Dokumentarfilm | Deutschland 1995 | 87 Minuten

Regie: Hannes Schönemann

Dokumentarfilm über die Bewohner des Klosters Dobbertin in Mecklenburg, das im 13. Jahrhundert als Nonnenkloster errichtet wurde. Von 1960 bis 1990 fungierte es als "Langzeitbereich" der Bezirksnervenklinik Schwerin (geschlossene Station für hoffnungslose Fälle) und wird seit 1991 vom Diakonischen Werk betreut. Die Filmemacher nähern sich den sogenannten "Kranken" völlig unbefangen und entwerfen das fast idealisierte Bild einer Parallelwelt, dessen Anderssein die "Gesunden" zu akzeptieren haben. Ein zärtlicher Film, der die Gedanken Michel Foucaults über "Wahnsinn und Gesellschaft" in unprätentiöser Weise aufgreift. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Der Ochsenkopf
Regie
Hannes Schönemann
Buch
Hannes Schönemann
Kamera
Thomas Plenert
Musik
Station 17
Schnitt
Benedikta von Karp
Länge
87 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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IMDb

Diskussion
Rudi, einer der Bewohner des mecklenburgischen Klosters Dobbertin, fungiert hin und wieder auch als Fremdenführer. Gern erzählt er die Sage von jener Nonne, die hier "labendig" eingemauert worden sein soll, weil sie sich einen Liebhaber gehalten hatte. Diese Anekdote gab dem Film nicht nur seinen Titel, sie steht auch als Metapher für das Leben der meisten im Kloster Lebenden. Bis 1990 war hier der sogenannte "Langzeitbereich" der Bezirksnervenklinik Schwerin, mit anderen Worten: die geschlossene Abteilung für die hoffnungslosen Fälle. Viele der Insassen befinden sich seit ihren Kindheitstagen in der Einrichtung, obwohl ihre Behinderungen teilweise hätte rehabilitiert werden können. Frühzeitig als unheilbar krank kategorisiert, hatte man sie aus der Gemeinschaft der "Normalen" entfernt und weggeschlossen - "labendig" eingemauert. Der französische Philosoph Michel Foucault hat in seiner Arbeit "Wahnsinn und Gesellschaft" auf die Konsequenzen hingewiesen, die die Begriffsunterscheidung zwischen Kranken und Normalen bedeutet: als wahnsinnig eingestufte Menschen wurden erst in der Neuzeit vom Alltag aus- und in Anstalten eingeschlossen, damit wurde dem Wahnsinn aber auch "seine antike Kraft genommen, die Wahrheit zu sagen" (Wilhelm Schmid). Bezeichnenderweise wurde dieses Prinzip im DDR-Sozialismus ungebrochen praktiziert. 1991 übernahm das Diakonische Werk das Kloster Dobbertin. Seither hat sich hier viel geändert.

Hannes Schönemann und sein Kameramann Thomas Plenert nähern sich dem Thema freilich nicht aus akademischer Sicht. Auch eine historische Aufarbeitung oder gar moralische Abrechnung lag nicht in ihrem Sinn. "Labendig" wagt eine völlig unbefangene Perspektive, die jegliche Distanz zum Gegenstand verschwinden glauben macht. Im Spiel wurde die Möglichkeit gefunden, die Grenzen zwischen Kamera und Objekt zu verwischen: indem den Bewohnern des Klosters Freiräume zur Selbstinszenierung eingeräumt wurden, konnte gleichsam die Gefahr des voyeuristischen Blicks zurückgedrängt werden. Man erlebt Rudi, den Fremdenführer und Erfinder, fährt auf seinem mit zahllosen kuriosen Extras ausgestatteten Fahrrad durchs Anwesen. Man lernt seinen Freund Günther kennen, den langhaarigen Uniform-Fan. Gudrun wechselt ihre Liebhaber "man könnte sagen, wie die Nachthemden" und Herr Schünemann dichtet fortwährend nicht enden wollende Schüttelreime. Ein an Danny de Vito erinnernder Insasse spielt für seine zwei Köpfe größere Freundin das Lied vom "Insulaner" auf dem Keyboard oder das "Heideröslein" auf der Kirchenorgel. Egon, schwerer Spastiker, aber immer gut gelaunt, hat seine große Stunde, als zum Sommerfest eine Rockband aufspielt und er für einige Minuten am Mikrophon stehen kann. Neben diesen höchst unterhaltsamen Szenen aus dem Alltag der "Kranken" lebt der Film auch von der sehr genauen Kameraführung. Wie fast immer findet Plenert wunderschöne Bilder, die nicht Kitt für die Intentionen des Regisseurs sind, sondern eine eigene künstlerische Ebene herstellen. "Labendig" ist ein zärtlicher Film. Der Kosmos, den er entwirft, ist stark idealisiert. Von der Arbeit des Pflegepersonals ist z. B. nichts zu sehen. Aber dies sieht man dem Film nur allzu gerne nach. Hannes Schönemann gehörte übrigens zu den größten Begabungen des Dokumentarfilms der DDR. Die inhaftierte ihn 1984 und schob ihn Richtung Westen ab. Die Musik zu "Labendig" stammt von der Hamburger Band "Station 17" - geistig und körperlich Behinderte, die mit sogenannten "Gesunden" zusammenleben, kürzlich eine CD veröffentlicht haben und von Musikern wie den "Einstuerzenden Neubauten" unterstützt werden.
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