Jedes Kind, das seit den 1960er-Jahren in Frankreich aufgewachsen ist, kennt die Geschichten von „Le petit Nicolas“. Und die humorvollen schwarz-weißen Strichzeichnungen des Karikaturisten Sempé, die den kleinen Schuljungen zu einem Ausbund an Liebenswürdigkeit, Pfiffigkeit und sanfter Anarchie machen. Ursprünglich war „Le petit Nicolas“ als wöchentlicher Comic in einer belgischen Zeitung erschienen, bevor er in Frankreich als illustrierte Kurzgeschichten-Serie publiziert wurde. Die Streiche und die Atmosphäre des Comics halbwegs adäquat in einen Film zu transportieren, ist schwer. Der Kurzfilm von 1964 (von André Michel mit Michael Lonsdale) schaffte es nicht einmal ansatzweise, den subtilen Humor der Figuren und Geschichten von René Goscinny zu übertragen, weshalb sich seither niemand mehr mit einer Verfilmung des Klassikers blamieren wollte. Bis der Regisseur und Drehbuch-Co-Autor Laurent Tirard (Jahrgang 1967) einen simplen Kunstgriff anwandte: Er drehte einen Nostalgiefilm, der den atmosphärischen Charme der Filme Jacques Tatis fürs Design aufgreift und die humorvolle Figurengestaltung aus „Zazie in der Metro“ (fd 9863) von Louis Malle. Das funktioniert: Man schmunzelt über den kleinen Nicolas (in der deutsche Fassung: Nick), auch wenn er mit Maxime Godart eine Spur zu nett und zu wenig listig besetzt ist, und vor allem über Victor Carles als Clotaire (Chlodwig), der so schön begriffsstutzig und naiv erscheint. Fast ein Dutzend Minigeschichten wurden schlüssig in die Rahmenhandlung integriert: vom kreativen Chaos, das die Jungs beim Aufstellen fürs Klassenfoto entfachen, bis zum Besuch des Ministers in der Schule, bei dem alles Mögliche schief läuft. Sogar eine Hommage ist untergebracht: Gérard Jugnot, der Chorleiter aus „Die Kinder des Monsieur Mathieu“
(fd 36 671), dirigiert den Schulchor mit den Knaben, die diesmal grauenhaft daneben singen.
Neben den üblichen Gags – einer der acht kindlichen Protagonisten ist dick und hat dauernd Hunger, einer ist der Klassenstreber, einer hat reiche Eltern – bedrückt Nick vor allem der Gedanke, ein Brüderchen zu bekommen und dann nicht mehr der Liebling seiner Eltern zu sein, weshalb das Baby am besten im Wald ausgesetzt würde. Seine Freunde teilen die Bedenken und finden eine Lösung: man könnte ja einen Kidnapper anheuern, der das Baby entführt. Das tun sie dann nach etlichen Hindernissen auch, doch das Kidnapping unterbleibt, weil ein anderer Junge voller Stolz davon erzählt, wie schön es ist, ein großer Bruder zu sein. Es gibt noch eine weitere Rahmengeschichte des teils aus der Ich-Perspektive erzählten Familienfilms: Am Anfang sitzt Nick hilflos über dem klassischen Schulaufsatzthema, wie er sich seine Zukunft vorstelle; dabei fühlt sich Nick doch ganz glücklich, so, wie er jetzt ist. Nach allen Streichen und Turbulenzen weiß er am Ende natürlich, was er will: das, was schon der Zeichner Jean-Jacques Sempé 1960 wollte, als er Nicks Figur erfand: die Menschen zum Lachen zu bringen.
Die Situationskomik, das präzise Timing und vor allem die natürlich spielenden Kinder machen das Flair des bewusst im Retro-Look gehaltenen Spielfilms aus, denn die den Geist der 1960er-Jahre atmenden Geschichten passen nicht in die technisierte Gegenwart. Zusammen mit den typischen Möbeln, Kleidern und Bonbonfarben ergibt sich ein stimmiges Bild, das nur von zwei eklatanten Fehlgriffen getrübt wird. Nicks Eltern Valérie Lemercier und Kad Merad überspielen maßlos, und ihrer Geschichte (die sich eher an die erwachsene Zuschauer richtet) wird zu viel Raum gegeben: Das zänkische Ehepaar verzettelt sich, als es um die Vorbereitung eines Abendessens für den Chef von Nicks Vater geht – auch das ein typisch französisches (Film-)Thema. Hingegen ragt Sandrine Kiberlain als Klassenlehrerin der kleinen Rasselbande heraus, die geduldig immer wieder versucht, ihren untalentierten und unwilligen Schülern etwas beizubringen. Sie agiert ähnlich natürlich und zugleich absolut buchgerecht wie die Kinder.
Der mit einem Budget von 22 Mio. Euro produzierte Film war die mit weitem Abstand erfolgreichste französische Komödie 2009. In der deutschen Fassung fehlen zwangsläufig einige Facetten. Das fängt schon bei den (allerdings nicht erst für den Film, sondern schon für die Bücher) eingedeutschten Namen der Kinder an: aus Geoffrey wird Georg, aus Eude Franz, aus Alceste Otto, aus Clotaire Chlodwig, aus Agnan Adalbert, aus Rufus Roland, nur Joachim heißt auch im Original schon so. Vor allem aber fehlt in Deutschland das, was in Frankreich so viele ins Kinos trieb: die Erinnerung an ihre eigene Kindheit mit den Büchern über Nicolas.