Sugarcane - Der Wahrheit auf der Spur

Dokumentarfilm | Kanada/USA 2024 | 107 Minuten

Regie: Emily Kassie

2021 wurden auf dem Gelände einer von der katholischen Kirche betriebenen Internatsschule für indigene Kinder in Kanada nicht gekennzeichnete Gräber entdeckt. Der Dokumentarfilm nimmt dies als Ausgangspunkt für eine Recherche über den Missbrauch von Schutzbefohlenen in der katholischen Einrichtung und ihrer Verstrickung in Kolonialverbrechen wie die Trennung indigener Kinder von ihren Familien. Der Film vermeidet reißerische Mittel, sondern kombiniert Archivmaterial mit persönlichen Erzählungen und stimmungsvollen Alltagsbildern aus der indigenen Community der Williams Lake First Nation. Auf diese Weise werden die Leerstellen der Traumata ein wenig sichtbarer. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SUGARCANE
Produktionsland
Kanada/USA
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Impact Partners/Fit Via Vi/Kassie Films/Hedgehog Films
Regie
Emily Kassie · Julian Brave NoiseCat
Buch
Emily Kassie · Julian Brave NoiseCat
Kamera
Christopher LaMarca
Musik
Mali Obomsawin
Schnitt
Maya Daisy Hawke · Nathan Punwar
Länge
107 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarfilm über den Missbrauch indigener Kinder in einer von der katholischen Kirche betriebenen Internatsschule in Kanada.

Aktualisiert am
12.12.2024 - 15:09:24
Diskussion

Ruinen können nicht sprechen, aber gelesen werden. Von der St. Joseph Mission School im ländlichen Kanada sind nur noch kaputte Holzbauten und anonyme Grabsteine übrig. Der Fund dieser Gräber führte 2021 zur Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel in der kanadischen Geschichte. Von 1894 bis 1981 zwang die Regierung Kinder der indigenen Gemeinschaften in katholische Schulen, um sie zum christlichen Glauben zu erziehen. Der Dokumentarfilmer Julian Brave NoiseCat, dessen Familie selbst aus der Williams Lake First Nation in British Colombia stammt, und die Journalistin Emily Kassie setzten sich in „Sugarcane“ behutsam mit dem generationsübergreifenden Trauma auseinander.

Nummern statt Namen

Das Duo begleitet zunächst die mühsamen Ermittlungen von Charlene Belleau, die dort selbst zur Schule ging, und von Whitney Spearing. Beide wälzen in den Archiven unzählige Akten, da viele Zeugen und Täter bereits verstorben sind. In den Holzbauten der Schule identifizieren sie eingeritzte Namen, Nummern und Geburtsjahre der verschwundenen Kinder. Die Dehumanisierung der Schüler begann damit, dass sie statt mit Namen nur mit Nummern angesprochen wurden. In schwarz-weißen Archivaufnahmen sieht man, wie die Ordensschwestern unterrichten, die Kinder das Abendgebet im Schlafsaal aufsagen lassen und sie für ein Krippenspiel herrichten.

Die Großmutter von Julian Brave NoiseCat erzählt, dass die katholische Kirche ihnen neue Normen wie das Konzept der Sünde aufzwang. Gemeinsam mit ihr besucht das Filmteam den Ort der traumatischen Vergangenheit. Unter Tränen erzählt die alte Frau vom Auspeitschen der Kinder und hält gleichzeitig ein Rauchritual ab. Das wirkt, als ob sie sich von katholischen Riten freizumachen versuche.

NoiseCat und Kassie treffen aber auch auf weitere Überlebende der St. Joseph Mission School. Diese Begegnungen illustrieren, wie tief die Wunden von damals immer noch sind. So berichtet ein Mann, dass sowohl in seiner Adoptivfamilie als auch in der Schule Misshandlungen stattfanden; sieben der elf Kinder begingen Suizid.

Von Worten zu Taten

Diese Sequenzen sind schwer zu ertragen. Andererseits erkennt der Film damit aber auch das Leid an, das auf politischer Ebene noch lange nicht aufgearbeitet ist. An einer Stelle tritt der kanadische Premierminister Justin Trudeau vor die indigene Community und spricht von Trauer; doch eine Entschuldigung oder gar staatliche Entschädigungen bleiben aus. Genauso verhält es sich mit dem Besuch von Papst Franziskus, der die Misshandlungen direkt anspricht und um Vergebung bittet, aber auch keine Lösung präsentiert. Ein älterer Mann, der genauso wie seine Mutter und seine Großmutter Opfer der Missbrauchsfälle wurde, erklärt es einem Priester: Eine Entschuldigung sei ein erster Schritt, dann aber sollen Taten folgen.

Der Dokumentarfilm ist daher nicht nur als investigative Recherche zu verstehen, sondern bildet eine Leerstelle ab, die auf politisch-struktureller Ebene bis jetzt niemand füllt. Glücklicherweise vermeiden die Filmschaffenden reißerische Mittel. Die Betroffenen erzählen persönlich von Misshandlungen, Selbstmorden oder toten Babys, ohne dass diese Gräuel nachinszeniert würden.

Daneben beobachten NoiseCat und Kassie den Alltag der indigenen Gesellschaft. Sie zeigen Tanzrituale mit traditionellem Federschmuck und fotografieren die beeindruckende Natur der kanadischen Berge. Mittlerweile gibt es einen offiziellen Feiertag namens Orange Shirt Day, bei dem an die Opfer erinnert werden soll. Laut einer Erzählung wurde einer Schülerin das orange Shirt ihrer Oma abgenommen und nie mehr zurückgegeben. An dem Tag dominiert überall die Farbe Orange. Ein Mann kauft orange Donuts und verschenkt sie. Die traurige Geschichte ist damit nicht aufgearbeitet, aber zumindest ein wenig sichtbarer geworden.

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