Drama | Italien 1994 | 115 Minuten

Regie: Gianni Amelio

Ein 28jähriger Italiener will mit einem Geschäftspartner offiziell eine Schuhfabrik in Albanien aufbauen, in Wahrheit aber nur Subventionen in die eigene Tasche wirtschaften. Der unbedarft-arrogante junge Mann muß sich auf die Spur eines 80jährigen, geistig verwirrten Mannes, des Präsidenten der Scheinfirma, begeben, wobei er mit den Verhältnissen im Lande konfrontiert wird. Eine mit bitterer Skepsis gezeichnete, eindrucksvolle und zutiefst berührende Bestandsaufnahme, die eine beklemmende Vision über den Verlust von Identität und Würde entwirft, dem der einzelne ebenso wie ein ganzes Volk ausgesetzt ist. (O.m.d.U.; Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LAMERICA
Produktionsland
Italien
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
C.G.Group Tiger Rai/Uno/Arena/Vega
Regie
Gianni Amelio
Buch
Gianni Amelio · Andrea Porporati · Alessandro Sermoneta
Kamera
Luca Bigazzi
Musik
Franco Piersanti
Schnitt
Simona Paggi
Darsteller
Enrico Lo Verso (Gino) · Carmelo di Mazzarelli ("Spiro" Tozaj) · Michele Placido (Fiore) · Piro Milkani (Selimi) · Elida Janushi (Selims Cousin)
Länge
115 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Wie Kolonialherren, die ein wirtschaftlich und sozial am Boden liegendes Land betreten, aber auch ein wenig wie Geier, die das Aas riechen, kommen der Geschäftsmann Fiore und sein noch sehr junger Partner Gino 1991 nach Albanien. Die beiden Italiener lassen sich von den Einheimischen hofieren, erwarten und akzeptieren deren Unterwürfigkeit, schieben sie hierhin und dorthin, kommunizieren aber nicht mit ihnen, sondern bedienen sich ihrer als "Material", das in ihren Augen nach Jahrzehnten unter stalinistischer Diktatur aufgezehrt und "unbrauchbar" ist. Sie sind als ausländische Investoren von der albanischen Regierung geduldet, ja sogar erwünscht, und sie sind makabrerweise Hoffnungsträger der Menschen in Albanien, die darauf bauen, daß allein die Hilfe von außen einen Umschwung im Lande bewirkt und aus dem unterentwickelten, ausgebeuteten Land eine blühende "neue" Nation wird. Was aber Fiore und Gino jenseits der offiziellen Absichtserklärung vorhaben, das kann auch den Albanern im Grunde nicht verborgen bleiben: der vorgebliche Bau einer Schuhfabrik dient lediglich zur Errichtung einer Scheinfirma, um die Subventionen und staatlichen Produktionsförderungen in die eigene Tasche zu wirtschaften. Das einzige, was man dazu braucht, ist ein in Albanien geborener Strohmann, der als "einheimischer Partner" den Präsidenten der Firma mimt. Ansonsten muß er den italienischen "Investoren" willenlos ergeben sein und darf keine Verwandten haben, die eventuelle Ansprüche stellen. Fiore und Gino finden ihren "passenden" Partner in einem höhlenartigen Elendsquartier: Spiro ist ein 80 Jahre alter, geistig verwirrter Mann, der 30 Jahre seines Lebens in stalinistischen Arbeitslagern verbracht hat. Aus einem verdreckten menschlichen Klumpen filtert die Kamera allmählich Spiros Hände, dann sein Gesicht heraus, aus dem zwei müde Augen schauen. Offiziell ist diese Elendsgestalt ein "demokratischer Held", Spiro selbst hält sich für 20 Jahre alt, irgendwann blieb für ihn bei allem erlebtem Schrecken die Zeit stehen; für die beiden Italiener ist er der "ideale" Präsident ihrer Gesellschaft.

Dies ist die Ausgangssituation, die Gianni Amelio drastisch und mit deutlicher Bitterkeit als einen Akt inhumaner Ausbeutung unterentwickelter Länder nachzeichnet. Noch hallen einem die propagandistischen Wochenschau-Klänge nach, mit denen der Film eröffnet wurde: Italien und Albanien schlossen 1939 einen Vertrag als faschistische Achsenmächte am Mittelmeer, und in chauvinistischer Emphase hatte ein Sprecher das "Verdienst" Italiens dabei verkündet: in Albanien würde endlich die Zivilisation einziehen! Mehr als 50 Jahre später kommen nun wieder Italiener ins Land, das nach Jahrzehnten der Diktatur unter dem Regime von Enver Hodscha erste unsichere Schritte in einer Demokratie unternimmt. Albanien liegt wortwörtlich in Schutt und Asche, ist ein Trümmerhaufen, in dem sich die Menschen permanent, aber ziellos bewegen, scheinbar nur um der Bewegung willen. Immer noch ist Albanien für sie ein Gefängnis; nun können zwar die Ausländer ins Land, sie aber können es immer noch nicht verlassen. "Albanien, du bist die Welt", singen die Kinder in den Straßen einen einst propagandistischen Gassenhauer, der nun ein Spottlied ist, dem aber eine Menge Trotz beigemischt zu sein scheint.

