Die Digitalisierung bedroht herkömmliche Kulturorte wie Museen, Theater oder Kinos aufs Äußerste. Auf der anderen Seite wächst die Sehnsucht nach öffentlichen Begegnungen in urbanen Kulturbauten. Wie passt das zusammen? Und was erwächst aus den gegenläufigen Bestrebungen? Ein Gespräch zwischen dem Architekturkritiker Niklas Maak und dem Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen, Lars Henrik Gass.
Lars Henrik Gass: Kulturbauten sind historisch gesehen kein neues Phänomen. Vielleicht ist jetzt aber der Zeitpunkt gekommen, einmal die Frage zu stellen, ob der Kulturbau reformiert werden muss. Daher zur Einleitung: Was ist ein Kulturbau? Wann und wie ist er entstanden? Und welche treibenden Kräfte waren dabei wirksam?
Niklas Maak: Auch schon die antiken Gesellschaften hatten sich in
den Städten neben den Bezirken, die Konsum und Kommerz gewidmet waren,
Gegenwelten geschaffen. Das war in Griechenland das Museion, das kein Museum im
modernen Sinne war, sondern ein ganzer Bezirk mit verschiedenen Bauten und
Bühnen, mit Räumen des Rückzugs, wo auch Gaukler auftraten, wo eigentlich eine
Gegenwelt zu der Welt des Kommerzes, zur Agora, dem Ort der Politik und des
Handels, entstanden war, mit Gebäuden, aber auch mit Wiesen dazwischen, wo
Menschen andere Erlebnisse haben konnten, wo andere Begegnungen und Erfahrungen
stattfanden, als es in der Welt des Handels möglich war. Die ersten großen
Museen des 19. Jahrhunderts wurden anfangs noch als eine Alternative zum Park
betrachtet. Man durfte dort mit Kindern und Hunden reingehen. Am Anfang konnte
vor den Bildern auch laut geredet werden. Einige Berichte sagen sogar, dass
Leute Essen mitbrachten.
Charlotte Klonk hat ein wunderbares Buch über die
Geschichte des White Cubes geschrieben, wie der White Cube sich eigentlich erst
in einer Entwicklung herausbildet, in der das Museum von einem Ort der
Begegnung, des Gemeinsamseins, auch des gemeinsamen Lautseins, des Diskutierens
vor den Kunstwerken, zu einem Ort wurde, der der Erbauung dienen sollte. Im 19.
Jahrhundert wurde aus diesem Gebäude, das eigentlich ein überdachter Park
voller Kultur war und damit sehr nahe an der Idee des alten Museion, ein Ort,
der eher einer Kirche glich. Man ging gemessen angezogen dort hinein, man
sprach fast nicht, man musste sich vor den Bildern wie vor einer Madonnenstatue
einlassen auf die beseelende Energie des Werks.
Das heißt, wir haben eine Entwicklung im 19. Jahrhundert, die auch mit dem Moralkodex dieser Zeit verbunden war, worin ein bestimmtes bürgerliches Milieu das Museum zu einem Erbauungstempel erklärte. Das kann man auch in anderen Bereichen beobachten, etwa der Geschichte des bürgerlichen, nichthöfischen Theaters jener Zeit, das sich von einem turbulenten, wilden Ort für die Massen zu einem Ort erbaulicher Geschichte für eine privilegierte Gruppe entwickelte.
Wenn man heute fragt: „Was
macht eigentlich eine Stadtgesellschaft aus, was braucht diese
Stadtgesellschaft für Orte?“, dann kommt man schnell zur Frage, in wieweit die
Konzepte gerade neuer großer Kulturbauten immer noch in einem elitistischen
Verständnis von Kultur des 19. Jahrhunderts gefangen sind, trotz allem, was in
den letzten fünfzig Jahren passiert ist; obwohl das Theater, das Kino, die
Museen seit dem Zweiten Weltkrieg natürlich auch immer Orte des Experiments
waren, des Aufbruchs, der Gegenerzählung. Aber natürlich hatte diese
Gegenerzählung ein klares Pendant – und das war die kommerziell geprägte Stadt,
die der Bürotürme. Heute sind wir an einem interessanten Punkt, wo sich unsere
Städte radikal verändern, wo wir feststellen, dass eine bestimmte Form des
Kapitalismus die kapitalistisch geprägte Stadtgesellschaft selbst abschafft,
indem etwa das Shopping online geht und damit Shoppingcenter und -straßen
kaputtgehen; oder die Bürotürme sich entleeren, weil Homeoffice für die
Unternehmen als die attraktivere Lösung erscheint.
