Die zehnjährige Laure – hervorragend in ihrem ersten großen Kinoauftritt: Zoé Héran – ist ein Mädchen, wie es auf der Welt etliche gibt: zartgliedrig, feinfühlig, aufgeweckt, klug. Sie hat eine vier Jahre jüngere Schwester, Jeanne, mit der sie öfters spielt und um die sie sich mit der rührenden Besorgtheit einer älteren Schwester kümmert. Doch die blutjunge Protagonistin von „Tomboy“, der Titel dieses ungemein zarten, zweiten langen Spielfilms der Französin Céline Sciamma legt es nahe, hat auch andere Seiten. Sie hat etwas Burschikoses an sich, steht dem Vater näher als der – mit dem dritten Kind hochschwangeren – Mutter. Fußball und wilde Jungenspiele im Freien interessieren sie mehr als Puppen, Bastelarbeiten und rosarot-glitzender Mädchenfirlefanz. Sie trägt ihr Haar rattenkurz, läuft meist in kurzer Hose und weitem T-Shirt herum, und als Laure mit ihrer Familie zu Beginn der Sommerferien in eine größere Wohnung an einem Ort zieht, in dem niemand sie und ihre Familie kennt, ergreift sie die Gelegenheit beim Schopf und schwindelt den Kindern im Viertel vor, sie heiße Michaël. Fortan ist Laure zu Hause ein Mädchen, gibt sich beim Spielen draußen jedoch als Junge aus – und das geht wider Erwarten lange gut. Selbst dann noch, als Laure ihren Mädchenbadeanzug eigenhändig mit der Schere auf Badehose trimmt und mit den andern an den Baggersee zum Schwimmen fährt, als sie ihre neue Freundin Lisa das erste Mal küsst und als sie Jeanne, um nicht verpetzt zu werden, notgedrungen in ihr Geheimnis einweiht.
Von der kurzen Phase, in der junge Menschen – noch bevor sie in die Pubertät geraten – unbeschwert mit Geschlechterrollen spielen, erzählt Sciamma und setzt damit die in ihrem Erstling „Water Lilies – Der Liebe auf der Spur“
(fd 38 789) begonnene Auseinandersetzung mit des Menschen Suche nach seiner sexuellen Identität fort. Dies gelingt ihr wunderbar, vor allem weil sie die Geschichte im Ungefähren belässt: schwebend, einfühlsam und zärtlich. Sie lässt sich zwar ganz auf die Neugier ihrer Protagonistin und deren stille Nöte ein, lässt ihr wunderbarerweise für die weitere Entwicklung zugleich jedoch alle Möglichkeiten offen. Das macht den Film, der sich wohltuend unaufgeregt, farbenfroh und leichtfüßig ins weite Feld zwischen René Clements „Verbotene Spiele“ (fd 2 703), Alain Berliners „Mein Leben in Rosarot“
(fd 32 825) und Lucía Puenzos „XXY“
(fd 38 775) einschreibt, absolut sehenswert. Dies auch, wenn man der Regisseurin letztlich vielleicht doch vorhalten muss, dass sie die soziale Realität zugunsten ihrer Geschichte ein wenig zu stark ausblendet.