Literaturverfilmung | Brasilien/USA/Frankreich 2002 | 128 Minuten

Regie: Fernando Meirelles

In Form einer subjektiven Chronik erzählte Geschichten aus dem Leben einer Barackensiedlung am Rande von Rio de Janeiro. Die ebenso eindrucksvolle wie bestürzende Adaption eines Romans erzählt in drei Kapiteln die Stationen eines mörderischen Cliquenkampfes unter Kindern und Jugendlichen, die den Drogenhandel in der Favela kontrollieren. Ein filmisches Meisterwerk voller Perspektivwechsel, deren unzählige Episoden präzise die sozialen Umstände und den Bandenalltag schildern, ohne den erzählerischen Faden aus den Augen zu verlieren. Der visuelle und akustische Einfallsreichtum speist sich dabei aus Anleihen bei der globalisierten Popkultur. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
CIDADE DE DEUS
Produktionsland
Brasilien/USA/Frankreich
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
O2 Filmes/VideoFilmes/Globo Filmes/Lumière/Studio Canal/Wild Bunch
Regie
Fernando Meirelles
Buch
Bráulio Mantovani
Kamera
César Charlone
Musik
Antonio Pinto · Ed Côrtes
Schnitt
Daniel Rezende
Darsteller
Alexandre Rodrigues (Buscapé) · Leandro Firmino da Hora (Zé Pequeño) · Matheus Nachtergaele (Sandro Cenoura) · Philippe Haagensen (Bené) · Jonathan Haagensen (Cabeleira)
Länge
128 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Die Extras der Doppel-DVD umfassen u.a. eine sehr informative, etwa 60-minütige Dokumentation zum Film.