In dem Moment, wo also die beiden bestimmenden Faktoren, die die Stadtgesellschaft durchgängig geprägt haben, nämlich Arbeit und Konsum – in der Form, wie wir sie bislang kennen – aus den Stadtzentren verschwinden, stellt sich auch die Frage, zu was die Kultur eine Gegenerzählung entwirft und welche Räume wir dann für diese neuen Erzählungen brauchen.
Lars Henrik Gass: Warum hat diese Klerikalisierung der Kulturbauten im 19. Jahrhundert nicht nur eingesetzt, sondern sich bis ins digitale Zeitalter hin auch fortgesetzt?
Niklas Maak: Das ist einmal eine Frage des Zugangs zum Privileg
Kultur. Natürlich gibt es eine kritische Geschichte des Theaters und des
Museums, aber letzten Endes wurde die Form des Kulturtempels immer wieder aus
dem Tempel heraus in Frage gestellt, durch neue Formen von Kunst, etwa jener
Art, die als Land Art tatsächlich das ganze Land miteinbegriff - oder als
Performance Art extrem auch den städtischen Raum. Aber der Ort, an dem das
verhandelt wird, ist immer das Museum geblieben. Und die Wertschöpfung eines
Künstlers entsteht dann im White Cube des Museums und nicht außerhalb.
Auch
dadurch, dass nur bestimmte Leute Kuratoren werden, dass nur bestimmte Leute
die Definition, was Kultur ist, in der Hand haben, bleiben wir – bei allem
kritischen Anspruch – immer noch im White Cube stecken. Und der White Cube ist
ja auch ein sozioökonomischer „White“ Cube. Wenn wir schauen, aus welchen
sozialen Milieus eigentlich Kuratorinnen und Kuratoren stammen – wer kann es
sich überhaupt leisten, Kurator zu werden? – dann erkennt man, dass große
Bevölkerungsschichten gar nicht in der Lage sind, diese kulturelle Sphäre zu betreten,
weil es ökonomisch unmöglich ist. Wenn man eine abgeschlossene Promotion haben muss,
um Volontärin an den Staatlichen Museen zu Berlin zu werden, ist man Mitte
Dreißig, hat vielleicht sogar Kinder und bekommt 1.700 Euro brutto. Das ist für
ganz viele Leute keine berufliche Option. Deswegen haben wir heute bei allen Kritikalitätsgirlanden,
die der Kulturbetrieb rituell aufhängt, letzten Endes trotz aller Ausnahmen
insgesamt ein sehr homogenes, immer noch sehr weißes, immer noch einer
bestimmten oberen Mittelklasse entstammendes Milieu, aus dem sich die
Entscheider rekrutieren.
Auch wenn es dann immer wieder heißt: „Gut, wir verändern sehr viel, und wir wollen auch diverser werden“, dann ist es letzten Endes genau diese sozioökonomische Struktur, wie Arbeit im Kulturbetrieb bezahlt ist, die es für viele Leute unmöglich macht, sich da länger zu halten. Dadurch haben wir immer noch eher ein bürgerliches Kulturmilieu, auch wenn dieses bürgerliche Kulturmilieu nichts lieber macht als sich als Avantgarde oder Bohème zu präsentieren. Wenn man diese soziologischen und sozioökonomischen Grundlagen des Kulturbetriebs in Deutschland betrachtet, dann ist das immer noch eine relative bourgeoise Veranstaltung.
Haben städtische Kulturbauten noch eine Zukunft?
