Eine hübsche junge Frau läßt sich von einflußreichen Männern nach Hause einladen, um dort ihren räuberischen Freunden die Haustür zu öffnen. Abgründige Kriminalstudie über drei französische Jugendliche, die auf der Suche nach schnellem Reichtum gedankenlos zu Mördern werden. Eine mit hohem seelischem Einfühlungsvermögen, ausgezeichneten Darstellern und analytischer Schärfe nacherzählte wirkliche Begebenheit, die ein differenziertes Bild der Täter zeichnet und zu einem beunruhigenden Diskurs über eine Generation ohne moralische Werte ausweitet.
- Sehenswert ab 16.
Der Lockvogel
Literaturverfilmung | Frankreich 1994 | 113 Minuten
Regie: Bertrand Tavernier
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Filmdaten
- Originaltitel
- L' APPAT
- Produktionsland
- Frankreich
- Produktionsjahr
- 1994
- Produktionsfirma
- Hachette Premiere
- Regie
- Bertrand Tavernier
- Buch
- Colo Tavernier O'Hagan · Bertrand Tavernier
- Kamera
- Alain Choquart
- Musik
- Philippe Haïm
- Schnitt
- Luce Grunenwaldt
- Darsteller
- Marie Gillain (Nathalie) · Olivier Sitruk (Eric) · Bruno Putzulu (Bruno) · Richard Berry (Alain) · Philippe Duclos (Antoine)
- Länge
- 113 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Literaturverfilmung
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Gegensätzlicher hatten die beiden letzten Filme von Bertrand Tavernier nicht ausfallen können: nach der verspielten Mantel-und-Degen-Persiflage "D'Artagnans Tochter" (fd 31 429) konfrontiert er wenige Monate später mit einer abgründigen Kriminalstudie über drei französische Jugendliche, die auf der Suche nach schnellem Reichtum gedankenlos und ohne ersichtlichen Grund zu Mördern werden. Waren es in der Dumas-Adaption noch die ironischen Brechungen, mit denen Tavernier dem allzu bekannten Heldenstoff neue, vergnügliche Seiten abgewann, zwingt seine jüngste Arbeit in die Auseinandersetzung mit realen Gegenwartsphänomenen: Scheinbar kommentarlos erzählt er eine wirkliche Begebenheit aus dem Jahr 1984 nach, als sich ein jugendliches Trio wegen grausamer Raubmorde vor Gericht verantworten mußte, das seine Opfer durch erotische Verführung geködert hatte. Mit hohem seelischem Einfühlungsvermögen dringt Tavernier dabei in die Psyche seiner Protagonisten ein und macht sich an die Rekonstruktion der möglichen Vorgeschichte, ohne am Ende eine schlüssige Erklärung zu präsentieren. Die gesellschaftlichen Kontexte, die er bei dieser Recherche streift, werfen beunruhigende Fragen nach der inneren Verfassung der Gesellschaft auf. Nathalie, der Lockvogel, ist so wenig ein Monster wie ihr großspuriger Freund Eric oder der schüchterne Bruno. Wie diese träumt sie vom Aufstieg in die Welt der Reichen und trägt ihren Fantasien dahingehend Rechnung, daß sie nach ihrem Job in einer Mode-Boutique in feinen Lokalen verkehrt und sich um Bekanntschaften mit einflußreichen Männern bemüht. Eric dagegen schnorrt sich durchs Leben, wohnt bei Nathalie und schlägt sich die Tage mit endlosen Gesprächen um die Ohren, bis ihm seine wohlhabenden Eltern den Geldhahn abdrehen und er auf den Gedanken verfällt, in Amerika eine Kette mit Jeansläden aufzumachen. Bruno, der einzige Habenichts des Trios, hat solchem inspirierendem Größenwahn, dem nur noch das Startkapital zu fehlen scheint -10 Mio. Francs -, nichts entgegenzusetzen. Nathalie findet nichts dabei, den beiden Zugang zu den Wohnungen ihrer Verehrer zu verschaffen, so lange sie nicht zu sexuellen Handlungen gezwungen wird. Als