Falscher Bekenner

Drama | Deutschland 2005 | 90 Minuten

Regie: Christoph Hochhäusler

Ein Jugendlicher, der die Realschule hinter sich gebracht hat, treibt ohne Ziel und inneren Antrieb durchs Leben und begibt sich unwillig auf Jobsuche. Durch anonyme Bekennerschreiben, in denen er mutwillig die Schuld am Unfalltod eines Bankiers auf sich nimmt, will er seinem Dasein einen "Kick" verschaffen. Vielschichtige Studie einer Identitätssuche als stilles Porträt einer indifferenten Generation, die ihre Verweigerungshaltung kultiviert. Zugleich wirft der Film ein beredtes Schlaglicht auf eine Gesellschaft, der eine zentrierende Mitte abhanden gekommen ist. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Heimatfilm
Regie
Christoph Hochhäusler
Buch
Christoph Hochhäusler
Kamera
Bernhard Keller
Musik
Benedikt Schiefer
Schnitt
Stefan Stabenow
Darsteller
Constantin von Jascheroff (Armin Steeb) · Manfred Zapatka (Martin Steeb) · Victoria Trauttmansdorff (Marianne Steeb) · Nora von Waldstätten (Katja Fichtner) · Devid Striesow (Martin Steeb jr.)
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
Piffl (16:9, 1.78:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Der Inhaber von „Farben Striesow“ hat es echt ’raus, engagiert er doch Jugendliche, die öffentliche Flächen mit Graffitis „verzieren“, um anschließend von der Stadt beauftragt zu werden, die „Schmierereien“ wieder zu übermalen. „Man muss sich eben zu helfen wissen!“, lautet der Tenor des aufgekratzt-gutgelaunten Familientreffens bei den Steebs. Armin, der gerade seinen Realschulabschluss gemacht hat, nerven solche Sprüche seines Vaters. Er weiß nicht, wohin mit sich, hat keine Zukunftspläne. Bequem wäre es gewesen, wenn er zur Bundeswehr gedurft hätte, aber als jüngstes von drei Kindern ist er von der Wehrpflicht befreit. Jetzt muss er sich selbst einen Ort im Leben suchen. Armins Eltern beobachten ihren Sohn aus einer gewissen Distanz, wissen nicht so recht, was sie von ihm halten sollen, wie sie ihm helfen können. So richtig verstehen sie die Welt ohnehin nicht mehr. Zudem sind sie mit sich selbst beschäftigt; aus Armins älteren Brüdern ist schließlich doch auch etwas geworden, trotz des „schwierigen Arbeitsmarkts“, wie die Mutter sagt. „Eine Bewerbung pro Tag“, hat Armin seinen Eltern versprochen. Lustlos tippt er sie formelhaft in den Computer; bei den wenigen Bewerbungsgesprächen scheitert er regelmäßig an der Selbstdarstellung. Sich auf eine Stelle zu bewerben, erscheint fast wie eine obszöne Anmaßung, für die man sehr gute Gründe mitbringen sollte. Diese Gründe – in einigen Szenen entwickelt „Falscher Bekenner“ eine erstaunlich böse Komik – hat Armin nicht zu bieten, weshalb er sich in rhetorische Floskeln flüchtet. „Man muss sich eben verkaufen“, weiß der ältere Bruder Martin ungeduldig beim simulierten Bewerbungsgespräch. „Verkaufen“ aber kann Armin sich nicht. Wenn er es trotzdem versucht, scheitert er drastisch. Lieber verläuft er sich nachts im Niemandsland entlang der Autobahnen, sucht auf Rastplätzen Toilettenhäuschen auf und schreibt obszöne Sätze an die Wände. Immer wieder hat er Tagträume von schwulem Sex mit einer Gruppe von Motorradfahrern, die in diesem Ambiente spielen. Eines Nachts entdeckt er einen Autounfall, im Autowrack liegt ein toter Banker. Armin nimmt ein Stück der Lenkstange vom Unfallort mit. Kurz darauf schickt er ein anonymes Bekennerschreiben an die Polizei, indem er sich eines Anschlags auf den Banker bezichtigt. Genauer: Er reklamiert dessen Unfalltod als Tat für sich. Christoph Hochhäusler („Milchwald“, fd 36 760) hat im Zusammenhang mit seinem zweiten Spielfilm „Falscher Bekenner“ davon gesprochen, dass dieser sich um „Sichtbarkeit“, ums Sichtbarwerden drehe. Konsequenterweise nimmt der Film deshalb die Perspektive des Außenseiters Armin ein, der mehrfach nicht nur symbolisch hinter einer Glaswand steht und seine Mitmenschen beobachtet: langsam, abwesend, verträumt. Immer wieder entzieht sich Armin dem Sozialen, sei es in seinem Zimmer, im Bad, bei Spaziergängen mit seiner Familie. Armin ist eine unbestimmte Leerstelle, ein Junge ohne Eigenschaften: keine ausgeprägten Interessen, kein Ehrgeiz, kein Job (nur „Mittlere Reife“) und keine Freundin. Als er bei einem Bewerbungsgespräch gebeten wird, sich selbst zu beschreiben, notiert er lediglich überprüfbare Fakten wie Körpergröße, Gewicht, Haar- und Augenfarbe. Eine fiktive heterosexuelle Beziehung zur älteren Nachbarstochter Katja bleibt im Ungefähren. Auf ihre Frage, was er „so“ tue, antwortet er mysteriös: „Ich glaube, das willst Du lieber nicht wissen.