Herz gerammte Holzpflock, werden bei Murnau weggelassen. Und Draculas sonst mit allen Weihwassern gewaschener Gegenspieler van Helsing (hier: Bulwer) spielt nur eine marginale Rolle. Allein Ellen – eine gegenüber dem Roman deutlich aufgewertete Figur – weiß, wie dem „großen Sterben“, das schon im ersten Zwischentitel angekündigt wurde, beizukommen ist: Sie muss sich opfern, indem sie den Vampir bis zum ersten Hahnenschrei in ihrem Schlafzimmer festhält. Ellen schafft es, die Machtverhältnisse umzukehren. Orlok verfällt ihr. Der Hahn kräht, die Sonne geht auf, der Vampir – der seine Omnipotenz verliert und hier wieder dem triebhaften Grafen Stoker‘scher Prägung gleicht – verbrennt im Tageslicht; nur noch ein Rauchwölkchen bleibt von ihm übrig. Ellen stirbt in den Armen des herbeigeeilten Hutter, die Stadt ist von der Pest befreit.
Das Motiv des zu Asche zerfallenden Blutsaugers kommt bei Stoker nicht vor – aber in den späteren Filmen der Hammer-Studios mit dem Muster-Dracula Christopher Lee wurde die Vampirversengung adaptiert. In Tod Brownings erster autorisierter Romanadaption von 1931 wird Bela Lugosi noch mit dem klassischen Holzpflock unschädlich gemacht.
Die
Draculas ab den 1930er-Jahren haben mit Murnaus Konzeption wenig gemein. Aber
1979 taucht das „Phantom der Nacht“ in dem Werner-Herzog-Remake
noch einmal auf. Der zweite „Nosferatu“ überzeugt mit einigen Naturaufnahmen,
und auch die Schauspielerleistungen sind insgesamt besser als bei Murnau (Bruno
Ganz, Isabelle Adjani). Klaus Kinski ist in der Titelrolle gruselig,
verfehlt aber durch seine starke physische Präsenz das Gespenstische, das in der
Darbietung von Max Schreck einmalig ist.
Vor allem aber schleift Herzog dem Vorgängerfilm die Ecken und Kanten ab, indem er szenische Übergänge einfügt, surreale Sprünge kittet, Widersprüche aufhebt und seinen Figuren Erklärungen bis zur Geschwätzigkeit in den Mund legt. Zwar enthält der „Nosferatu“ von 1922 noch relativ viele Zwischentitel („Der letzte Mann“ kam 1924 dann ganz ohne Text aus), aber das Entscheidende liegt bei Murnau in den Blicken und Gesten, in der Inszenierung und in der Bildgestaltung. Ein stetig wiederkehrendes formales Motiv in „Nosferatu“ ist der Torbogen, der dem Buckel des Vampirs entspricht. Man spürt Murnaus Nähe zur Malerei.
Nosferatus Spuren bei Hitchcock
Die Nähe zur bildenden Kunst verbindet Murnau mit dem zehn Jahre jüngeren Alfred Hitchcock, der zunächst als Regieassistent tätig war und 1924 für eine UFA-Produktion von London nach Babelsberg reiste, wo er Murnau bei der Arbeit an „Der letzte Mann“ beobachten konnte. Das war eine prägende Begegnung für Hitchcock. Als Dialogmuffel reihte er sich in der Murnau-Tradition ein, wobei man natürlich nicht wissen kann, wie sich der schon 1931 mit nur 42 Jahren verstorbene Murnau in der Tonfilmzeit entwickelt hätte. „Im Schatten des Zweifels“, Hitchcocks sechster Hollywoodfilm, weist erstaunliche formale und strukturelle Parallelen zu „Nosferatu“ auf. Der im Titel zitierte „Schatten“ prägt auch die kontrastreiche Fotografie des Thrillers, der von einer jungen Frau erzählt, die ihren Onkel, den sie eigentlich bewundert, als Frauenmörder enttarnt. Der Biedermeier-Idylle Wisborgs in „Nosferatu“ entspricht das blitzsaubere kalifornische Santa Rosa in Hitchcocks Film.
