Die Rolle des Juden Jakob, der in „Jakob der Lügner“ im Warschauer Ghetto ein Radio so täuschend imitieren kann, dass die Menschen an die Existenz eines echten Senders zu glauben beginnen, machte den tschechischen Schauspieler Vlastimil Brodský weltberühmt. Seine Kunst, mit spitzbübischem Lächeln oder grotesken Gesten gegen die Verhältnisse zu protestieren, grundierte nicht nur sein Schaffen, sondern auch seine Haltung gegenüber jedweder Autorität. Am 15. Dezember wäre Brodský 100 Jahre alt geworden.
Mitte der 1950er-Jahre drehte Frank Beyer an der Prager Filmhochschule FAMU eine studentische Übung. Sie hieß „Die Irren sind unter uns“. Die Hautfigur ist ein Mann, der von seiner Frau den Auftrag bekommt, mitten im kalten Winter einen Mantel zu kaufen. Doch einen solchen gibt es nicht, nur Badehosen, Tennisanzüge und Sommerkleider. Auf eine entsprechende Anfrage des Kunden antwortet der Verkäufer, dass die volkseigene Industrie ein halbes Jahr Planvorsprung hätte, deshalb müsste sich der Mann seinen Wunsch verkneifen. Für diese kleine Satire, die Beyer nach einem Entwurf von Heinar Kipphardt inszenierte, verpflichtete er den Schauspieler Vlastimil Brodský. Der besaß zu dieser Zeit schon einige Theatererfahrungen, doch auf die große Filmkarriere wartete er noch. Fast 20 Jahre später war es dann wieder Frank Beyer, der ihn für die Hauptrolle von „Jakob der Lügner“ (1975) zur DEFA holte. Und ihn auch mit nach Los Angeles nahm, als der Film für den „Oscar“ nominiert wurde: ein Ritterschlag für Beyer und Brodský gleichermaßen.
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Jakob, der Jude aus einem Warschauer Ghetto, ist ein unheldischer Held: verschmitzt und traurig, hungrig und müde und doch auch in den dunkelsten Momenten wach und lebendig. Unvergesslich jene Szene, in der Brodský für ein kleines Mädchen, um das sich Jakob kümmert, ein Rundfunkprogramm imitiert: erst einen Walzer, dann eine Rede des britischen Premiers Winston Churchill, sogar die Geräusche beim Switchen zwischen den Sendern. Zwar besitzt Jakob gar kein Radio, doch allein das Gerücht, dass er Nachrichten empfangen könne und die russischen Befreier nicht mehr fern seien, gibt den Menschen Lebensmut. Als die barmherzige Lüge auffliegt, nehmen die Selbstmorde im Ghetto wieder zu. Brodský zeigt, wie ein „kleiner“ Mensch über sich hinauswächst. Da stimmt jede Regung, jede Geste, der Blick aus den tief liegenden Augen, das Lächeln unter Tränen, der leicht gebückte Gang. Allein wie Jakob die kostbare Scheibe Brot isst: langsam, bedächtig, Biss für Biss genießend, stets nur einen winzigen Happen, und einen Tropfen Wasser dazu. Dankbar für den Moment, dem Leben zugewandt trotz allen Leids.
Brodský, geboren am 15. Dezember 1920 in Hrušov nad Odrou, erhielt in den 1930er-Jahren Schauspielunterricht bei dem berühmten Komödianten Emil František Burian und debütierte in dessen Theater. Erste Filmaufgaben erhielt er Mitte der 1940er-Jahre. In den späten 1950er-Jahren begann die Zusammenarbeit mit den für ihn wichtigsten Regisseuren: Vojtěch Jasný, Zdeněk Podskalský, Evald Schorm und Jiří Menzel. In deren Filmen entdeckte der Kritiker Fred Gehler drei Varianten von Brodskýs Komik: Zum einen spielte er naive, sogar etwas tumbe Sonderlinge, die mit den Umständen, die sie umgeben, kollidieren und daraus Kraft schöpfen, Charakterstärke und Edelmut beweisen. Zum anderen porträtierte er skurrile Zeitgenossen mit spitzbübischem Lächeln, so wie in Frank Beyers studentischer Etüde. Und schließlich gestaltete er auch jene unangenehmen Figuren, hinter deren grotesken Zügen durchaus Gefährlichkeit lauert. Das waren Rollen, mit denen Brodský „gegen einen ganzen Lebensstil, gegen eine soziale Haltung“ (Gehler) polemisierte. Solche Aufgaben erhielt der Darsteller besonders im Vorfeld des Prager Frühlings, in den 1960er-Jahren, als er zum gefragten Akteur gesellschaftskritischer Arbeiten avancierte.