Verleih DVD
Highlight Video (16:9, 1.85:1, DD5.1 port./dt., DTS dt.)
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Diskussion
„Kann jemand von euch schreiben?“ „Ich. Ein bisschen.“ „Gut, dann mach ’ne schwarze Liste, wo alle drauf stehen, die wir kalt machen wollen.“ „Au, ja!“ Jugendliche, die Kinder töten oder zumindest davon träumen, teilweise kindlich, jugendlich unmotiviert, teilweise als Teil eines Initiationsritus: so unheimlich, aber auch etwas komisch endet nach etwas mehr als zwei Stunden der furiose Ausflug nach Cidade de Deus, einer vom Staat errichteten Favela am Rande von Rio de Janeiro. Unzählige Geschichten, Exkurse und Details aus mehr als zwei Jahrzehnten werden innerhalb der überschaubaren Spieldauer präsentiert, teilweise komplex zwischen Rückblende und Vorwissen vernetzt, teilweise perspektivisch verdoppelt und variiert, alles zusammengehalten vom (fast) allwissenden Off-Erzähler Buscapé. Der Film beginnt sein erzählerisches Mäanderwerk denkbar skurril: Ein Messer wird geschärft, das Geräusch gibt den Takt vor, Musik setzt ein, ein Huhn versucht, seiner Bestimmung bei einem Straßenfest zu entkommen. Die Verfolgungsjagd des Huhns endet mit einem Italo-Western-Showdown: Plötzlich stehen sich die schwerbewaffnete Jugendbande und die Polizei gegenüber, Buscapé befindet sich mit seiner Kamera in der Mitte; die Kamera beschreibt eine rasante Kreisbewegung, das Bild friert ein. Doch die Geschichte hinter dieser rätselhaften, hier nur aufblitzenden Konstellation kann nur begreifen, wer viel früher ansetzt, irgendwann in den späten 1960er-Jahren, als die „Wild Angels“ noch auf dem schmalen Grat zwischen halbkriminellen Jugendstreichen und stilisierten Gangsterattitütden agierten. Die „Wild Angels“ – Alicate, Buscapés älterer Bruder Marreco und Benés älterer Bruder Cabeleira – waren die Helden der Vorstadt. Doch die Idee zu ihrem größten Coup, einem Raubüberfall auf ein Bordell, stammt vom Nesthäkchen der Bande: Löckchen. Er ist es auch, der schließlich den Schritt zum wirklichen Gangster geht und den Bordellüberfall für ein Blutbad nutzt, aus reiner Mordlust. Dieses Massaker bedeutet das Ende der Unschuld, das Ende der „Wild Angels“. Jahre später beherrschen „Löckchen“, jetzt „Locke“, und sein bester Freund, der besonnene Bené, durch ein brutales Ausschalten der Konkurrenz (fast) den gesamten Drogenhandel der heruntergekommenen Siedlung. Ihr einziger Konkurrent ist „Karotte“, mit dem es lange Zeit ein Stillhalteabkommen gibt; von der korrupten Polizei, die den Drogen- und Waffenhandel indirekt kontrolliert, wird der Film erst später berichten. Für die Favela bedeutet die Organisation des Drogenhandels, dass etwas Ruhe einkehrt. Marodierende Kinderbanden werden von Locke grausam „bestraft“; er wird später dafür selbst mit dem Leben bezahlen. Jetzt, in dieser Phase der Ruhe, erzählt der Film die Geschichte von Bené, der sich mehr für Lifestyle als für Gewalt interessiert, den richtigen Dresscode und die richtigen Platten kennt. Dafür bedient er sich des Wissens gutbürgerlicher Jugendlicher, die von den Gangstern und ihren Drogen angezogen werden. Es beginnt die Zeit des „Tropicalismo“, die Zeit des Culture Clash und der Liebe, an deren Ende Bené einer Kugel zum Opfer fällt, die eigentlich für Locke bestimmt war. Das ist der Wendepunkt, jetzt beginnt Lockes Amoklauf gegen Karotte; beide Banden rüsten sich paramilitärisch auf, Realitätsverlust und Gewalt potenzieren sich, nicht zuletzt, weil Kokain zur Modedroge geworden ist. Noch immer träumt Locke davon, ein Gangster-Superstar zu werden. Mehr als ein Zufall sorgt dafür, dass Buscapé, längst ein talentierter Fotograf, mit einem Foto der schwerbewaffneten Gangster in der Welt der Zeitungen und Magazine Rios reüssieren kann. In der Cidade de Deus ist die Situation längst außer Kontrolle geraten; die Polizei wagt sich nur noch ins Ghetto, um Bestechungsgelder einzusammeln. Der Film zersplittert in schlaglichtartige Episoden, die scheinbar nur noch dazu dienen, dass der Zuschauer beim nächsten Bodycount einzelne Leichen wiedererkennt. Kaum jemand, der in diesem Film vorgestellt wurde, erlebt seinen Schluss. Fernando Meirelles’ Film ist ein durchreflektiertes und durchkomponiertes Meisterwerk, das sich souverän auf dem erzählerischen Niveau von Scorseses „Good Fellas“ (fd 28 549) und De Palmas „Scarface“ (fd 24 457) bewegt, der sich seinem Panorama der Gewalt mit semidokumentarischem Ansatz und einer an Videoclips geschulten, rasanten Montage nähert. Jede der drei Phasen seines Films ist mit präzise umgesetzten ästhetischen – kameratechnischen wie ausstattungsmäßigen – Konzepten unterfüttert, was „City of God“ zu einem aufregend vielschichtigen Ereignis macht, das sich erst bei wiederholtem Sehen detailliert erschließt. Um zu ermessen, wie selbstbewusst und postmodern verspielt „City of God“ seinen brisanten Stoff vermittelt, lohnt ein Vergleich mit Hector Babencos Klassiker zum Thema: „Asphalt-Haie“ (fd 23 933), zu dem „City of God“ vielschichtige Bezüge der Re-Inszenierung unterhält. Obwohl „City of God“ von extrem gewalttätigen Verhältnissen erzählt, ist er bei der Darstellung expliziter Gewalt angenehm zurückhaltend. Selbst die dem Film als Legende vorauseilende Szene von der quälend langen „Bestrafung“ der Kinderbandenmitglieder durch Locke wird gewissermaßen hinter dem Rücken eines Bandenmitgliedes aufgelöst. Als Vorlage diente Meirelles und seinem Team ein Roman von Paulo Lins, der in Brasilien für Furore sorgte, weil er die Geschichte der Favela-Gewalt aus der Binnenperspektive erzählt. Aus dem Konvolut aus Figuren und Geschichten filterten Meirelles und sein Drehbuchautor Bráulio Mantovani ein Destillat, das eine Handvoll zentraler Figuren um die Hauptfigur Buscapé gruppiert. Für die Verfilmung suchte man sich mit Hilfe der Filmemacherin Kátia Lund Laiendarsteller aus den Favelas, deren Anregungen und Vorschläge wiederum in das parallel vorangetriebene Drehbuch Eingang fanden. In Brasilien wurde „City Of God“ seitens des älteren Cinema Novo heftig kritisiert, weil er die beschränkte Binnenperspektive der Jugendlichen nicht politisch transzendiert: die konkurrierenden Drogenbanden scheinen das zu sein, was sie in ihrem Stadtteil waren – die Spitzen der Gesellschaft. Dass sie letztlich nur kleine Rädchen in internationalen Drogenhandel waren, dass die einheimische Exekutive die Gewalt in den Ghettos politisch nutzte, dass Brasilien eine Klassengesellschaft mit Zügen der Apartheit ist, zeigt „City Of God“, wenn überhaupt, nur am Rande. Als Ausweg aus der Gewalt erscheint die Kunst. Deshalb steht der Fotograf Buscapé im Zentrum des Films. Buscapé fungiert als Alter Ego des gleichfalls lakonisch beobachtenden Autors Paulo Lins. Am Schluss steht Buscapé vor der Ausbeute seiner fotografischen Streifzüge und muss sich entscheiden, ob er berühmt werden oder ob er einen Job haben will. Die Berühmtheit wäre, da lässt der Film keinen Zweifel, zugleich sein Todesurteil. Buscapé entscheidet sich für den Job bei der Zeitung und veröffentlicht das Foto von Lockes Leiche. Die vorangegangene Szene mit den korrupten Polizisten, die zu Lockes Leiche und den schwerbewaffneten Kinderbanden dazugehört, zeigt nur der Film. Zugleich ist er selbst, mit seinem Einsatz der Laiendarsteller, eine Verdoppelung des emphatischen Verständnisses von Kunst als sozialer Funktion. Eine andere „Fluchtmöglichkeit“ präsentiert übrigens das Schicksal des einzigen „Wild Angels“, der älter als 20 Jahre wurde. Alicate findet zum Glauben zurück und begibt sich in den Schoß der Kirche: Er wird Priester. Dabei begegnet er – in einem Cameoauftritt – dem Autor seiner Geschichte: Paolo Lins. Ein typisches Beispiel für den erzählerischen Reichtum von „City Of God“. Wenn man Buscapé lakonisch kommentierend und immer wieder abschweifend aus dem Off erzählen hört, merkt man, dass hier jemand spricht, der etwas zu erzählen hat – und sei es vielleicht „nur“ die Geschichte jenseits von Gewalt und Drogenhandel – die Geschichte einer globalisierten Popkultur, in der sich die Bilder der ersten Welt – unterlegt von Samba, Pop, Psychedelia, Funk, Rap und Dancefloor – romantisch und adrenalingetränkt mit den Identitätskonzepten der Elendsviertel der Schwellenländer mischen. Auch davon erzählt „City Of God“.
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