„Im
Schatten des Zweifels“ beginnt allerdings mit einem Schwenk über eine
Schrotthalde in Philadelphia. In dieser Straße, in der Charles Oakley (Joseph Cotten) wohnt, spielen Kinder auf der Straße Baseball, während der
Mann, den düsteren Blick zur Decke gerichtet, in seinem Pensionszimmer am
hellichten Tag auf dem Bett liegt, starr, die Hände zusammengelegt, fast wie
ein Toter im Sarg. Die Polizei ist hinter ihm her, aber Oakley kann sich aus
dem Staub machen. Auf die Idee, der Familie seiner Schwester in Santa Rosa
einen Besuch abzustatten, ist aber nicht nur Charles gekommen, sondern auch
seine vom Alltagstrott gelangweilte Nichte Charlotte Newton (Teresa Wright),
die Charlie genannt wird. In „Nosferatu“ gibt es telepathische
Schuss-Gegenschuss-Einstellungen über große Distanzen zwischen Thomas und Ellen
Hutter. Auch bei Hitchcock wird, eher im Scherz, von „Telepathie“ geredet: So
ein Zufall, dass zwei „Charlies“ an weit voneinander entfernten Orten denselben
Gedanken hatten!
Wie Murnau zeigt Hitchcock, allerdings nur kurz, eine Überfahrt: Onkel Charlie verbirgt sich im Zug nach Santa Rosa tagsüber im Liegeabteil hinter einem Vorhang, um nicht erkannt zu werden. Für die Zugeinfahrt in der Station lässt Hitchcock dicken schwarzen Rauch aus dem Schornstein der Lokomotive qualmen, ein tiefer Schatten legt sich über den Bahnsteig, an dem die Newtons warten. Im Gespräch mit François Truffaut bestätigte Hitchcock dessen Interpretation: „Dieser schwarze Rauch lässt sich so übersetzen: Jetzt zieht der Teufel in die Stadt ein.“ Nach einigen ungetrübten Tagen mit dem Gast tauchen zwei verdeckte Ermittler auf, die Charlies Vertrauen in ihren Onkel ins Wanken bringen. Als auch Charles dämmert, dass sein Versteck bedroht ist, bricht seine brutale Ader durch. Besonders beängstigend für Charlie: seine Hände (mit denen der Mörder offenbar seine Opfer erwürgt).
Am Ende weiß die junge Heldin, was sonst niemand in der fünfköpfigen Durchschnittsfamilie ahnt: Der geliebte Onkel ist der gesuchte Witwenmörder – und er hat in Santa Rosa auch schon ein neues, frisch verwitwetes Opfer ausgemacht. Mehrmals versucht Charles, seine Nichte umzubringen. Der letzte Mordversuch – bei dem er selbst aus der Tür eines anfahrenden Zuges fällt und von der entgegenkommenden Lok zermalmt wird – lässt sich wie die Umarmung eines Liebespaars an. Gewalt und Leidenschaft sind Zwillinge.
Ein Schatten von Paranoia
„Im Schatten des Zweifels“ wurde mitten im Zweiten Weltkrieg gedreht. Die Figur des Onkels, des hinterlistigen Feindes im trauten Heim, lässt sich als propagandistische Warnung an die Adresse der Heimatfront lesen. Der Krieg findet in der Handlung keine Erwähnung, legt sich aber wie ein Schatten von Paranoia über die Geschichte.
Auch „Nosferatu“ erzählt nur indirekt vom Krieg, so wie die meisten auf ein großes Publikum zugeschnittenen Filme des Weimarer Kinos von den seelischen (weniger den materiellen) Auswirkungen des Ersten Weltkriegs erzählen. Dass das Grauen in der zur umfassenden Krise des „großen Sterbens“ ausgeweiteten Vampirstory nichts mit den Fronterlebnissen zwischen 1914 und 1918 zu tun haben sollte – Murnau selbst kehrte traumatisiert aus der Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurück – ist aber höchst unwahrscheinlich.
