Der weiße Nachbar beschwert sich mal wieder darüber, daß die schwarzen Kids Abfall in seinen kleinen Hof werfen. Die Kinder halten dagegen - nein, es ist der Weiße selbst, der seinen Dreck nicht wegräumt. Im Nu scheint die ganze Straße versammelt, die Stimmen werden lauter, die Atmosphäre kocht hoch. Jeden Moment, denkt man, brennt bei irgendjemandem die Sicherung durch, und der nächste Rassenkrawall ist da. So würde das nicht zum erstenmal passierenbei Spike Lee. Doch der Vater der Kids nimmt den weißen Nachbarn beiseite und schlägt vor, den Abfall gemeinsam wegzuschaffen. Der Frieden ist gerettet. Viele Dinge, die sonst bei Spike Lee fast gewohnheitsmäßig passieren, geschehen in "Crooklyn" nicht. Keine dramatischen Zuspitzungen zwischen Schwarz und Weiß oder Schwarzen und anderen ethnischen Minderheiten, die keine sind, keine "big issues", wie Lee sie zuletzt an der Gestalt von "Malcolm X"
(fd 30 093) abhandelte: Diskriminierung und Bürgerrechte, Separation und Segregation, "Black Muslims" und militanter Widerstand. Was wohl daran liegt, daß Lee die Welt für einmal mit den Augen eines Kindes, eines Mädchens, sieht.Diese Welt ist das Brooklyn der frühen 70er Jahre. Die zehnjährige Troy ist eins von fünf Kindern der Carmichaels. Das Leben in der großen, mehrgeschossigen Wohnung ist turbulent und chaotisch, wie es sich für eine Großfamilie gehört. Der Streit mit den Brüdern ist für sie ebenso Alltag wie der Dauerärger mit dem weißen Nachbarn oder wie die beiden Drop-Outs auf der Straße, die sich ihren Rausch holen, indem sie Klebstoff "sniffen". Auch die kleinen Stehlereien im Lebensmittelladen gehören zu ihrem Leben, und daß eines Tages der Strom abgestellt wird, weil die Rechnung nicht bezahlt ist. Das Geld reicht eben nicht immer; ein ewiger Streitpunkt zwischen den Eltern. Woody, der Vater, versteht sich als ernsthafter Musiker. Er möchte echte schwarze Musik schaffen, Kunst, die gerade genug für ein paar Süßigkeiten einbringt. Also muß Carolyn, die Mutter, als Lehrerin für den Lebensunterhalt sorgen. Zwischenzeitlich zieht Woody sogar aus, und Troy muß ihrer Mutter noch mehr helfen als sonst. Trotzdem möchte sie ihr Brooklyn nicht missen. Das spürt sie so recht, als sie im Sommer zu ihrer Tante nach Virginia gebracht wird. Dieses Leben, wo alles sich um den Hund und die sauberen Finger beim Mittagessen dreht, ist nichts für sie. Aber die Freude bei der Rückkehr ist nur von kurzer Dauer - die Mutter ist krank, schwerkrank. Sie wird nicht mehr nach Hause zurückkehren.Spike Lee und seine Geschwister Joie und Cinqué (die am Drehbuch mitgearbeitet haben) lassen mit "Crooklyn" den Ort ihrer Jugend lebendig werden. Er habe, sagt Lee, Filme, die aus der Perspektive von Kindern erzählt werden, schon immer geliebt, etwa Rob Reiners "Stand By Me"
(fd 26 001). Tatsächlich ist "Crooklyn" auf den ersten Blick ein "erwachsener Kinderfilm", unabhängig von der Hautfarbe. Es mußten nicht die Carmichaels sein, es hätte auch jede andere Durchschnittsfamilie aus dem "Big Apple" sein können. Und dann wieder doch nicht. "Crooklyn" weiß eher beiläufig - und damit wie selbstverständlich - etwas über das Leben der farbigen Bevölkerung, zumindest der urbanen, zu Beginn der 70er Jahre mitzuteilen. Die Lieblingssendung der Kinder im Fernsehen ist "Soul Train", eine Sendung mit schwarzer Musik für schwarze Zuschauer. Entsprechend ist die Filmmusik mit Soul-und Funktiteln jener Jahre vollgepumpt, jede Szene bekommt gewissermaßen leitmotivisch ihren Song zugewiesen: Ein Ausdruck schwarzen Selbstbewußtseins. Die Straßenzüge sind ein Idyll in ihrer Friedlichkeit, Gewalt scheint ein Fremdwort, Klebstoff die einzige Droge. Natürlich: Brooklyn ist nicht die Bronx, und Dinge wie den Vietnam-Krieg kennt Troy allenfalls aus den Nachrichten. In ihren Augen wird anderes bedeutsamer, und der Film versäumt die Gelegenheit nicht, mit dem Zeigefinger darauf hinzuweisen. Eine merkwürdige Begegnung im Lebensmittelladen spielt sich in Zeitlupe ab, beim Besuch in Virginia ist plötzlich die Projektion verzerrt, verzerrt und falsch wie das heile, betuliche, bonbonfarbene Leben auf dem Lande. In beiden Fällen nimmt die Kamera sehr subjektiv die Sichtweise des Mädchens auf, das gibt den filmischen "Kunstgriffen" eine inhaltliche Begründung. Aber wenn wieder einmal Leute durch die Straße schweben - in diesem Fall die berauschten Klebstoff-Schnüffler, und dazu noch kopfüber -, dann war das einmal zu oft zu sehen.Nicht nur in diesem Moment stellt sich der Eindruck ein, daß Lee eine künstlerische Atempause genommen hat und sich auf dem, was er seit Mitte der 80er Jahre geschaffen und geschafft hat, ausruht. "Crooklyn" ist trotz (oder wegen?) des Wohlwollens, das man ihm von vornherein entgegenbringen mag, kein Film, der sonderlich berührt. Schon "Malcolm X" hatte - erstaunlich angesichts des Themas - etwas Akademisches, war eher Kino für den Kopf, ein Film, der mehr den Verstand als die Gefühle bewegte. Das Gewicht, die Bedeutung, die auf "Malcolm X" lastete, hat Lee abgeschüttelt, ohne jedoch zur emotionalen Dichte und Vielschichtigkeit seiner früheren Filme zurückzufinden. Es scheint, als hätte er im Bemühen, diese Hommage ans Heranwachsen nicht allzu nostalgisch geraten zu lassen, seinen Erinnerungen das Leben ausgetrieben.