Ein böhmischer Don Camillo
Seine schönsten Filmen ermöglichten ihm, das Komische, Groteske, Skurrile der Figuren sozial und psychologisch genau zu grundieren: In Jasnýs Burleske „Wenn der Kater kommt“ (1963), einem Kleinstadtmärchen über Spießbürger, Träumer und Liebende, spielte er einen Lehrer, der aus der dumpfen Enge der Provinz in die Farbenpracht der Fantasie abhebt. In Evald Schorms und Antonín Mášas „Mut für den Alltag“ (1964), schon vom Titel her ein Schlüsselfilm des Prager Frühlings, zeigte er einen übereifrigen Aktivisten, dem Zweifel an seiner Liaison mit der herrschenden Ideologie kommen. In der Parabel „Das Ende eines Priesters“ (1968) besetzte ihn Schorm dann als falschen Pfarrer, dessen sanfte Gutmütigkeit schließlich Blicke hinter die Fassaden weltlicher und kirchlicher Instanzen ermöglicht; am Ende der tragikomischen Farce landet der „böhmische Don Camillo“ wie Jesus am Kreuz.
Zu den wichtigsten Filmen Brodskýs gehörten zweifellos auch die Arbeiten seines Freundes Jiří Menzel: „Launischer Sommer“ (1968) oder der 20 Jahre lang verbotene Film „Lerchen am Faden“ (1969/70), eine sarkastische Reminiszenz an die späte Stalin-Ära. Hier ist Brodský als Professor zu sehen, der als „bourgeoises Element“ in ein sozialistisches Hüttenwerk zwangsverpflichtet wird: ein Zuchthaus, in dessen Mauern der Gefangene dennoch nicht anders kann, als die Schönheit des Daseins zu preisen. Die Leuchtkraft der Gedanken als Überlebenselixier.
Nischen beim Fernsehen und im Kinderfilm
Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings dachte Brodský keine Sekunde daran, sich unterzuordnen und in angepassten Gegenwartsfilmen aufzutreten. Er fand Nischen beim Fernsehen und vor allem im Kinderfilm, so als Inspektor Málek in den Folgen des zeitgenössischen Märchens „Pan Tau“ (ab 1976) oder als Alois in der Science-Fiction-Serie „Die Besucher“ (1983). Die DEFA verpflichtete ihn nach „Jakob der Lügner“ für die utopische Komödie „Das Ding im Schloss“ (1979), das DDR-Fernsehen als Rabbi in „Hotel Polan und seine Gäste“ (1982), einer opulenten jüdischen Familiensaga um ein Luxushotel im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Anfang der 2000er-Jahre sah man Brodský noch einmal in zwei größeren Kinorollen: In „Als Großvater Rita Hayworth liebte“ (2000) umriss er die Lebenswege eines früheren Gymnasialdirektors, der trotz Schikanen nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in seiner Heimat bleibt und seine Würde mit leiser Ironie zu bewahren weiß. Und in der Boulevardkomödie „Frühling im Herbst“ (2001) überzeugte er als pensionierter, aber dennoch rühriger Operettensänger, der sich mit frechen Streichen gegen Lethargie und Tod auflehnt. Die Subversion, die Vlastimil Brodský in diesem Film leuchten ließ, hatte er sich Zeit seines Lebens bewahrt.
Die Auszeichnung von „Frühling im Herbst“ mit dem Hauptpreis des nationalen tschechischen Filmfestivals in Pilsen erlebte der Darsteller allerdings nicht mehr. Vlastimil Brodský, der seinen Zuschauern so oft ein Lächeln auf die Lippen gezaubert hatte, war müde geworden. Schwer krebskrank und von Depressionen heimgesucht, erschoss er sich am 20. April 2002 in seinem Wochenendhaus bei Prag.