Sold City - Die marktgerechten Mieter*innen
Dokumentarfilm | Deutschland 2022 | 212 (zwei Teile: 107,105) Minuten
Regie: Leslie Franke
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2022
- Produktionsfirma
- Kernfilm
- Regie
- Leslie Franke
- Buch
- Herdolor Lorenz
- Kamera
- Hermann Lorenz · Stefan Corinth · Jan-Holger Hennies · Axel Schaeffler
- Musik
- Hinrich Dageför · Stefan Wulff
- Schnitt
- Herdolor Lorenz · Alexander Grasseck · Stefan Corinth · Leslie Franke
- Länge
- 212 (zwei Teile: 107,105) Minuten
- Kinostart
- 06.06.2024
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- TMDB
Dokumentarfilm über Mietwucher und die Probleme europäischer Städte, in denen der Wohnungsmarkt dem Spiel kapitalistischer Kräfte überlassen ist.
Der grauhaarige Senior sitzt in Strickjacke entspannt an einem See und erklärt, dass man von Mercedes schließlich auch nicht erwarten könne, Menschen beim Radfahren zu helfen. Was er mit diesem rätselhaften Bild meint, ist der Umstand, dass ein Hersteller von Edelkarossen keine Verpflichtung hat, sich um bedürftige Menschen zu kümmern. Der Mann heißt Roger Akelius und hat 1994 in Schweden ein nach ihm benanntes Immobilienunternehmen gegründet, das sich binnen kurzer Zeit zum Global Player mit Schwerpunkt Europa entwickelt hat.
Nun mag man es vielleicht kühn bis unverfroren finden, das Vermieten von Wohnungen mit dem Verkauf von Autos gleichzusetzen, doch letztlich geht es in beiden Fällen darum, Gewinne zu erzielen. Was statthaft und nicht per se verwerflich ist. Was Akelius allerdings außer Acht lässt: Autobauer setzen alles daran, die eigenen Produkte ohne Mängel auf den Markt zu bringen, damit Interessenten nicht Modellen der Konkurrenz den Vorzug geben. Doch wer in Deutschland eine Mietwohnung sucht, hat oft nicht die Auswahl und muss vielfach mit überteuerten Behausungen vorliebnehmen, deren Ausstattungen alles andere als perfekt sind.
Immer höhere Mieten
Bis Roger Akelius mit seinen denkwürdigen Ansichten zu Wort kommt, dauert es allerdings bis zum zweiten Teil des Dokumentarfilms „Sold City“. Im ersten Teil „Sold City – Teil 1: Eigentum statt Menschenrecht“ geht es um eine Art Bestandsaufnahme von Fällen, in denen Menschen vornehmlich in Berlin von üppigen Mieterhöhungen und Kündigungen bedroht sind. Die Eigentümer sind in der Regel große Immobilienkonzerne, die schlichte Instandhaltungsarbeiten als Edelrenovierungen ausgeben und entsprechend höhere Mieten verlangen.
Vielfach geht es aber auch nur darum, die Bewohner zu vertreiben, um dann die Gebäude abzureißen und auf dem Gelände Luxusappartements zu errichten. Das rechnet sich, weil die Grundstückpreise in den letzten Jahrzehnten explodiert sind. An zahlreichen Beispielen zeigt der Film, wie Mieter, die sich dem Auszug widersetzen, durch allerlei Schikanen das Bleiben verleidet wird. So wohnen nur noch wenige Mieter in Gebäuden, in denen einst einige hundert Menschen lebten, und müssen sich über einen langen Zeitraum mit einer Großbaustelle abfinden.
Auch mehrere Fälle sogenannter „kalter Entmietung“ listet der Film auf, in denen Mietern der Zugang zu Strom und Wasser gekappt wurde oder im Extremfall angeheuerte Banden in Wohnungen einbrechen und sie verwüsten. Dagegen ließe sich juristisch vorgehen, doch viele Betroffene scheuen Anwaltskosten und geben irgendwann entnervt auf.
Kreativer Widerstand gegen die Misere
Die unkommentierte, über Crowdfunding finanzierte Dokumentation listet nicht nur eine Vielzahl solcher, teils tragischer Fälle in mehreren Städten auf, sondern zeigt auch ausgiebig mehr oder minder kreative Formen des Widerstands gegen die Misere. Dabei wäre die eine oder andere Demonstration oder das künstlerisch angehauchte Happening allerdings durchaus verzichtbar gewesen. Ähnliches gilt für die Anzahl der Fallbeispiele. Ob nun in Berlin oder in Hamburg eine Wohnung durch eindringendes Wasser von Schimmel befallen ist, sieht in beiden Fällen ziemlich ähnlich aus, und auch die Hintergründe der Missstände sind in der Regel identisch.
Über die Ursachen der deutschen Wohnungsmisere informiert in erster Linie der Berliner Stadtsoziologe Andrej Holm, der aufzeigt, wie nach der Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit 1990 die Städte im großen Stil ihre Flächen und Gebäude teilweise zu Spottpreisen an private Investoren verkauften und zugleich den sozialen Wohnungsbau immer mehr reduzierten. Doch selbst wer eine geförderte Wohnung mit gedeckelter Miete ergatterte, ist nicht für alle Zeiten auf der sicheren Seite, da die Sozialbindung von Wohnungen in Deutschland befristet ist. Deshalb nennt Holm das System auch eine „Subventionierung privatwirtschaftlicher Interessen mit einer sozialen Zwischennutzung“. Wie der Film darlegt, gibt es diese Befristung in London nicht. Dafür aber wurden dort zahlreiche Häuser in attraktiver Citylage in den letzten Jahrzehnten dem Erdboden gleichgemacht. Den Mietern wurden allerdings Wohnungen am Stadtrand von London als Ersatz angeboten.
Wien ist eine Ausnahme
Natürlich darf in einem solchen Film Wien als rühmliche Ausnahme unter den europäischen Metropolen nicht fehlen. Weil die Stadt darauf verzichtet, ihre Immobilien und Grundstücke an Investoren zu veräußern, leben dort über 60 Prozent der Menschen in kommunal geförderten Wohnungen mit äußerst moderaten Mieten. Weil sich das Menschen aus allen sozialen Schichten leisten können, halten sich dort auch Phänomene wie Gentrifizierung und Ghettobildung in Grenzen.
Etwas überraschend führt der Film, der sich ansonsten streng antikapitalistisch gibt, auch noch das autokratisch regierte Singapur als Modell für ein menschenwürdiges Wohnen an. Nach dem Abzug der britischen Kolonialmacht Mitte der 1960er-Jahre hat der Stadtstaat durch Enteignung 80 Prozent der Grundstücke erworben und die Bewohner der Stadt genötigt, ihre Wohnungen über Erbpachtverträgen zu kaufen.
Die engagierte Dokumentation „Sold City – Die marktgerechten Mieter*innen“ von Leslie Franke bietet zahlreiche Einblicke in die Misere mehrerer Städte, wo das Wohnrecht zum Großteil dem freien Markt überlassen wird und es Investoren nur um den Profit geht. Filmisch hat die Produktion allerdings wenig zu bieten, was eine Kinoleinwand erforderlich machte. Und mit seinen zahlreichen Redundanzen ist der Zweiteiler mit insgesamt 204 Minuten entschieden zu lang geraten.