“ Was sollte er denn auch antworten? Dass er „nichts“ tut, dass er seinem Bruder nebenher eine schöne Überraschung versaut, dass er gerne mal in die Badewanne pinkelt? Doch, etwas gibt es noch: „Wenn ich mir einen ’runterhole, denke ich dabei an Dich!“ Auch dies ist nicht unbedingt ein brauchbarer Satz, um eine Beziehung zum anderen Geschlecht zu initiieren. Immerhin: Die ermittelnden Behörden und die örtlichen Medien reagieren auf Armins Bekennerbriefe. Plötzlich ist „er“ Thema der Nachrichten des Stadt-Fernsehens. So macht seine „Arbeit“ Dinge sichtbar, die sonst unsichtbar blieben. „Guck’ mal, das ist ja unsere Autobahnauffahrt!“, jubelt der Vater angesichts der Fernsehbilder. Armins kreative Arbeit an der Fiktion hat angedockt, seine Geschichten erzielen Wirkung, werden von anderen weiter erzählt, mit Bedeutung ausgestattet. Die Polizei, wird berichtet, sei „in Alarmbereitschaft“, und die Regionalpresse raunt: „Der Terror rückt näher!“ Erinnerungen an die RAF mischen sich in die Gespräche am Esstisch: Hatten die Terroristen nicht auch jene Orte gesucht, deren größte Qualität darin bestand, sie zügig wieder verlassen zu können? Andererseits: Ohne Eigeninitiative funktioniert Armins Sichtbarwerdung nicht. Ein falscher Bekenner, ein Trittbrettfahrer ist schnell Schnee von gestern. Allenfalls bleiben „fünf Minuten“ Starruhm. Mit seiner Verweigerungshaltung unterscheidet sich Armin beispielsweise von seiner „Freundin“ Katja. Die hatte sich nämlich zuvor wiederholt als williges Mitglied der „Génération Précaire“ gezeigt, auf „Selbsterfahrung“ gemacht und mit Psycho-Theorien jongliert. „Ich mache gerade so eine Art Seminar, das ist voll spannend.“ Wie man es auch dreht: Armin ist da schon einen Schritt weiter, hat er doch begriffen, dass die Ausbeutung fremder Arbeitskraft mehr Profit abwirft. Insofern ist Christoph Hochhäuslers irritierend vielschichtige Studie auch nicht nur als Porträt einer indifferenten Generation, sondern ein recht umfassendes und schlüssiges Bild einer Gesellschaft, der die eigene Mitte bereits vor Jahrzehnten abhanden gekommen ist. Hier muss man lernen, sich zu verkaufen, was aber immer schwieriger wird, weil die Nachfrage nach Arbeitskräften auf dem Markt abnimmt. Wohl dem, der – wie Armins Brüder – noch einen Platz erobert hat. Hochhäusler zeigt die Bundesrepublik als Konglomerat von Nicht-Orten: In die Jahre gekommene Vorstadt-Architektur, Autobahnen, Schnellrestaurants, Tennishallen und Brachland. Autoritäten sind dekonstruiert, an ihre Stelle sind die netten Eltern getreten, die sich ein wenig sorgen und ansonsten ihren eigenen Hobbies nachgehen, ältere Brüder, die reibungslos funktionieren, für die Rebellion keine Option mehr ist. Traditionelle Zeichen dafür wie Popmusik, Literatur oder Kino spielen in „Falscher Bekenner“ keinerlei identitätsstiftende Rolle mehr, Erinnerungen an die RAF sind so weit weg wie die Bilder der Ölkrise. Ein Satz wie „Der Terror rückt näher!“ wirkt in diesem Kontext fast schon wie ein Versprechen auf eine bessere Zukunft. „Falscher Bekenner“ steht nicht allein da. In Filmen von Angela Schanelec („Mein langsames Leben“, fd 35 048) oder Ulrich Köhler („Bungalow“, fd 35 810) kann man Variationen dieser speziellen Form der Lebensverweigerung ebenso erkennen wie in Romuald Karmakars präzisem „Die Nacht singt ihre Lieder“ (fd 36 368), in dem Manfred Zapatka eine vergleichbare Vaterrolle spielt. Die Alten sind noch ganz schön fit, wollen ihren Teil vom Kuchen und sind ansonsten froh, dass sie mit Dingen wie Arbeitsmarkt und Berufseinstieg nichts mehr zu tun haben. Wer ein gutes Gedächtnis hat, darf sich auch an Thomas Arslans „Mach die Musik leiser!“ (1985) oder an Michael Kliers „Überall ist es besser, wo wir nicht sind“ (fd 28 148) erinnern, die Atmosphären wie in „Falscher Bekenner“ schon vor mehr als zehn Jahren registrierten. Damals war die Schauspielerin Laura Tonke, die bei Hochhäusler gerade Mutter wird, noch (fast) ein Teenager. Vielleicht muss man tatsächlich wieder von einer verlorenen Generation sprechen.
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