Lars Henrik Gass: Wertschöpfung und Distinktion sind mit Sicherheit
wichtige Faktoren, die die Persistenz des musealen Kulturbaus erklären. Umgekehrt
gibt es massive Veränderungen in der Arbeits- wie in der Freiheitsgesellschaft,
ökonomisch wie technologisch, die eher auf eine zunehmende Individualisierung
des Kulturverhaltens verweisen. Vielleicht begründet das die Konjunktur von
Biennalen oder von Großausstellungen wie die documenta, die sich zuletzt großer
Beliebtheit erfreuten. Dagegen sind andere Kultursparten klar im Nachteil. Ich
frage mich, einmal zugespitzt, welcher anständige Mensch kann noch um 19 Uhr
ins Theater gehen?
Entspricht gewissermaßen die Taktung von Theater, Oper, Konzerten, aber auch des Kinos, also diese soziale Reglementierung und Verabredung, die damit einhergeht, eigentlich noch der Realität, in der wir leben, in der wir jederzeit digital Zugang zu allem haben? Brauchen wir die Kulturbauten noch, die dafür vorgesehen sind?
Niklas Maak: Ich glaube, dass die Behauptung, dass wir Kultur bald
nur noch über digitale Endgeräte wahrnehmen, von Interessengruppen in die Welt
gesetzt wurde. Wenn ich einen Digitalkonzern leite oder ein Start-Up für eine
Theater-App, dann würde ich auch behaupten, dass keiner mehr ins Theater geht. Auch
während der Corona-Zeit hat sich ja ein enormes Bedürfnis gezeigt, ins Museum oder
ins Theater zu gehen und damit in einen physischen Erfahrungsraum einzutreten.
Ich glaube, dass es dumm ist, das Digitale und die physische Erfahrung
gegeneinander auszuspielen. Es wird bestimmt kulturelle Angebote geben, die
sich dezentral verteilen. Es wird Möglichkeiten geben, morgens um elf ein
Theaterstück zu sehen. Man muss das nicht gegen den physischen Erfahrungsraum
der Kultur in der Stadt ausspielen; es ist vielmehr in dem Moment ein
interessanter Punkt erreicht, wo die Möglichkeit besteht, durch die
Digitalisierung die Arbeitsprozesse und die Aufteilung des Tages ganz anders zu
gestalten – ihn also einzuteilen, in eine Phase der Arbeit und in eine Phase
der Entspannung, des Zusammenseins mit Freunden, mit der Familie oder anderen Menschen,
auch mit Möglichkeiten, Kultur zu erleben.
Wir sind an einem Punkt, wo die Gesellschaft zum ersten Mal technisch in der Lage ist – das ist der große Moment, den wir jetzt erleben –, das, was man früher „entfremdete Arbeit“ nannte, aufzubrechen und die enormen Digitalisierungsgewinne, die jetzt gerade entstehen, gerechter zu verteilen, was es sehr vielen Menschen erlauben könnte, ganz anders als bisher zu leben.
Wenn wir über Kulturbauten in
der Stadt nachdenken, besteht ein Grundproblem darin, dass wir bei allen
Smart-City-Fantasien immer noch eine sehr konservative Idee von dem haben, was die
Stadt in Zukunft sein soll. Und dass diese konservative Idee von Stadt an
bestimmte ökonomische Modelle geknüpft ist, etwa an die Idee, dass wir ins
Zentrum fahren, um dort von 9 bis 17 Uhr zu arbeiten. Wenn man sich den
Stanford Report zur Smart City anschaut, dann sieht man, dass dort vor allem
über Fragen nachgedacht wird wie: „Wie kann ich den Transport effizienter
machen?“ Wie kann ich mit selbstfahrenden Elektroautos in die Stadt fahren und
auf dem Weg schon im Auto arbeiten?
Das ist eigentlich eine sehr deprimierende
Idee von Stadt, wenn man einfach nur die Effizienz eines Systems steigert, aber
nicht über das System selbst spricht. Die grundlegende Frage muss doch nicht
sein, ob wir in Zukunft von autonomen Kapseln in die Stadt gefahren werden, um
dort zu arbeiten, sondern die Frage muss lauten: Arbeiten wir überhaupt noch in
der Stadt? Das steht doch gerade in Frage. Und zwar nicht, weil ein paar
kapitalismuskritische Utopisten sagen, dass damit Schluss sein muss, sondern
weil ironischerweise eine bestimmte Form von kapitalistischem Effizienzdenken die
kapitalistisch geprägte Stadt selbst killt. Nicht weil Homeoffice etwas ist,
was für die Menschen gut ist – ich würde das in Frage stellen, denn meiner
Erfahrung nach ist das Eindringen von Home Office ins Home eine Überformung von
allem mit Office und nicht eine Stärkung von Home; aber es ist offenbar für
viele Konzerne und große Firmen so ökonomisch attraktiv, die
Innenstadtmietobjekte aufzugeben, dass das forciert wird. Für die Innenstädte
ist es ein Problem, aber auch eine Chance, wenn die Bürotürme in Zukunft leer
stehen.
