Wer den Unterschied zwischen der europäischen und der amerikanischen Moderne verstehen will, braucht nur die Adaptionen des Nietzscheanischen Übermenschen zu vergleichen. Während in der alten Welt realitätsstiftende Ideologien der Unterwerfung daraus wurden, schlüpfte der amerikanische Übermensch ins Kostüm eines fiktiven Superhelden: der Comicfigur Superman. Aus seiner Rippe entsprang ein Geschlecht, das als Apotheose des freundlichen Schutzmanns von nebenan gar nicht anders kann als Gutes tun. Danach dauerte es bald fünfzig Jahre, bis der Gedanke, dass all die „Captain Americas“ nicht nur des Menschen Helfer sind, sondern auch seine schlimmste Kränkung, ins Bewusstsein der Comicwelt einging: „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll“, sprach Nietzsches Zarathustra, „was habt ihr getan, um ihn zu überwinden?“
Zu Beginn von „Die Unglaublichen“ geschieht etwas wirklich ungeheuerliches: Die Menschen von New York werden ihrer Retter überdrüssig und zwingen sie ins Exil einer normalen Existenz. Ähnliches passiert auch in den beiden „X-Men“-Filmen (fd 34 428; fd 35 940), in denen die Superkräfte ein gesellschaftliches Stigma sind. Doch „Die Unglaublichen“ ist ein Animationsfilm aus dem Hause Pixar und für ein kindliches Publikum gemacht. Tatsächlich ist das von Brad Bird inszenierte Epos ein Kompendium der jüngsten Welle von Comic-Verfilmungen, in dem die Ecken und Kanten der Superheldensagas sorgsam abgeschliffen wurden und doch genug Material für eine reflexive Innenschau geblieben ist. Eine derart ins eigene Genre verguckte Kinderfabel hat man seit langer Zeit nicht mehr gesehen.
Was geschieht nun mit einem Superhelden im unfreiwilligen Ruhestand? Er wird entweder fett und depressiv wie Bob Parr aka Mr. Incredible oder geht wie Mrs. Incredible ganz in ihrer neuen Rolle als Hausfrau und Mutter auf. Während Helen Parr ihr früheres Leben als beliebig dehnbares Elasti-Girl bei der Bändigung einer gleichfalls mit Supertalenten gesegneten Kinderschar immer noch von Nutzen ist, sind die kolossalen Kräfte des Hausherrn in einem grauen Bürowürfel offenkundig verschwendet. Als einzige Freude sind Bob die Treffen mit dem alten Kampfgefährten Frozone geblieben, bei denen die außer Gefecht gesetzten Streiter für Gerechtigkeit schwermütig den Polizeifunk abhören, um dann heimlich, still und leise ein oder zwei Menschenleben vor einem traurigen Schicksal zu bewahren. Eine mysteriöse Botschaft lässt Mr. Incredible dann jedoch aus der Asche seines bürgerlichen Lebens steigen: Er wird zu einem Spezialauftrag in die karibische See gerufen, besiegt einen außer Kontrolle geratenen Kampfroboter – und ist damit schon in die Falle getappt. Sein anonymer Auftraggeber plant nämlich die Ermordung sämtlicher Superhelden, um die Menschheit anschließend selbst vor seinen eigenen Kreationen retten zu können.
Mit „Die Unglaublichen“ hat Pixar zum ersten Mal eine Produktion herausgebracht, die nicht von Anfang an im eigenen Haus entwickelt wurde. Drehbuch und Regie stammen von Brad Bird, der sich seine Meriten bei der „Simpsons“-Serie erworben hat und für Warner Bros. den wundervollen Zeichentrickfilm „Der Gigant aus dem All“
(fd 34 011) insze-nierte. Offenbar war Bird schon lange mit seiner Idee schwanger gegangen, bevor er in Pixar den passenden Partner fand: Regisseur und Studio stehen für eine Form der Unterhaltung, die das kindliche Klientel bedient, ohne das erwachsene Publikum zu verprellen – und umgekehrt. Auch „Die Unglaublichen“ vereint über weite Strecken das beste aus den Kunstwelten von Real- und Animationsfilm. Handlung und Set-Design brauchen den Vergleich mit dem avancierten Actionkino nicht zu scheuen und haben an Rasanz und Einfallsreichtum die Nase vorn. So sticht die unterirdische Schurkenwelt die eines jeden Bond-Films aus, und was die Langbeinigkeit weiblicher Figuren betrifft, haben die Animateure uneinholbare Maßstäbe gesetzt.
Enttäuscht wird hingegen, wer sich nach der Exposition eine eingehende Erkundung des Superheldenphänomens erwartet hatte. Obwohl in „Die Unglaublichen“ beständig auf die Andersartigkeit der Parrs verwiesen wird, will Brad Bird partout kein Interesse an den Beweggründen der undankbaren New Yorker zeigen. Stattdessen menschelt es bei Supermanns gehörig: Die Welt können sie nur gemeinsam retten, und so obsiegt, nachdem auch die Nachkommen ihr Scherflein zum Gelingen beigetragen haben, vor allem der Familiensinn. Das ist nicht wenig, doch wäre die Botschaft überzeugender gewesen, wenn die gewöhnliche Menschheit mehr als nur staunendes Publikum gewesen wäre – und die Welt mehr als ein zerfurchtes Spielfeld für Superhelden und Superschurken.