Filme blicken nicht nur zurück, sondern auch voraus. Diese These liegt Siegfried Kracauers 1947 erschienener „psychologische Geschichte des deutschen Films“ – dem einflussreichen Buch „Von Caligari zu Hitler“ – zugrunde. Unverkennbar erweist sich Orlok nach seiner Ankunft in Wisborg als Tyrann, der eine Vielzahl von Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Gerade unter diesem Aspekt geht der Film heute wieder unter die Haut: Als Filmzuschauer und zugleich überrumpelter Beobachter eines unerwarteten Krieges in Europa kann man nicht umhin, die Fratze des Vampirs über das Fernsehbild des skrupellosen russischen Präsidenten zu legen, der die Invasion eines unabhängigen europäischen Staates befehligt hat und wahrscheinlich weitere Eroberungspläne verfolgt. Der Krieg kehrt nach Europa zurück. Das Grauen kriecht hier und jetzt heran.
„Granatenschock“-Kino
Um in die historische Perspektive zurückzukehren: Neben „Das Cabinet des Dr.Caligari“ zählt „Nosferatu“ für den Medienwissenschaftler Anton Kaes zu den zentralen Beispielen eines „Kriegsneurosen“- oder „Granatenschock“-Kinos, wie er in seinem Buch „Shell Shock Cinema: Weimar Culture and the Wounds of War“ (2009) ausführt. Die mühevolle Rückkehr Hutters aus den Karpaten liest Kaes als die Heimkehr eines von Kriegsgräueln erschütterten Soldaten, eines Repräsentanten der „verlorenen Generation“ (Kaes). Hutter kommt nicht allein, er bringt sein düsteres Alter Ego mit, Orlok, der nun den Platz in Ellens Schlafzimmer beansprucht. Das Kapitel über „Nosferatu“ überschreibt Kaes mit „Die Rückkehr der Untoten“. Die „Untoten“ stehen für die fern der Heimat nicht beerdigten und ruhelos umherirrenden Toten des Krieges, die sich nach einem Grab sehnen, an dem sie betrauert werden können. Nosferatu ist in Kaes’ Deutung ebenso Plagegeist wie bedauernswerte Kreatur, die von ihrer nächtlichen Existenz erlöst werden will.
Gibt es
Vergleichbares in späteren Filmen? Für Antworten auf diese Frage begibt man
sich aufs dünne Eis der Spekulation. In Michael Ciminos zwischen
dem ländlichen Pennsylvania und dem Krieg in Vietnam pendelnden Drama „Die durch die Hölle gehen“ (1978) spielt Christopher Walken
den Vietnam-Veteranen Nick, der nach Kriegsende in Saigon zurückbleibt. Sein
Freund Michael (Robert de Niro) sucht und findet den Kameraden in einem Casino
der vietnamesischen Metropole. Nick, dem Heroin verfallen, spielt Russisch-Roulette,
wohl schon monatelang. Es ist das tödliche Spiel, zu dem Michael, Nick und ihr
Kamerad Steven gezwungen wurden, als sie in die Gefangenschaft des Vietcong geraten
waren. Nick findet aus dem Teufelskreis des Revolverspiels nicht heraus; er ist
ein Untoter, dessen Spielerglück ans Unheimliche grenzt. Er gewinnt immer und
scheint nicht sterben zu können. Doch als Michael, verzweifelt angesichts des
apathischen Freundes, selbst eine Runde Russisches Roulette mit Nick spielt,
erwacht dieser aus seiner Agonie, erkennt den Freund – und stirbt durch die
Kugel.
Moderner Nosferatu: Christopher Walken
Abgesehen
vielleicht von Willem Dafoe, der in dem geschichtsklitternden
Horrorfilm „Shadow of the Vampire“ (2000) einen Max Schreck
spielt, der sich bei den Dreharbeiten zu „Nosferatu“ wirklich als Vampir
erweist: Wenn jemand „den“ modernen Nosferatu verkörpert, dann ist es
Christopher Walken. In Abel Ferraras Mafiafilm „King of New York“
(1990) gibt er einen Drogenbaron, der anfangs aus der Schattenwelt des
Gefängnisses wie aus der Vampirgruft auftaucht, um in einem apokalyptisch
gezeichneten New York wieder sein Unwesen treiben zu können. Regisseur Ferrara
hat sich ausdrücklich auf Murnau als Vorbild berufen, in einer Kinoszene
flimmert sogar „Nosferatu“ über die Leinwand.