Wenn künftig viele Einkaufszentren leer stehen werden, dann haben wir
ja keinen wirklichen Verlust an Stadtkultur, sondern nur eine Verschiebung von
bestimmten Ritualen woanders hin plus enorme Leerflächen. Das Aufregende daran,
wenn man heute über Kulturbauten nachdenkt, besteht darin, über die gesamte
Stadt nachzudenken - weil die Stadt als ein Zentrum, das seit der Antike von
Konsum und Handel geprägt war, im Begriff ist, sich aufzulösen. Die
mittelalterliche Stadt war vom Marktplatz geprägt, um den sich Häuser
gruppierten. Die moderne Metropole war von der Konzentration von Arbeitsmitteln
und Produktionsmitteln in Fabriken und von riesigen Arbeitersiedlungen geprägt,
und die Konsummoderne war von Bürotürmen, dem Dienstleistungssektor in der
Stadt und den Suburbs bestimmt, in die die Leute dann mit den ganzen
Konsumprodukten rasten. Wenn das ein Ende findet wegen einer systemimmanenten
Effizienzverschärfung im kapitalistischen System, dann haben wir in den
ehemaligen Innenstädten bald einen riesigen Ruinenpark.
Das ist eine enorme
Chance, über das ganze Konstrukt nachzudenken. Denn es gibt ja vielleicht nicht
mehr die Bürotürme, zu denen man ein Theater stellt, das man nach dem Büro als
bürgerlich Lohnarbeitender besucht, um ein bisschen Erbauung zu finden;
eventuell wird jetzt ja die ganze Stadt ein Theater, ein Museum oder ein Kino;
denn was sollen wir sonst mit diesen Ruinen machen?
Das ist eine aufregende Aufgabe für Menschen, die darüber nachdenken, was Kultur ist oder die Architektur interessant finden. Wir können die ganze Stadt bald für andere Nutzungen okkupieren, auch für andere Definitionen dessen, wie viel Erwerbstätigkeit sein muss und wie viel „Kultur“ sein kann. Weil wir eben auch aus der Dichotomie eines Lebens herauskommen, in dem wir von 9 bis 17 Uhr arbeiten und in dem Kultur dann ab 17 Uhr in geschlossenen Boxen stattfindet. Wir können beide Narrative aufbrechen, wenn wir sagen, der Kulturbau ist zum ersten Mal in seiner Geschichte nicht mehr der Gegenbau zum Konsumbau, sondern der Konsumbau ist auseinandergebrochen und hat sich in den virtuellen Raum verzogen; dann haben wir ganz andere physische Räume, die wir ganz anders bespielen können.
Ein Centre Pompidou fürs digitale Zeitalter
Lars Henrik Gass: Das drängt mindestens zwei Fragen auf: Wie gehen wir
mit den massiven Aufwendungen um, die erforderlich sind, um die Kulturbauten zu
erhalten, die über hundert oder 150 Jahre in Deutschland entstanden sind, oder
sie möglicherweise auch fortzuschreiben? Sie haben diese Prozesse ja auch in
Ihrer Zeitung begleitet; ich muss gar nicht die Elbphilharmonie nennen, denken
wir ans Schauspiel Frankfurt oder ans Festspielhaus in Bayreuth, das gerade
84,7 Millionen Euro vom Bund zur Sanierung erhalten hat; das sind ja erhebliche
Aufwendungen, die nur in die Hardware gehen und nicht für die programmliche
Software gedacht sind. Ich habe einmal gerechnet, dass man allein für die
Kosten der Elbphilharmonie in jeder Großstadt in Deutschland eine Kinemathek hätte
einrichten können.
