Der Tod und das Mädchen

Drama | Großbritannien/Frankreich 1994 | 105 Minuten

Regie: Roman Polanski

Eine ehemalige Widerständlerin gegen eine lateinamerikanische Militärdiktatur, die 1977 zwei Monate inhaftiert und gefoltert wurde, glaubt in einem Arzt jenen Peiniger wiederzuerkennen, der sie jeweils zu Schuberts "Der Tod und das Mädchen" vergewaltigte. Sie überwältigt ihn und veranstaltet gegen den Willen ihres Mannes, einem als Justizminister designierten Anwalt, ein Privattribunal gegen ihren mutmaßlichen Peiniger. Ein nach einem Kammerspiel spannend inszenierter Psychothriller mit großartiger Besetzung und glänzenden Dialogen. Der Film vermittelt ein konkretes, eindringliches Bild von den unendlichen Qualen der (meist auch sexuell) mißhandelten (weiblichen) Opfer sowie der unauffälligen "Beschaffenheit" des Tätertyps und verdichtet sich zudem zur Auseinandersetzung mit Rache und (möglicher) Vergebung. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DEATH AND THE MAIDEN | LA JEUNE FILLE ET LA MORT
Produktionsland
Großbritannien/Frankreich
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
Mount/Kramer/Channel Four/Flach Films/Canal +/TF 1
Regie
Roman Polanski
Buch
Rafael Yglesias · Ariel Dorfman
Kamera
Tonino Delli Colli
Musik
Wojciech Kilar
Schnitt
Hervé de Luze
Darsteller
Sigourney Weaver (Paulina Escobar) · Ben Kingsley (Dr. Roberto Miranda) · Stuart Wilson (Gerardo Escobar) · Krystia Mova (Mirandas Ehefrau) · Jonathan Vega (Mirandas Sohn)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
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Heimkino

Verleih DVD
Concorde
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Diskussion
"Was die Zeit nicht verändert hat, habe ich verändert. Ich wollte nicht, daß Sie mich wiedererkennen. Ich wollte nicht, daß ich mich wiedererkenne." Ob der gefesselte und geknebelte Mann, zu dem die ehemalige Widerstandskämpferin Paulina diese Sätze über ihr Aussehen sagt, sie wiedererkennt, bleibt bis zum Ende des Films ebenso offen wie die Frage, ob er sie überhaupt erkennen kann: Will das traumatisierte Ego einer gepeinigten Frau nur endlich Rache - und sei es am falschen Objekt -, oder ist Dr. Roberto Miranda tatsächlich jener Arzt, der sie während der nun lange zurückliegenden Zeit der Militärdiktatur in der Haft gedemütigt, gefoltert und vergewaltigt hat?

Paulina, die ihre damalige Tortur mit verbundenen Augen ertragen mußte, hat keine Zeugen, also auch keinen gerichtsverwertbaren Beweis, aber sie ist sich sicher: Die Stimme, die Wortwahl, der Geruch des Mannes, vor allem aber seine Vorliebe für Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen", dessen Melodie sie noch immer in Panik stürzt, genügen ihr. Sie überwältigt den Fremden, der als Pannenhelfer ihres Mannes vom Zufall in ihr Haus geführt worden ist, und veranstaltet ein Privattribunal gegen ihren mutmaßlichen Peiniger.

Ihr damaliger Verlobter und jetziger Ehemann Gerardo, um dessentwillen sie einst von den Schergen der Junta verhaftet und gefoltert worden war, ist strikt gegen Paulinas Vorhaben, hat er doch als Rechtsanwalt und designierter Justizminister seines südamerika-nischen Heimatlandes sowohl grundsätzliche Vorbehalte als auch persönliche Bedenken gegen die Selbstjustiz seiner Frau. Doch Paulina ist zu allem entschlossen: mit vorgehaltener Waffe "ernennt" sie ihren soeben zum Vorsitzenden einer Menschenrechtskommission der Regierung bestellten Mann zum Pflichtverteidiger ihres Gefangenen und beginnt schonungslos offen das Verhör.

In seinem neuem Film nach der Vorlage von Ariel Dorfmans viel gespieltem Dreipersonen-Drama bringt Roman Polanski erneut eine Gruppe von Menschen in eine Lage, in der sie ohne Möglichkeit zur (Aus-)Flucht miteinander umgehen müssen, in der die Konfrontation der Figuren also unausweichlich wird. Ein Unwetter, das die drei Akteure im abgelegenen Strandhaus des Ehepaares von der Außenwelt abschneidet und einander auf Gedeih und Verderb ausliefert, sorgt für die gleichermaßen ersehnte wie gefürchtete Lösung eines Konflikts, dessen Wurzeln in der politischen und persönlichen Vergangenheit der Beteiligten und in der jüngsten Geschichte ihres Landes liegen. Hier sind es drei Zeitgenossen des Terrorregimes einer nicht näher bezeichneten Militärdiktatur, die sich als bislang unerkannte Täter beziehungsweise noch immer unter den Folgen leidende Opfer ihrer Gewalttaten gegenüberstehen und von der Situation zum Spagat zwischen Recht und Rache gezwungen werden.

Polanski hat aus dem zeitlos aktuellen Stoff einen spannenden Psychothriller gemacht, dem man trotz der hinzugefügten Rahmenhandlung zweier Konzertbesuche zwar seine Bühnenherkunft noch anmerkt, dessen großartige Besetzung aber auch auf der distanzierenden Leinwand noch ein eindringliches Bild von der niemals endenden Qualen der (oft weiblichen) Opfer und den unauffälligen Durchschnittlichkeit des Tätertyps vermittelt. In klar strukturierten Passagen mit glänzenden Dialogen zwischen Anklägerin und Angeklagtem einerseits, Angeklagtem und Pflichtverteidiger andererseits sowie zwischen den Ehepartnern, deren unbewältigte Vergangenheit auch vor dem Erscheinen des Fremden schon ihren privaten Alltag belastet hat, läßt der Autor die Seelenzustände der Betroffenen deutlich werden. Darüber hinaus tritt für den Zuschauer ein weiteres Mal eine unbequeme Wahrheit zutage, die für die Untaten lateinamerikanischer Junten leider ebenso gilt wie für Auschwitz oder Ruanda: nicht die summarisch zusammengezogenen und sachlich-neutral vorgetragenen "Fakten" über das Unrecht an einer großen Anzahl anonym bleibender Opfer, sondern erst drastische Details aus den schlimmen Schicksalen einzelner, individuell "bekannter" Menschen kann eine träge gewordene Öffentlichkeit noch schockieren und zum Aulhorchen, vielleicht sogar zum Einschreiten gegen Folterer und Mörder bewegen.
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