Die israelische Filmemacherin beobachtet den Jerusalemer Seniorenclub "Mount Herzl Academy", dessen betagte Mitglieder sich jeden Samstag am Rand des gleichnamigen Nationalfriedhofs treffen, um aktuelle weltgeschichtliche Fragen zu debattieren, aber auch, um über Leben und Tod allgemein sowie und über den Holocaust zu reden. Ein zärtliches, subtil humorvolles dokumentarisches Gruppenporträt, das ernste Themen mit einfühlsamer Anteilnahme aufgreift und einen zugleich vergnüglichen Blick auf das Leben und die Würde alter Menschen wirft. (O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 14.
The Cemetery Club
Dokumentarfilm | Israel 2006 | 92 Minuten
Regie: Tali Shemesh
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Filmdaten
- Originaltitel
- MOADON BEIT HAKVAROT
- Produktionsland
- Israel
- Produktionsjahr
- 2006
- Produktionsfirma
- Norma Prod.
- Regie
- Tali Shemesh
- Buch
- Tali Shemesh
- Kamera
- Sharon de Mayo
- Musik
- Rona Kenan · Eldad Gwetta
- Schnitt
- Aliza Esquira
- Länge
- 92 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Die israelische Filmemacherin Tali Shemesh, Jahrgang 1969, nähert sich in ihrem sehr persönlichen Dokumentarfilm dem Thema der Holocaust-Überlebenden mit unerwarteter Unbeschwertheit und wagt sogar, ihren Protagonisten, darunter auch die eigene Großmutter, mit ironischem Augenzwinkern zu begegnen. Aus diskreter Entfernung zeigt sie, wie jeden Samstag Morgen am Nationalfriedhof Mount Herzl die gleiche Prozession stattfindet: Ausgestattet mit Plastik-Klappstühlen und Snacks zieht eine Gruppe älterer Menschen an dem Grabstein des Wegbereiters des politischen Zionismus vorbei, um es sich am Rande des Friedhofs auf einer Wiese im Schatten einer Kiefer bequem zu machen. Bevor die agilen Senioren die „Mount Herzl Academy“ tagen lassen, plaudert man unterwegs zum kühlen Plätzchen in der jeweiligen Muttersprache, zumeist Polnisch, und tauscht Neuigkeiten aus.
Fünf Jahre lang hat Tali Shemesh die Gruppe in Jerusalem begleitet, deren Zweck, neben der Diskussion kultureller und zeitgeschichtlicher Fragen, laut Satzung darin besteht, der Vereinsamung im Alter entgegenzuwirken. Lautstark und mitunter hitzig behandeln die gebildeten und mehrsprachigen Rentner in ihrem Debattierzirkel Fragen des Lebens und des Sterbens und stimmen auch schon mal darüber ab, ob man ein deutsches Gedicht im Original vorlesen sollte. Nicht selten eskalieren die Gespräche und müssen durch den schrillen Pfiff einer Trillerpfeife unterbrochen werden. Immer wieder drehen sich die Diskussionen auch um die Shoa, um den Verlust von Familie, Freunden und Bekannten. Im Mittelpunkt stehen Minya, die eher schweigsame und bescheidene Großmutter der Regisseurin, und Lena, deren dominante Schwägerin – zwei in ihrem Temperament gegensätzliche Frauen, die wohl nur das Schicksal zusammengeführt hat. Nach und nach kristallisiert sich ein latenter Konflikt zwischen den beiden Damen heraus, die gerne gemeinsam ausgiebige Meerbäder absolvieren und dabei auch schon mal über Gott und die Welt aneinander geraten. Diese mitunter wunderbar komischen Streitereien konterkariert Shemesh mit ergreifenden Erzählungen von der Zeit im Ghetto, der Ankunft in Auschwitz oder Aufnahmen von der Reise nach Polen, wo die Großmutter vor dem Haus ihrer Kindheit mit Tränen kämpfend der Kamera den Rücken kehrt.
Wie ein unsichtbarer Beobachter bewegt sich die Regisseurin mit viel Taktgefühl innerhalb der Gruppe, von deren Mitgliedern einige nach und nach sterben. Im Zentrum von Shemeshs Interesse steht dabei das private Drama der selbstbewussten und wortgewandten Lena, die sie stellvertretend für die Kollektiverfahrung derer fokussiert, die den Nazi-Terror überlebt haben. Was Shemesh jedoch kritisch in Frage stellt, sind Momente, bei denen die traumatischen Berichte der Porträtierten in Schweigen umschlagen, ohne dabei die Einzigartigkeit ihrer schmerzlichen Erfahrungen anzuzweifeln. Vor allem bei Lena stößt die Regisseurin immer wieder auf heftige Abwehr. Auf der anderen Seite lässt diese auch sehr intime Momente zu, in denen sie sich verletzlich zeigt und gerade im Kontrast zu ihrer gelegentlichen Unnachgiebigkeit die in ihrer Jugend zurückliegenden Gründe für ihr Verhalten erkennen lässt. Dass sich Shemesh bei allem Respekt die Entscheidungsfreiheit über den Einsatz des gefilmten Materials nicht nehmen lässt, macht die Diskussion über den Filmtitel deutlich: Lena wehrt sich nachdrücklich dagegen, ihre „Mount Herzl Academy“ als „The Cemetery Club“ verunglimpft zu sehen und fordert einen anderen Titel. Einen Schnitt weiter flimmert die Überschrift „The Cemetery Club“ über die Leinwand.
Mit ihrem zärtlichen und subtil humorvollen Blick weist die Regisseurin über die Thematik des Holocaust hinaus. Das große Verdienst ihres unverbrauchten Ansatzes ist es, zu zeigen, wie man in Würde altern und im Fall der Clubmitglieder mit den Verlusten und Schreckenserinnerungen leben kann. Ihren Protagonisten gesteht sie ein ganzes Spektrum an Eigenschaften zu, zeigt ihre Schwächen und Stärken und vermeidet die üblichen Erwartungen an die Darstellung alter Menschen als starrsinnige, auf Hilfe angewiesene Opfer. Ein so einfühlsamer wie vergnüglicher Dokumentarfilm über ein ernstes Thema, der Shemesh zu Recht den ersten Preis beim Dokumentarfilmfestival in Leipzig und eine Nominierung für den Europäischen Filmpreis 2006 einbrachte.
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