Tim Burton, ebenfalls ein großer Murnau-Fan, besetzte Walken in „Batmans Rückkehr“ als korrupten Milliardär namens Max Shreck (!), der danach trachtet, Gotham City mittels eines gigantischen Kondensators die Energie abzusaugen und schließlich durch die von Michelle Pfeiffer verkörperte Catwoman mit einem Hochspannungs-Kuss erledigt wird, dass die Funken stieben.
Eine scharf umrissene Geometrie des Schreckens
„Nosferatu“
ist als komplexes Zeichensystem und in seinem dramaturgischen Konzept, das
Kausalitäten weitgehend aufhebt, schwerlich mit späteren Filmen vergleichbar.
Was wohl auch damit zusammenhängt, dass der Nationalsozialismus das
experimentierfreudige Weimarer Kino erstickte und das deutsche Nachkriegskino
an die Anfänge des fantastischen Films nicht wieder anknüpfte. In anderen
Ländern, etwa in den USA, bildeten sich andere Erzähltraditionen heraus. Hin
und wieder erscheinen außergewöhnliche Horrorfilme, die gewisse Parallelen zu
„Nosferatu“ erkennen lassen. Etwa Stanley Kubricks Steven-King-Verfilmung „Shining“
(1980), in der eine Kleinfamilie in einem leeren Hotelpalast in den Bergen von
Colorado überwintert. Der als Hausverwalter engagierte Familienvater Jack
Torrance (Jack Nicholson) wird hier unter dem Einfluss
gespenstischer Mächte wahnsinnig und entwickelt Mordgelüste gegenüber seiner
Frau und dem kleinen Sohn, der übersinnliche Kräfte besitzt. Anders als bei
Murnau ist hier nicht die Frau hellsichtig (während Hutter die Gefahr notorisch
weglächelt, stellt sich Ellen der Todesangst und bannt damit den Schrecken),
sondern das Kind. Jack Nicholson besitzt das darstellerische Format, den
arglosen Helden und das Monster in Personalunion zu verkörpern.
Weitere Parallelen zu „Nosferatu“ sind die Geistererscheinungen, die Kubrick zum Teil aus der Dokumentarfotografie – die berühmten Zwillingsmädchen von Diane Arbus – herbeizitiert und die „unnatürlich“-symmetrisch komponierten Einstellungen des verrückt gewordenen Torrance. Auch das hat Murnau erfunden: eine scharf umrissene Geometrie des Schreckens statt verschwommener Schauerbilder. Selbst der sogenannte „Kamerablick“, mit dem schon Nosferatu, die vierte Wand einreißend, das Publikum fixierte, findet sich bei Kubrick wieder.
„Shining“ ist ein Horrorfilm aus dem Kühlhaus, während M. Night Shyamalan in „The Village – Das Dorf“ (2004) mit anderen Stimmungswerten operiert. Wie „Nosferatu“ beginnt „The Village“ in einer heilen Scheinwelt. Statt dem deutschen Biedermeier der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebt man dörfliches Leben zur vorletzten Jahrhundertwende. Die Siedlung ist von einem Wald umgeben, den niemand aus der offenbar autarken Dorfgemeinschaft betreten darf. Zu den Hauptfiguren zählen die blinde und zugleich hellsichtige junge Frau Ivy (Bryce Dallas Howard), ihr Bräutigam Lucius (Joaquin Phoenix) und der geistig behinderte Noah (Adrien Brody), der an den irren Knock bei Murnau erinnert. Im Wald hausen die „Unaussprechlichen“, die, so geht die Mär, von der Farbe Rot angelockt werden.