Die andere Frage ist: Was müsste aus Ihrer Sicht ein neuer Kulturbau, wie Sie ihn sich vorstellen, eigentlich können? Was muss er leisten, welche Attraktionsmomente muss er aufweisen, dass Menschen, die möglicherweise in der Peripherie der Stadt wohnen, künftig überhaupt noch einen Anreiz haben, diese Orte zu besuchen?
Niklas Maak: Die Frage ist, ob etwa die Idee des großen Festbaus
die einzige Form ist, Kultur darzustellen. Ich glaube, dass bestimmte
Riesenkulturbauten dann ihre Berechtigung haben, wenn sie wie etwa das Centre
Pompidou in Paris tatsächlich ganz viele Menschen zusammenbringen und als
Kulturmaschine sehr viele anziehen, die gerade deshalb ins Stadtzentrum kommen.
Das kann funktionieren, aber muss um ein anderes räumliches Konzept von Kultur
ergänzt werden. Tatsächlich gibt es eine geradezu perverse Entwicklung,
milliardenschwere Gebäude wie das Berliner Museum der Moderne zu errichten, in
einem Moment, wo alle bestehenden Museen kaum Ressourcen haben, um ein gutes
Programm zu machen oder eine angemessene Museumspädagogik zu betreiben.
Wir sehen das gerade in Berlin, wo das gesamte Geld wie mit einem Staubsauger auf die Museumsinsel und ans Kulturforum abgezogen wird; man baut dort im Prinzip Cluster, die eigentlich an ein feudales Konzept erinnern. Man will einen Louvre haben, einen Bilbao-Effekt, man schmeißt alles an einen Ort und blutet dafür – in Berlin ist das deutlich zu sehen – alle dezentralen Orte aus. Ich finde, das ist ein skandalöser Kulturbegriff, weil er eigentlich davon ausgeht, dass Kultur ein Renommieren an einem zentralen Ort bedeutet, während das Durchdringen des Alltags mit Werken der Kultur gar nicht mehr möglich ist, da man ja alles auf eine Stelle konzentriert.
Umgekehrt ist gerade das Beispiel der Wiederbelebung von Stadtbibliotheken sehr interessant, also einer Typologie, der man schon den Tod vorausgesagt hat, da angeblich so alles nur noch auf dem iPad ist und keiner mehr in Bibliotheken geht. Plötzlich aber sieht man, dass Bibliotheken, gerade kleinere Stadtteilbibliotheken, sehr stark frequentiert werden.
Gleichzeitig hat sich das Verhalten
von Jugendlichen in Museen auf eine sehr interessante Weise verändert. Es gibt
eine Untersuchung der Tate Modern, wie Foyers genutzt werden. Museen, die wie
in England keinen Eintritt verlangen, werden gerade von jüngeren Menschen wie
ein öffentliches Wohnzimmer genutzt. Wir sehen, dass sich Jugendliche sehr viel
mehr im Museum aufhalten, aber nicht unbedingt vor den Kunstwerken, sondern
stundenlang in den Foyers, wenn diese eine Aufenthaltsqualität besitzen. Man
sitzt da, googelt durchs Netz, macht Snapchat-Filmchen oder anderes.
Es gibt offenbar eine Sehnsucht, sich an einem Ort mit mehreren zu treffen, der permeabel ist, in den anderen Menschen hineinkommen, in dem ich etwas beobachten oder auch Bekanntschaften machen kann, die vorher nicht denkbar waren. Wenn auch kleinere Museen solche Räume bieten, kann es sein, dass wir eine ganz neue Idee von – um einen alten Begriff zu verwenden – Wohnzimmer entwickeln: dass eben der Kulturbau tatsächlich ein kollektives Wohnzimmer wird, ein Raum, der eine neue Nutzungsqualität besitzt. Gerade in einer Gesellschaft, die eben nicht mehr darauf beharrt, dass man von 9 bis 17 Uhr in einem Büro am Schreibtisch sitzt und allenfalls mal zur Kaffeemaschine geht, sondern in der Arbeiten so möglich wird, dass man vielleicht zwei Stunden arbeitet, dann zwei Stunden etwas anderes tut, dann wieder etwas arbeitet, auch an verschiedenen Orten.
