Würden nicht die Bilder eines kleinen Flugzeugs über den bizarren Gletschern Alaskas gleich zu Beginn etwas anderes vermuten lassen, so könnte man zunächst annehmen, es handle sich hier um eine Rückkehr zum Genre des Polizeifilms der 30er- und 40er-Jahre. Die Detektive Will Dormer und Hap Eckhart werden nach Nightmute im hohen Norden Alaskas geflogen, um der örtlichen Polizei bei der Aufklärung eines Mordes behilflich zu sein. Die Leiche eines 17-jährigen Mädchens ist gefunden worden, ohne dass es bislang die geringste Spur von dem Täter gäbe. Nightmutes eigene Detektivin vergeht fast vor Bewunderung, als sie dem berühmten Kollegen Dormer die Hand schütteln darf. Nach Besichtigung der Leiche gibt der sogleich eine ebenso fachkundige wie arrogante Analyse ab. Doch viel weiter kommt der Großstädter mit seinem kriminalistischen Spürsinn nicht. Alaska ist ein anderes Terrain. Die permanente Helligkeit des arktischen Sommers und der häufig einfallende Nebel machen ihm zu schaffen. In mehr als einer Hinsicht beginnt Dormer seine Orientierung zu verlieren.
Spätestens an dieser Stelle entfernt sich Christopher Nolans Film von der Vorlage, dem norwegischen Film „Todesschlaf“ von Erik Skjoldbjærg (1997). Dort stößt Dormer im besagten Nebel auf den Mörder, ohne ihn erkennen zu können, und erschießt im Lauf der Verfolgungsjagd seinen Assistenten Eckhart. Während bei Skjoldbjærg das Ganze ein Unfall ist, den der Detektiv zu vertuschen versucht, um seine Reputation zu retten, lässt Nolan das Publikum im Zweifel und führt Schritt für Schritt Ereignisse aus Dormers Vergangenheit ein, die den Genre-Helden seinerseits als Schuldigen erscheinen lassen könnten, wäre nicht auch das dem Regisseur von „Memento“
(fd 35 173) noch zu einfach. Von hier aus entwickelt sich die Story in zwei Richtungen: die Lösung des Mordfalls und die psychologische Hinterfragung eines Polizisten, der sich nach dem Buchstaben des Gesetzes einst schuldig gemacht hat, um größeres Unheil zu verhindern.
Will Dormer sprengt das Klischeebild eines unfehlbaren Detektivs, ja sogar die landläufige Vorstellung vom seelisch angefochtenen Polizisten, indem er sich in den Fall, den er gar nicht haben wollte, hineinvergräbt mit der Ausdauer eines Archäologen und mit der Verbissenheit eines Fanatikers, der endlich seine eigenen Schuldgefühle überwinden möchte. Kaum beginnt man, sich daran zu gewöhnen, da stellt sich auch der fieberhaft gesuchte Mörder als nicht minder komplizierter Charakter heraus. Der Grund ist gelegt für ein existenzielles Drama, in dessen Strudel kaum beantwortbarer und doch lebensentscheidender Fragen sogar noch die begeisterungsfähige Lokaldetektivin hineingezogen wird. Schon diese (absichtlich stark verkürzte) Beschreibung des Inhalts dürfte zu erkennen geben, dass „Insomnia“ nur möglich wurde durch ein für heutige Verhältnisse außergewöhnlich dichtes Drehbuch. Alle elf Fassungen, die das Projekt seit dem Ankauf der Wiederverfilmungsrechte durch Warner Bros. durchlaufen hat, stammen von der jungen Hillary Seitz, die nach einem Studium der Kunstgeschichte Komödien verfasste, bis „Insomnia“ sie nicht mehr losließ. Es war der lakonische und hoffnungslose Ton der Vorlage, der sie von Anfang an faszinierte, ohne dass sie ihn für eine große Hollywood-Produktion hätte übernehmen können. Worauf Seitz und Nolan sich rasch zu einigen vermochten, war eine leicht veränderte Perspektive, die an Stelle des nihilistischen Faktors in Skjoldbjærgs Film den Schwerpunkt auf die Ambivalenz der Hauptfigur verlagerte. Nolan tat ein Übriges und lässt auch die spektakuläre Szenerie, in der die Handlung angesiedelt ist, als ambivalentes Element mitwirken. Die Schönheit des arktischen Sommers und die Faszination der Landschaft werden nie im Sinn eines Touristenprospekts ausgebeutet, sondern als visuelles, oft symbolisches Pendant zu der Zerrissenheit des Protagonisten genutzt. Die Natur, die gerade noch Ewigkeiten beschwörende Panoramen produzierte, kann im Augenblick danach durch Nebel und Zwielicht jede sichere Orientierung versperren. Dormers fragwürdige Humanität, von der er selbst nicht weiß, ob sie einer moralischen Überzeugung entstammt und ob er sie irgendeinem anderen menschlichen Wesen begreifbar machen kann, konstituiert sich nicht zuletzt aus der meisterhaften Verflechtung einer allmählichen psychologischen Demaskierung mit der zunehmenden Intensität des Naturerlebnisses.
Nolan hat sich mit „Insomnia“ zum ersten Mal auf die Regie eines teuren Studio-Films eingelassen. Er verzichtet auf formale Effekte, die ihm für die rückwärts erzählte Geschichte von „Memento“ so viel Publizität eingebracht hatten. Wer aber meint, „Insomnia“ sei eine geradlinige Story, der findet sich bald getäuscht: der Film verfügt über mindestens ebenso viele Kanten und Ecken wie „Memento“. Nur verstehen Nolan und seine Darsteller damit auf eine Weise umzugehen, die es dem Publikum weniger schwer macht. Der Film verzichtet auch nicht auf Actionszenen, die allerdings ebenso ungewöhnlich sind wie die Schauplätze, an denen sie sich abspielen. Noch ehe die ersten 30 Minuten vergangen sind, ist der Ermittlungsbeamte Dormer selbst das Objekt der filmischen Ermittlung. Schon in der ersten Großeinstellung sieht Al Pacino aus, als ob er nächtelang nicht geschlafen habe und am Ende seiner Kräfte sei. Pacino startet da, wo andere Schauspieler zum Schluss des Films ankommen würden. Er kann es sich leisten. Seine Reserven sind so unglaublich wie Nolans Überzeugung von der existenziellen Qualität der Story und das Selbstvertrauen auf seine Fähigkeit, eine scheinbar alltägliche Polizeigeschichte langsam in einen psychologischen Albtraum verwandeln zu können.