Eine junge Japanerin, Tochter eines Schriftstellers und Kalligraphen, bemalt in Hongkong die Körper ihrer Liebhaber mit kalligraphischen Meisterwerken, die das Interesse eines mächtigen Verlegers wecken. Da dieser ihren Vater in wirtschaftliche wie sexuelle Abhängigkeit preßte und er ihr nun in mehrfacher Hinsicht ihren Geliebten nimmt, werden 13 von ihr gestaltete menschliche Bücher zum Mittel ihrer Rache. Die obsessive Leidens- und Rachegeschichte ist Ausgangsmotiv einer komplexen, metaphernreichen Beschäftigung mit Schrift und Zeichen als einem "körperhaften" Wahrnehmungssystem, das Räume und Zeit, Erotik und Tod, östliche und westliche "Prinzipien" am Ende dieses Jahrtausends umspannt. Ein anregender, ästhetisch ausgefeilter gedanklicher Höhenflug, der aber in seiner berechenbaren intellektuellen Verrätselung stets auch den Hang zur Monotonie in sich birgt.
Die Bettlektüre
Literaturverfilmung | Großbritannien 1995/96 | 126 Minuten
Regie: Peter Greenaway
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Filmdaten
- Originaltitel
- THE PILLOW BOOK
- Produktionsland
- Großbritannien
- Produktionsjahr
- 1995/96
- Produktionsfirma
- Kasander & Wigman/Woodline/Alpha/Channel Four Films/Studio Canal +/Delux/Prokino Plus/Media Part
- Regie
- Peter Greenaway
- Buch
- Peter Greenaway
- Kamera
- Sacha Vierny
- Schnitt
- Chris Wyatt
- Darsteller
- Vivian Wu (Nagiko) · Yoshi Oida (Der Verleger) · Ken Ogata (Der Vater) · Ewan McGregor (Jerome) · Hideko Yoshida (Sei Shonagon/Die Tante/Die Din)
- Länge
- 126 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Genre
- Literaturverfilmung
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
Am Tag seiner Verbannung rettete ein alter Mann Herzog Prosperos Bücher, so daß der auf einer Insel Gestrandete nicht auf seine geliebte Lektüre zu verzichten brauchte und sich lesend durch die geschriebene Welt- und Menschheitsgeschichte "hindurchfressen" konnte, um sich Wissen, Macht und Magie anzueignen. Ähnlich wie Peter Greenaway für "Prosperos Bücher" (fd 29 201) ein Shakespeare-Drama für seinen ganz eigenen Diskurs über die Bedeutung und Bedeutsamkeit von Büchern benutzte, so verknüpft er nun einen weiteren klassischen Stoff der Literatur mit einer nicht minder obsessiven Leidens- und Rachegeschichte, um in überbordender Vielfalt von visuellen Einfällen, Verweisen, Brechungen und Symbolen über die Bedeutung des geschriebenen Wortes nachzudenken. So wie er einerseits weit in die Vergangenheit zurückgreift und sich des etwa 1000 Jahre alten "Kopfkissenbuchs der Hofdame Sei Shonagon" bedient, so blickt er andererseits in die nahe Zukunft, um über die Beschaffenheit der Welt am Ende des Jahrtausends nachzudenken. Zur zentralen Metapher wird die Schrift als eine sichtbare (Bild-)Sprache, als ein ebenso les- wie sinnlich wahrnehmbares Zeichensystem, das in perfekter kalligraphischer Ausgestaltung ästhetischer Genuß und symbolischer Sinngehalt in einem ist. "Die Bettlektüre" sei, so Greenaway, ein Film über "man ist, was man liest", und zugleich ein Film über das Entstehen von Metaphern; die Hand, die schreibt, vermittelt Bedeutung und streichelt zugleich das Papier, dem Greenaway wiederum eigenes Leben und Empfinden zubilligt, wenn er es durch die menschliche Haut ersetzt. Der Körper wird mit Schriftzeichen beschrieben, wird selbst zum Buch wie auch zum sinnlichen Bedeutungsträger, ist Medium für die geschriebene Sprache wie für die Empfindungen, Begierden und Leidenschaften der Menschen. Physische und psychische Wahrnehmung fließen ineinander, Wörter werden nicht mehr im Kopf ausgesprochen, sondern sind Bestandteile des Körpers.Will man den Gang der Handlung zusammenraffen, muß man in Kauf nehmen, daß man den Film auf lediglich eine von vielen ineinandergreifenden und einander überlappenden Bedeutungsebenen reduziert. So muß man sich die zugrundeliegende Erzählung zugleich stets auch als symbolisch aufgeladene Meta-Erzählung vor Augen führen, in der jedes fotografierte Objekt, jeder bemalte Körper, jede farbkompositorische Ausgestaltung und jede Kadrierung des Bildausschnittes sein eigenes les- und interpretierbares Zeichen darstellt: die filmischen Bilder sollen unmittelbar als Bedeutung ins Sehen resp. Denken eingehen. Die kreisförmig komponierte Handlung erzählt von der jungen Japanerin Nagiko Kiohara, die schon als Kind mit zwei zentralen japanischen Künsten in Berührung kommt: ihr Vater, ein Schriftsteller und Kalligraph, malt ihr zu jedem Geburtstag feierlich Glückwünsche aufs Gesicht, ihre Tante liest ihr, nicht minder ritualisiert, aus dem "Kopfkissenbuch" vor und macht sie so mit