Trilogie: Cavale - Auf der Flucht

Gangsterfilm | Frankreich/Belgien 2002 | 111 Minuten

Regie: Lucas Belvaux

Nach 20 Jahren bricht ein Terrorist aus dem Gefängnis aus. Die Geliebte von einst, die er in Grenoble aufsucht, führt inzwischen ein bürgerliches Leben und will nichts mehr von ihm wissen. Der Ausbrecher sucht Kontakt zu einem Mafia-Boss, tötet einen Mann und rettet eine Drogensüchtige, die ihm helfen will, ins Ausland zu fliehen. Der mittlere Teil der Filmtrilogie von Lucas Belvaux ist Thriller, Charakterstudie und Gesellschaftsdrama in einem und beschreibt einen Mann, der sein altes Leben wieder aufnehmen will und nicht versteht, warum dies nicht funktioniert. Die an Verfolgungsjagden reiche Gangstergeschichte funktioniert primär über Blicke, Gesten und wenige sprachliche Andeutungen. (O.m.d.U.; vgl. "Trilogie: Après la vie - Nach dem Leben" und "Trilogie: Un couple épatant - Ein tolles Paar") - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
CAVALE | LA TRILOGIE: CAVALE
Produktionsland
Frankreich/Belgien
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Agat/Canal +/CNC/Cofimage 12/Entre Chien et Loup/Eurigames/Gimages 5/Natexis Banques Populaires Images 2/RTBF/Rhône-Alpes Cinéma
Regie
Lucas Belvaux
Buch
Lucas Belvaux
Kamera
Pierre Milon
Musik
Riccardo Del Fra
Schnitt
Ludo Troch
Darsteller
Lucas Belvaux (Bruno Le Roux) · Catherine Frot (Jeanne Rivet) · Dominique Blanc (Agnès Manise) · Ornella Muti (Cécile Costes) · Gilbert Melki (Pascal Manise)
Länge
111 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Gangsterfilm | Drama | Thriller

Diskussion
Schweinwerfer leuchten auf: Bruno, der Terrorist, flieht nach gut 15-jähriger Haft aus dem Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses. Er und ein Kumpel fahren mit einem Auto durch die Nacht, bis sie erneut Scheinwerfer blenden; diesmal von Polizeiwagen, die sich ihnen in den Weg stellen. Sie versuchen, die Sperre zu durchbrechen – und landen an einem Baum. Die wortlose, nur von Geräuschen begleitete Szene hat etwas von einem Videospiel, bei dem nur einer das nächste Level erreicht. So kommt Bruno nach Grenoble, wo er einst mit seiner Geliebten Jeanne anarchistische Flugblätter verteilte und zum bewaffneten Kampf aufrief. Jeanne, das weiß man aus „Trilogie: Un couple épatant – Ein tolles Paar“ (fd 36 577), ist Lehrerin und eine Freundin von Cécile; aber eine ziemlich farblose – zumindest hat sie sich am Intrigenspiel um Alain nicht beteiligt. Sie ist verheiratet, hat ein Kind und führt ein bürgerliches Leben. Nur kurz ist die Freude, als sie Bruno wiedersieht. Mit ihrer Vergangenheit hat sie abgeschlossen; sie verbrennt sogar die alten Flugblätter, die sie aus Nostalgie im Schrank versteckt hatte. Derweil hat sich Bruno in einer Garagen- Wohnung verschanzt, sich einen neuen Pass gebastelt und einen Sprengsatz, mit dem er ein Haus in Flammen aufgehen lässt. Er will die Freilassung seiner beiden inhaftierten Freunde der „armée populaire“ erzwingen und plant, das Polizeipräsidium in die Luft zu sprengen. Doch die Sache funktioniert nicht. Bruno tötet den Handlanger eines Mafia-Bosses, als der ihn an einen Polizisten verrät – an Pascal, den Ehemann einer weiteren Kollegin von Cécile. Pascal verhört Jeanne, ohne Erfolg, und Bruno hilft eher zufällig einer jungen Drogensüchtigen, die von dem Dealer abgewiesen wird, der Bruno endlich zum Boss führen soll. Die Süchtige ist Agnès, Pascals Frau, die im ersten Film auf Céciles Party zusammenbrach. Agnès stirbt fast an einer Überdosis, aber Bruno rettet sie. Agnès nimmt ihn mit in ihre Wohnung – und bittet wenig später Cécile um ihr Auto und ihren Schlüssel zum Chalet, angeblich um dort eine Liebesnacht zu verbringen. Man erinnert sich, dass Bruno im ersten Film einmal kurz mit Agnès zu sehen war. Aber hieß er da nicht Pierre? Und sah er da nicht ganz schüchtern und harmlos aus?