In solch einer Situation haben wir die Chance, über diese Räume anders nachzudenken. Die Nutzungsänderung von Kulturräumen in Verbindung mit dem Verschwinden des kommerziellen Drucks auf die Zentren, der sich anderswohin verlagert, ist eine enorme Chance dafür, dass plötzlich eine Bibliothek in einem ehemaligen Büroturm oder ein Museum in eine ehemalige Shopping Mall einziehen kann. Meine Studierenden, die ich in Harvard unterrichtet habe, und ich hatten zuletzt vor, eine Shopping Mall in New Jersey für vier Wochen probehalber zu besiedeln und daraus einen Raum zu machen, in dem man in den Läden schläft und wohnt und die Zentralmeile wie einen Museumsraum nutzt, um Ausstellungen und Performances zu machen, auch um zu zeigen, wie eng man in diesen Ruinen des Spätkapitalismus die Produktion von Kultur mit Leben und Arbeit zusammenbringen kann.
In meinen Augen sind das Experimente, die wir jetzt machen müssen und die wichtig sind, damit wir wegkommen von der Idee, ein Kulturbau sei immer irgendwie ein klassischer oder moderner Tempel, in den man reingeht und dann im Reich der Kultur ist, während draußen das von kommerziell und ökonomisch geprägten Axiomen definierte Leben tobt.
Von „Coffee-to-go“ bis „Alles akzeptieren“
Lars Henrik Gass: Das bedeutet im Grunde, dass man an diesen Orten möglicherweise auch wohnen und vor allen Dingen neue Formen von freier Arbeit etablieren kann, dass also der Konsumzwang aufgehoben ist und es eine konsumfreie Aufenthaltsqualität gibt, denn das ist ja das große Problem in den Innenstädten. Ich kann mich eigentlich nirgendwo mehr ohne Konsum aufhalten.
Niklas Maak: Ja, man muss zumindest eine Konsumabsicht bekunden. Man kann sich nicht irgendwo hinsetzen und sagen, ich kauf hier nichts, sondern man muss so tun, als ob man wenigstens einen Kaffee bestellen will.
Lars Henrik Gass: Coffee-to-go ist das mindeste. Insofern ist das Beispiel mit den Bibliotheken sehr schön. Ich bin ja, bei allen Verwerfungen, die damit einhergingen, ein Anhänger von André Malraux̕ Idee des Centre Pompidou. Dass es einen Bau gibt, der eigentlich nur noch Ausdruck seines Wandels ist. Und der möglicherweise, Jean Baudrillard hat das ja auch beschrieben, dann implodiert, weil er gewissermaßen mit der sozialen Energie gar nicht zurechtkommt, die er selbst produziert. Der dann möglicherweise auch zusammenbricht, und er wäre ja schon fast zusammengebrochen.
Niklas Maak: Ja, das Centre Pompidou ist ein tolles Beispiel, wenn
man darüber nachdenkt, was ein Kulturbau heute leisten soll. Ich glaube
tatsächlich, dass in den 1960er-Jahren in vielen europäischen Ländern eine
große Bildungsoffensive stattfand; das Centre Pompidou war Ausdruck des
Versuchs, Kultur für alle Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Wenn wir
überlegen, was heute so ein Centre Pompidou des digitalen Zeitalters leisten
müsste, dann wäre das vielleicht ganz ähnlich. Also auch Aufklärung über das,
was die ökonomischen Fundamente unserer Gesellschaft sein werden und damit auch
die ökonomischen Fundamente der Möglichkeit, Kultur zu produzieren.
Das wäre
dann tatsächlich eine Aufklärung über das, was mit diesem enormen Schatz
passiert, den wir als Gesellschaft haben, nämlich die kollektiven Daten; was
damit getan werden könnte, wenn wir sie nicht einfach freiwillig abgeben. Wir
haben Milliardenwerte, die wir jeden Tag verlieren, indem wir auf „Alles
akzeptieren“ drücken, weil es so praktisch ist. Es zeigt sich, dass bestimmte
kritische Denker, die die technischen Geschehnisse gerade durchschauen, sehr
alarmiert sind, weil wir dem Staat die Möglichkeit entziehen, Politik zu
machen, indem wir alle Daten an private Unternehmen geben, die diese Daten
sammeln und dem Staat als Handlungsoptionspakete wieder verkaufen.
