Bereits in den 1920er-Jahren galt Berlin als Zufluchtsort, an dem Menschen, die nicht in heterosexuelle Muster passten, ihre Persönlichkeit ausleben konnten. Christopher Isherwood beschrieb dies etwa in literarischen Werken wie „Leb wohl, Berlin“, in dem er die Nacht- und Barszene der späten Weimarer Republik schilderte. Er war nicht der einzige Brite, der in die deutsche Hauptstadt kam, um dort unbehelligt das schwule Nachtleben zu genießen. Der Anti-Homosexuellen-Paragraph 175 existierte zwar, wurde aber selten angewendet.
Heute hat sich die Definition von nicht-heterosexuellen Orientierungen und Identitäten erweitert. In Berlin finden sich Schwule, Lesben, aber auch Transpersonen oder Drag Queens aus der ganzen Welt wieder. Sechs von ihnen rückt Jochen Hick, der seit Jahrzehnten Beobachter von schwulen und queeren Welten ist, in den Fokus von „Queer Exile Berlin“. Es handelt sich um Menschen, die aus politischen, persönlichen oder ökonomischen Gründen nach Berlin gekommen oder geflüchtet sind.
Als Drag Queen noch „Transe“ hieß
Die stadtbekannte Drag Queen Gloria Viagra, im bürgerlichen Leben Michael Gosewitsch, kam mit sechs Jahren mit der Mutter von Köln nach Berlin, weil der Vater gewalttätig war. Früh wurde er politisiert, ging mit der Mutter auf zahlreiche Demonstrationen. Heute zeigt der Film Gloria Viagra bei der Einweihung des Rio-Reiser-Platzes, der nach dem politisch und musikalisch immer noch Kultstatus besitzenden Sänger benannt ist. Dass Reiser zudem schwul war, kam in der linken Szene der 1970er- und 1980er-Jahre nicht immer gut an. Gloria Viagra stammt aus einer Zeit, in der man statt „Drag Queen“ noch „Transe“ sagte und die queere Szene vor allem von Schwulen und Lesben bestimmt wurde.
Eunice aus Portugal steht dagegen für eine neue Generation von queeren Menschen. Sie lebt seit 2017 in Berlin, nimmt seit einigen Jahren Hormone für ihre Transition und hat bereits einige geschlechtsangleichende OPs hinter sich. Im Film ist sie anfangs im Krankenbett zu sehen, nachdem sie sich den Kehlkopf hat entfernen lassen. Eunice ist nach Berlin gekommen, weil sie hier mit ihrem Job mehr verdient und ihre Identität hier besser ausleben kann. Leicht sei das Leben in Berlin dennoch nicht, sagt sie. Man müsse stark sein, um sich in Berlin zu behaupten.
Das bestätigt auch Jean-Ulrick. Er wohnt seit 20 Jahren in Berlin, wurde aufgrund seiner schwarzen Hautfarbe bereits rassistisch angegriffen und in der schwulen Szene fetischisiert. Dennoch betrachtet der auf Haiti geborene und in New York aufgewachsene Künstler Berlin als eine in vielerlei Hinsicht liberalere Stadt als die US-amerikanische Metropole. Mit einem Künstlerleben könne man jedoch nicht reich werden, erzählt er, und das bestätigt auch Gloria Viagra, die als freischaffende DJane ihren Lebensunterhalt verdient. Bis heute lebt Jean-Ulrick in Kreuzberg in einer Wohnung mit Außentoilette und Kohleofen.