nach mehreren Versuchen der Plan endlich gelingt, stolpern die Täter in eine unvorhergesehene Situation: statt eines prallen Safes hat das Opfer, der Rechtsanwalt Antoine, nur 2000 Francs in der Tasche, aus denen auch durch brutale Folter nicht mehr werden.Die anschließende ebenso hilf- wie erbarmungslose Ermordung ist das Resultat purer Überforderung: Luzide streut Tavernier eine Fülle von Hinweisen ein, die den permanenten Fernsehkonsum als Handlungsfolie der Jugendlichen kenntlich machen. Zweifel am Erfolg oder das Abwägen von Komplikationen kommt ihnen nicht einmal dann in den Sinn, als bei Trockenübungen für die Raubzüge immer wieder unvorhergesehene Details die Pläne durchkreuzen. Selbst die blutige Tat scheint die Jungen nicht zu verunsichern: Während Nathalie - und mit ihr der Zuschauer - im Vorraum die Schmerzenschreie mit dem Walkman oder beim Chanelhopping zu übertönen versucht, bringt Bruno - und beim zweiten Mord am Filmproduzenten Alain auch Eric - das mörderische Werk ohne große innere Überwindung zu Ende. Alle Appelle der Opfer, ihre Versicherungen, die Polizei aus dem Spiel zu lassen, versagen offensichtlich vor Tätern, die solche Situationen schon unzählige Male vorher im Kino oder vor dem Fernseher en detail miterlebten.Das Verstörende an Taverniers unprätenziösem, ganz auf seine hervorragenden Darsteller gestütztem Film ist weniger die feingesponnene Geschichte, mit der er geduldig die unterschiedlichen Entwicklungen und Konflikte des Trios anschaulich macht oder den unbewußten Nachwirkungen der Überfälle in kleinen Gesten doch auf die Spur kommt. Es sind vielmehr seine so völlig normal wirkenden Bilder einer vollkommen amoralischen Generation, die Menschen nach Tissant-Uhren, Mont-Blanc-Füllfederhaltern oder den Marken ihrer Automobile bewertet, aber jedes normative Bewußtsein verloren hat. Zwischen banalen Eigentumsdelikten wie einem gestohlenen Pulli, den Nathalie einer Freundin schenkt, Steuerhinterziehung - Erics Vater sitzt deswegen im Gefängnis - oder der Tötung eines Menschen besteht insofern kein Unterschied mehr, als nur noch das eigene Erfolgsstreben den Handlungsmaßstab bildet, szenisch am eindringlichsten verdichtet in Alains plötzlichem Hoffnungsschimmer, als er Eric als Juden erkennt. Doch in der naiven Scheinwelt der desorientierten Jugendlichen ist so wenig Platz für die Bande des Holocausts wie für ein Schuldbewußtsein. Nachdem sie bei der Polizei alles gestanden hat, hofft Nathalie erleichtert, bereits mehrere Wochen später frei zu kommen, um das Weihnachtsfest mit ihrem Vater zu verbringen: Das Flugticket hat sie ja schon in der Tasche. Taverniers Hinweise auf die sozialen Ursachen solchen tiefgreifenden Wertewandels sind vielfältig, wahren aber auch die Verantwortung des einzelnen. Den Platz, den die nur am Rande auftauchenden Eltern schon lange vernachlässigen, hält eine durchgestylte Bilderwelt besetzt, die grenzenloses Vergnügen verspricht, ohne den Preis zu nennen, der dafür entrichtet werden muß. Und ohne weiterhin von traditionellen Institutionen reglementiert zu werden, die über Anstand und Sitte hinaus bislang für den normativen Grundbestand der Gesellschaft garantierten. Im Sog der elektronischen Medien, so scheint Tavernier andeuten zu wollen, erwächst eine Gesellschaft, "in der alle Geländer abgeschafft sind" und der seitNietzsche immer wieder beschworene Nihilismus manifeste Gestalt gewonnen hat.
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