einer bedeutenden Facette literarischer Schaffenskunst vertraut. Mit 18 Jahren wird Nagiko mit einem ungeliebten Mann verheiratet, einem geistlosen, grausamen Despoten, der sich weigert, das alljährliche Ritual der Gesichtsbemalung fortzuführen, schließlich aus dumpfer Mißgunst ihre Tagebücher verbrennt und damit - folgerichtig das ganze Haus, ihre Behausung ansteckt. Daraufhin zieht Nagiko nach Hongkong, macht Karriere als Model und findet zu einem neuen (westlichen) Selbstbewußtsein in der mondänen Luxuswelt der Kronkolonie. Nagiko erwählt Kalligraphen zu ihren Liebhabern, die ihren Körper bemalen, um zugleich ihre sexuelle Lust und ihre Erinnerungen an die Rituale ihrer Kindheit zu wecken. Einer ihrer Liebhaber ist der Engländer Jerome, der als Übersetzer arbeitet und Nagiko dazu ermuntert, nicht länger Papier zu sein, sondern ihrerseits die Körper ihrer Liebhaber zu beschreiben. Und so wechselt sie die Fronten, formuliert und gestaltet fasziniernde kalligraphische Botschaften auf männlicher Haut, die durch Jeromes Vermittlung schon bald einen reichen, homosexuellen Verleger in ihren Bann schlagen. Ausgerechnet der ist es aber, der einst Nagikos Vater in sexueller und wirtschaftlicher Abhängigkeit demütigte, so daß in ihr ein ausgetüftelter Racheplan heranwächst. Dessen tragisches Opfer wird Jerome, der sich dem Verleger hingibt, zugleich aber Nagiko liebt und sich schließlich in vermeintlich auswegloser Tragik freiwillig/unfreiwillig vergiftet. Nagiko kehrt nach Japan, nach Kyoto, zurück, wo sie erfahren muß, daß der Verleger Jeromes Leiche die Haut hat abziehen lassen, um ihre Kalligraphien zu konservieren. Nun läßt sie sich darauf ein, eine einst angekündigte Serie von 13 Büchern zu vollenden, und beliefert den Verleger mit menschlichen Büchern, um ihn immer mehr in einen tödlichen Bann zu ziehen.Greenaway entwickelt diese noch weitaus komplexere und detailreichere Erzählung in Bildern von erlesener Schönheit. Alles ist bis ins kleinste Detail kompositorisch durchdacht und akribisch mit Bedeutung besetzt nicht selten aber auch belastet. Vielfach bricht sich die Handlung in nebeneinander gesetzten Bildern, die wiederum von weiteren, elektronisch eingearbeiteten "Fenstern" überlappt werden, so daß die Handlung zur selben Zeit oft aus verschiedenen Perspektiven oder aus zeitlich leicht versetzten Erzählwarten zu verfolgen ist. Die Off-Erzählung Nagikos, der Einsatz verschiedener Sprachen, der Spaziergang durch die Kulturen wird zum Diskurs über Raum und Zeit, Ost und West, Erotik und Kultur, männliche und weibliche Wahrnehmung und Sinnlichkeit. Die Vergangenheit knüpft an die Zukunft an, die Zukunft aber ist für Greenaway der Osten, und der ist weiblich, während das westlich-männliche (Lebens-)Prinzip dem Untergang geweiht ist, an seinen Obsessionen krankt und sich längst überlebt hat. Der grausame Verleger konserviert seine Bessenheit, die junge Frau spielt aber sein Spiel mit aller Konsequenz zu Ende, um schließlich das Objekt der männlichen Begierde, die Haut des Geliebten, unter einem blühenden Bonzai-Baum zu begraben.Ob dies alles in letzter Konsequenz zwingend stimmig ist, müßte andernorts analysiert werden (vgl. dazu fd 19/1996, S. 12); anregend und herausfordernd ist Greenaways visueller und intellektueller Höhenflug gewiß allemal. Allerdings: Seine oft verrätselte Intellektualisierung neigt häufig zu gefährlicher Monotonie, so daß sein vermeintlich fabulierfreudiger Bilder- und Gedankenkosmos durchaus auch als ästhetisch hochgestylte Video-Clip-Version verstanden werden kann, die zwar behauptet, daß; sie dem Bilder- (und Bewußtseins-)Strom am Ende unseres Jahrtausends gerecht würde, dabei aber dem hypertrophen Schick layout-gestylter Werbespot-Ästhetik zu unterliegen droht. Da fällt es dann schon schwer, Greenaways geistiger Botschaft offenen Herzens zu folgen, wenn sich die Verpackung mit solch verführerischer (Über-)Macht behauptet, während obendrein jeder gefühlsmäßige Zugriff auf die Erzählung demonstrativ ignoriert wird. Denn die Kälte von Greenaways filmischer Grammatik läßt in der Tat nur wenig emotionale Freiräume und Nischen, in die sich der Zuschauer wirklich einbringen kann - entweder er ist ein "Jünger" von Greenaways Thesen, oder er bleibt außen vor. Nur gelegentlich, vielleicht sogar unbeabsichtigt, schleichen sich Assoziationen ein, die man für sich selbst weiterzudenken vermag, etwa wenn die anrührende Vergänglichkeit der aufgepinselten Körperbilder deutlich wird, die ein simpler Regenschauer mit "natürlicher" Leichtigkeit vernichten kann.
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