Die Fragen
„Wie betreibe ich eine Stadt?“, „Wie schaffe ich effiziente Wasserwirtschaft?“
oder „Wie generiere ich Geld für Kultur?“ werden immer öfter an private
Unternehmen ausgelagert. Am Ende ist der Staat dann von Privaten abhängig. In
diesem Moment müssten wir eigentlich sagen, dass wir ein Centre Pompidou für
das Digitalzeitalter brauchen, in dem der Bürgergesellschaft wie den Politikern
erklärt wird, wie Wertschöpfung durch Daten funktioniert, was wir mit unseren
Daten tun können, wenn wir sie behalten, und wie wir bestimmte Freiheitsrechte
verteidigen können, was ja eine zentrale Idee von Kultur ist: Dass wir
bestimmte Freiheiten verteidigen, dass wir nicht alles für das Versprechen von
Komfort und Sicherheit opfern.
Eine Stadtgesellschaft war immer ein Raum, der Freiheit, Selbstverantwortung, Abenteuer und Experimente ermöglichte; die Voraussetzung dafür ist informationelle Selbstbestimmung. Das ist auch eine Basis für elementare Kulturproduktion. Man bräuchte, wenn man über Kulturbauten nachdenkt, also nicht nur Theater, Museen oder Kinos, sondern auch ein Centre Pompidou für das digitale Zeitalter.
Das sind enorme Werte, die wir mit diesen Daten als Gesellschaft generieren, wenn wir sie nicht freiwillig weggeben; mit denen könnten wir kulturelle Experimente finanzieren und uns eine gerechtere Bildungsverteilung leisten. Deshalb müssen wir auch bei der Kulturproduktion in Zukunft mehr an diese ökonomischen Grundlagen denken; wenn wir über kulturelle Räume nachdenken, muss es auch einen Raum geben, der uns die ökonomischen und technologischen Grundlagen von Freiheit vermittelt.
Neue Ideen & Fantasien fürs Kino und die Museen
Lars Henrik Gass: Das Kino war ja im strengen Sinne nie ein Kulturbau.
Das Kino hat Bauten hervorgebracht, die Ausdruck der ökonomischen Realität
waren, wie Filme im öffentlichen Raum ausgewertet wurden; dementsprechend sahen
sie aus. Zuerst war das Kino in den Peripherien der Städte, auf Jahrmärkten und
Amüsierwiesen. Dann hat man versucht, es durch fast sakrale Bauten zu einem
Teil der bürgerlichen Kultur zu machen, ehe in den 1970er-Jahren Schachtelkinos
daraus wurden.
Jetzt sind wir an dem Punkt, an dem man sich eigentlich fragt, wozu Kino eigentlich überhaupt noch nötig sein soll, denn die Verwertung von Filmen passiert mittlerweile effektiver auf digitalem Weg. Netflix hat zuletzt 200 Millionen Abonnenten erreicht; die Pandemie hat dem Kino den Rest gegeben. Es gibt eigentlich nur noch objektive, wirtschaftliche Gründe, mit dem Kino endlich Schluss zu machen, und ein bisschen cinephile Nostalgie. Die Frage ist aber, was von der kulturellen Praxis Kino übrigbleibt, die ja mediengeschichtlich eine Besonderheit darstellt durch den Zwang zur Wahrnehmung, den es im gesellschaftlichen Raum ausgeübt hat. Wie müsste aus Ihrer Sicht das Kino jetzt neu gedacht werden? Besteht da nicht gerade gegenüber den anderen Kultursparten mit ihren Kulturbauten ein Momentum?
Niklas Maak: Ich glaube tatsächlich, dass sich alle Typologien in
dem Moment ändern, wo sich das Umfeld, auf das sie bezogen sind, verändert. Das
Kino ist immer auch Teil eines Gesellschaftsrituals gewesen, dass man nach der
Arbeit noch ins Kino ging oder dass man sich mit jemandem verabredete, um ins
Kino zu gehen. Das war eine Art sozialer Filter, ein Filter von sozialen
Ritualen. Man kann sich nicht ohne Weiteres zum gemeinsamen Sehen eines
Netflix-Films verabreden; man kann das natürlich tun, aber es ist etwas
anderes, als wenn man einen Film in der Anonymität der Masse sieht.