Albanien im Jahre Null - und ein junger Mann Ende 20, der auf seine ganz persönliche "Stunde Null" zurückgeführt wird: Gino, der ahnunglos-unbedarfte Yuppi, ist eher ein Mitläufer im Fahrwasser seines erfahreneren (und abgebrühteren) Partners. Und plötzlich ist er ganz auf sich allein gestellt. Fiore verläßt das Land, während Gino den "verrückten Alten" sucht, der aus dem Pflegeheim ausgerissen ist, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als man für eine lästige Formalie noch seine Unterschrift braucht. Gino folgt den Spuren Spiros ins ungastliche Innere Albaniens, und was ihm widerfährt, ist ein wenig Initiationsreise, ein wenig Passionsgeschichte, aber zugleich auch eine beklemmende Horrorvision. Denn je mehr Gino unfreiwillig von den Verhältnissen im Lande kennenlernt, je mehr gerät sein eigenes Rollenbild ins Wanken, verliert er seine nur scheinbar gesicherte Identität. Man stiehlt die Reifen seines Landrovers, er und Spiro müssen die Rückfahrt nach Tirana im Bus fortsetzen, bis dieser auf einer Brücke gestoppt wird: albanische Polizisten hindern ihre Landsleute daran, nach Italien, ins "gelobte Land Lamerica", zu flüchten. Zu Fuß geht die Odyssee weiter, schließlich auf einem mit Männern vollgepferchten LKW. Die Männer bombardieren den Italiener mit Fragen nach dem Land, von dem sie alle träumen - mit naiven Illusionen, auf die Gino genervt, aber auch peinlich berührt und sichtlich verschämt reagiert. Einer auf dem LKW stirbt während der Fahrt. Ein anderer bekennt: "Meine Kinder sollen einmal vergessen, daß sie Albanier sind..." "Lamerica" ist aber weit mehr als die Bestandsaufnahme eines unbeachteten europäischen "Dritte-Welt-Landes" am Abgrund. Gianni Amelio gelingt ein ebenso engagierter wie aufmerksamer Diskurs über die eigene westeuropäische Befindlichkeit, über Selbstverständnis und Identität unserer Wohlstandsgesellschaft. In Form einer letztlich hochmoralischen Fabel attackiert er die überhebliche Ahnungslosigkeit westeuropäischer Nationen, die sich lediglich aus Vorurteilen und Vorverurteilungen "ein Bild machen". Damit einher geht eine heftige Attacke gegen die fatale Wirkung des Fernsehens, das die Menschen förmlich in einen Sog zieht. Überall starren die Menschen in Kneipen und ähnlichen öffentlichen Plätzen gebannt aufs Fernsehprogramm, das sie aus Italien empfangen und bestaunen eine nichtssagend-schöne "offizielle" Wunderland-Ansicht, eine Pseudo-Wirklichkeit, von deren prekärer Verführungskunst sich Gino zunehmend sprachloser abwendet. Demonstrativ setzt Amelio mächtige Landschaftspanoramen in Scope-Format dagegen, ohne dabei je sein Gefühl für Intimität und Nähe zu den Personen zu verlieren.

Am Ende der Odyssee stehen für Gino Verhaftung, Gefängnis und Anklage. Man behält seinen Paß und raubt ihm damit als "Strafe" für seine Verfehlungen seine Identität - jetzt ist er endgültig "gleich" - weil in Albanien alle ohne Paß sind - und letztlich auch ohne Würde. Der Polizeichef erklärt ihm: "Die albanische Wirtschaft ist tot. Aber in einem zivilisierten Land überläßt man die Toten nicht den Hunden!" Härter könnte die Kritik kaum ausfallen, und man muß schon nach einem Funken des Trostes suchen. Dieser kommt ausgerechnet von Spiro, dem alten Verwirrten, der seine wahre Identität längst vergessen hat. Als Gino ihm auf dem hoffnungslos überladenen Flüchtlingsschiff, das ihn illegal nach Italien bringen soll, wiederbegegnet, winkt der Alte ihm zu: ein sanfter Narr, dem es allein zusteht, dem jungen "Sünder" einen Platz anzubieten und ihm zu vergeben.
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