Über mehrere Jahre hinweg gedreht
Monika wiederum hat es nach einer gescheiterten Hetero-Ehe aus Polen nach Berlin verschlagen. Hier lebt sie als Lesbe und pendelt als Aktivistin der LGBT+-Szene zwischen Berlin und Stettin hin und her. Oft filmt Hick sie auf Demonstrationen in beiden Ländern. Dann erklärt sie im Off oder direkt vor der Kamera, wie sich während der Regierungszeit der rechtspopulistischen PiS das Leben der queeren Gemeinschaft in Polen verschlechtert habe. Viele junge Schwule und Lesben wanderten deshalb nach Berlin aus, denn sie wollen ihre Jugend nutzen und in Polen nicht auf bessere Zeiten hoffen. Auf Gay-Pride-Demos in Polen sind Teilnehmer:innen nicht sicher. Während erzkonservative Katholiken die Veranstaltungen feindselig kommentieren, gibt es bisweilen auch physische Übergriffe wie etwa in Bialystock, wo die Polizei 2019 die Demonstrant:innen vor rechten Schlägern schützen musste.
„Queer Exile Berlin“ wurde über einen Zeitraum von mehreren Jahren gedreht, auch in der Covid19-Zeit. Die Protagonist:innen sind zuweilen mit Maske zu sehen; einmal macht die Pandemie auch Eunice einen Strich durch die Rechnung. Sie ist Covid-positiv und muss deshalb eine Operation ausfallen lassen, für die sie extra nach Spanien gereist ist. Dass man eine Brustvergrößerung ungefiltert sieht, gehört zu den stilistischen Eigenheiten von Jochen Hicks Film.
Zwischendurch gibt es immer wieder Panorama-Aufnahmen der Stadt; wohl um zu verdeutlichen, dass sich in den Wohnblöcken, Alleen und Straßen genügend Platz für alle möglichen Lebensentwürfe bietet. Der Film glorifiziert Berlin nicht, verfällt aber auch nicht ins weitverbreitete Berlin-Bashing, das Gloria Viagra so missfällt.
Der „Derwisch“-Tänzer wirbelt die Szene auf
Da die meisten Protagonisten migrantisch sind – auffällig ist auch, dass viele trotz jahrelangen Lebens in Berlin kein Deutsch sprechen, zumindest nicht vor der Kamera –, werden die behördlichen und organisatorischen Schwierigkeiten im Alltag jener erwähnt, die keinen EU-Pass besitzen. Etwa von Haidar aus Syrien, der nun als „Derwisch“-Tänzer die Szene aufwirbelt; er kam mit einem drei Jahre gültigen Studentenvisum nach Berlin. Das wurde nicht verlängert. Das Warten auf sein Asylverfahren schränkt sein Leben ein, etwa bei der Wohnungssuche. Haidar entkam dem Bürgerkrieg in Syrien, doch Freunde und die Familie ließ er damals zurück. Deshalb fühlte er sich schuldig.
Auch die Exotisierung von nicht-weißen Männern in der schwulen Szene oder divergierende Ansichten zu Transsexuellen in der lesbischen Szene spricht der Film indirekt an. Die Bindungsangst unter schwulen Männern ist auch ein Problem, unter dem nicht nur Haidar, sondern auch Mischa gelitten hat. Der aus Russland stammende Sozialarbeiter armenischer Herkunft hat diese Problematik in einer Performance thematisiert, bei der er ein Jahr lang jeden Tag Sex mit einem anderen Mann hatte. Dafür erntete er in Sozialen Medien Unterstützung, aber auch viel Kritik, denn sein Aussehen als kleiner, fülliger und sehr behaarter Mann entspricht nicht den gängigen Vorstellungen von Attraktivität.
Eine große Vielfalt an queerem Leben
Auf diese Weise beleuchtet Hick sehr anschaulich diverse Aspekte von queerem und migrantischem Leben in Berlin, die ohne den Film für viele nicht erfahrbar wären. Zwar haben die Porträtierten nichts miteinander zu tun, weshalb es keine Interaktionen auf der Leinwand gibt. Doch Hick schafft es, sie dem Publikum näherzubringen und ihre Erfahrungen und Hoffnungen innerhalb der begrenzten Zeit seines Films nachvollziehbar zu machen.