Das Schöne beim
Kino ist, wie übrigens auch auf seine Weise beim Fernsehen in bestimmten
Zusammenhängen, dass eine große Menge von Menschen simultan etwas gleichzeitig
sieht und danach sich darüber austauschen kann. Das ist etwas, das als Qualität
gar nicht verloren gehen muss, sondern das durch bestimmte Änderungen der
Typologien erhalten werden kann, denn – auch das sieht man in der Pandemie - es
gibt ein großes Bedürfnis, ins Museum oder eben auch ins Kino zu gehen. Das hat
etwas mit der Luft zu tun, mit dem Raum und dem Licht, auch damit, wie ich
meinen Körper in einer Masse wahrnehme. Das lässt sich nicht einfach alles wegdigitalisieren.
Ich glaube, dass Kinos immer noch einen Erfahrungsraum bieten, den genügend Leute interessant finden und mögen. Etwa wenn das Foyer eines Kinos eine Aufenthaltsqualität erhält, wo man bei Regen auch mal drei Stunden sitzen kann. Bisher ist das eher auf Konsum angelegt: ein kleines Café, in dem man ein bisschen Popcorn kaufen und vielleicht eine Cola trinken kann; das war es dann aber. Doch wenn man über das Foyer nachdenkt, denkt man über das Kino als einen Raum nach, in dem Fiktionen verschiedener Art möglich und sichtbar werden; da kann es sein, dass Leute sich mit ihrem Laptop in den Vorraum setzen und sich einen Film zu zweit angucken, während andere in den Saal gehen und einen Film mit hundert anderen zusammen ansehen.
Ich glaube auch, dass das
kollektive Erleben einer Erzählung in der Menge etwas ist, das nicht
verschwinden wird, weil es ein Bedürfnis danach gibt. Das muss man aber als
Gesellschaft auch wollen und fördern. Es ist die Frage, ob das Kino immer nur
ein Raum sein muss, in dem wir ein kommerzielles Produkt anschauen. Könnte
das Kino nicht auch ein Raum sein, in dem Experimente stattfinden? In dem wir die
Leinwand verwenden, um etwas anderes zu projizieren? In dem vielleicht auch
politische Diskussionen stattfinden, bei denen man mit visuellem Material in
einem Kollektiv arbeitet? Das würde bedeuten, dass wir die Räume, die da sind,
ganz anders bespielen.
Ich habe in Harvard mal das Projekt eines Studenten betreut, der vorschlug, dass man im Foyer eines Theaters eine riesige Düne aufschüttet. Das klang zunächst wild, aber es hatte einen ganz eigenen Zauber; wenn man dort eine Liegelandschaft ermöglichte, könnte man diesen Vorraum ja auch ganz anders nutzen für die Zeit vor und die Zeit nach dem Film. Das sind alles Ideen, die gerade in einer jüngeren Generation von Architektinnen und Architekten entstehen. Ich bin deshalb ganz zuversichtlich, dass es ein Potenzial an Fantasien und Ideen gibt, wie man diese White Cubes weiterentwickeln kann. Schon deshalb mache ich mir keine Sorgen um die Zukunft von Kino, Museum und Theater.
Niklas Maak ist Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und schreibt dort vor allem über Architektur, Kunst und Stadtentwicklung. Sein jüngstes Buch, der Roman „Technophoria“, ist im Hanser-Verlag erschienen.
Lars Henrik Gass ist Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Von ihm erschien zuletzt das Buch „Filmgeschichte als Kinogeschichte. Eine kleine Theorie des Kinos“ (2019).
Alle Abbildungen in diesem Artikel entstammen dem Bildband "Film Still s" von Beat Presser und der Bildhauerin Danit, die während des ersten Locksdowns zugesperrte Kinos in Berlin fotografiert haben. Verlag Zweitausendeins, Leipzig 2021. 192 S., zahlr. Abb., 15,00 EUR. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.