Der fast ausschließlich mit Handkamera gedrehte Film ist ein Musterbeispiel für einen spannenden, wortlosen Thriller und zugleich eine Studie über die Einsamkeit eines Terroristen auf auswegloser Flucht. In keinem Film der Trilogie wird so wenig geredet wie hier, und in keinem spielt Lucas Belvaux so geschickt mit Schatten und anderen typischen Stummfilm-Elementen. Das ungewöhnlichste Stilelement ist jedoch die Musik: Fast ununterbrochen hört man einen Kontrabass, der mit eingängigem dunklem Ostinato die Taten des Einzelgängers begleitet und zum wesentlichen Element des Spannungsaufbaus wird. Der Bass ist es auch, der trotz schneller Läufe und Fahrten bei den diversen Verfolgungsjagden für ein retardierendes Moment sorgt. Im Mittelpunkt steht ein Paar, das keines mehr ist: Bruno und seine alte Liebe Jeanne, die nichts mehr von ihm wissen will. Diese Gefühlskälte hat Belvaux sowohl in die Geschichte als auch in die Bilder eingeschrieben. Immer wieder sehen sich die Protagonisten ausdruckslos an; man spürt, welche Welten zwischen ihnen liegen. Bruno versteht Jeanne nicht und erkennt nicht, dass sich die Welt verändert hat, während er im Gefängnis saß. Unfähig, sich selbst zu ändern, plant er mit der ihm eigenen Ruhe und Beharrlichkeit seine jeweils nächste Aktion. Pascal, der Polizist, der schon im ersten Film phlegmatisch erschien, scheint Bruno eher hilfund lustlos nachzustellen. Die Episode mit der drogensüchtigen Agnès – die beiden werden kein Paar, sondern sind nur eine Notgemeinschaft – bringt bisweilen komische Elemente ins Spiel und knüpft ebenso an den ersten Film an wie die Tatsache, dass Bruno einmal barfuß fliehen muss und sich später die Schuhe des toten Mafia-Bosses anzieht. Die Szene, in der er Agnès – einem Junkie, in dem man kaum die Lehrerin aus dem ersten Film erkennt – das Leben rettet, weist dagegen voraus auf den dritten Film, auf „Trilogie: Après la vie – Nach dem Leben“ (fd 36 591).

Ursprünglich sollte die spannende „Auf der Flucht“-Geschichte die Trilogie eröffnen, zumal sie mit der Frage nach der Legitimität von Gewalt in der Gesellschaft das grundsätzlichste Thema behandelt; Belvaux entschied sich aus psychologischen Gründen jedoch dagegen, denn Bruno ist der einzige Protagonist, der stirbt – und Belvaux wollte den Zuschauer dazu bringen, alle Hauptpersonen in jedem der Filme unter neuen Vorzeichen zu sehen, weil eben nichts und niemand so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Was bei Alain und Cécile in „Cavale“ sehr schön funktioniert; wirken sie nun doch wie ein ganz normales, gelangweiltes Ehepaar, dem man Eifersüchteleien und Lügen gar nicht zutraut.

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