Kann man von Blutdurst sprechen? Jedenfalls ist im Dorf alles Rote untersagt. Und wer die Dorfgrenze überschreitet, was Lucius gleich am Filmbeginn tut, ruft ebenso die Monster auf den Plan. Man sieht einen der „Unaussprechlichen“ dann kurz im Profil, als das unheimliche Wesen kurz an einer Tür kratzt: Lange, krumme Krallen, riesenhafte, aber dürre Gestalt – ein Nosferatu-Wiedergänger. Dazu viele Särge, lauter Bodenluken wie auf Orloks Schiff; Ivy reckt die Arme wie die schlafwandelnde Ellen. Noah, der in Ivy ebenso verliebt ist wie Lucius, verletzt den Rivalen mit einem Messer lebensgefährlich. Jemand muss Medikamente besorgen – aus der Stadt jenseits des Waldes, die nur die Dorfältesten kennen. Bevor sich Ivy – in Verkehrung des genderspezifischen Rollenmusters – auf die gefährliche Reise begibt, wird sie von ihrem Vater, dem Dorfvorsteher Walker (William Hurt), aufgeklärt: Es gibt keine „Unaussprechlichen“, die Monster sind kostümierte Älteste, die mit dem Mummenschanz die Dorfgesellschaft vor der bösen Außenwelt schützen wollen.
Bei Shyamalan ist die Geisterwelt reine Erfindung. Eigentlich. Trotzdem muss sich Ivy dem Phantom im unheimlichen Wald stellen. In „The Village“ gibt es mehrere Twists, mit denen das Publikum an der Nase herumgeführt wird, ehe es auf dem Boden nüchterner Tatsachen landet – das Dorf ist ein Modellprojekt, eine Schutzblase „guter alter Zeit“ in einer von Gewalt und Techno-Hype erschütterten Jetztzeit. Im „Village“ wird am Ende alles einer rationalen Erklärung zugeführt. Als müsste das Kino das Publikum schonend auf die an Magie arme Wirklichkeit da draußen vorbereiten.
Wo das Zärtliche und das Monströse zusammenfließen
In den Filmen von Christian Petzold ist alles eine einheitliche Wirklichkeit: Imagination und Wachzustand, Vergangenheit und Gegenwart, das Zärtliche und das Monströse fließen in seinen Geschichten zusammen. Die Titelheldin von „Undine“ (2020) ist Nymphe und Stadthistorikerin zugleich. In „Transit“ (2018) bevölkern Flüchtlinge des Zweiten Weltkriegs das moderne Marseille. Da ein Filmbild, etwa das des einfahrenden Zuges in La Ciotat, sich ohnehin abhebt von der sogenannten Wirklichkeit, sind alle Aggregatszustände zwischen Alltag und Delirium denk- und darstellbar. Petzolds magischer Realismus ist sicher anders als der von Murnau, aber im Bekenntnis zum eher sachlich fotografierten Bild als Kernelement seines Erzählkinos doch mit post-expressionistischen Filmen wie „Nosferatu“ verbunden.
Dem Horrorgenre am nächsten kommt Petzolds „Yella“ (2007), in dem die Titelfigur versucht, sich in den letzten Lebenssekunden nach einem Unfall ein besseres Leben zu erträumen. In diesem Traum, der fast den ganzen Film füllt, heuert Yella (Nina Hoss) als Assistentin eines Vermittlers für Risikokapital (Devid Striesow) an. Sie wird erst zu seiner Geliebten und dann zur Komplizin seiner windigen Transaktionen. Aus Liebe überspannt sie den Bogen, erpresst auf eigene Faust einen Unternehmer, der sich daraufhin das Leben nimmt. Ein monströser Traum vom Glück. Yella erkennt ihre Grausamkeit und schließt mit ihrem Leben endgültig ab. Aber wie verhält es sich mit dem traurigen Grafen Orlok, der zuerst nur Gesellschaft will, ein bisschen Blut und eine Immobilie im fernen Wisborg? Wissen denn die Ungeheuer, dass sie Ungeheuer sind?