Filmstunde_23

Romain Antony | 22.11.2024

Angeregt durch eine Begegnung mit einer ehemaligen Schülerin seines Filmkurses, 1968, in einem Münchner humanistischen Mädchengymnasium, 8. Klasse, 26 Mädchen im Alter von 13,14 Jahren, macht sich Edgar Reitz, damals 35, jetzt über 90jährige, auf die Suche nach den damals 26 gedrehten Filmen. Er wird fündig und dreht mit Adolph zusammen einen Film, in dem sowohl die gefilmten 16 Unterrichtsstunden über 4 Wochen mit Zusatzterminen in Einzel - und Gruppenbesetzung, den Rückmeldungen am Elternabend, nachdem die Eltern die Werke ihrer Kinder gesehen haben, und die Aufnahmen des Klassentreffens 55 Jahre später in einem filmischen Konglomerat zusammengeschnitten wurden. Weshalb die 23 im Titel erscheint ist mir beim Filmbetrachten wohl entgangen, habe die Antwort auch nirgends gefunden. Viellleicht 23, weil von den 26 Mädchen der Unterrichtseinheit nur noch 23 zum Wiedersehen gekommen sind oder weil von den 26 Filmen dann doch nur 23 auffindbar waren, ik wees et nit! In diesem Projekt wollte Edgar Reitz, damals mit Alexander Kluge Leiter des von ihnen gegründeten Institut für Filmgestaltung, belegen, wie sinnvoll und wichtig es sei Kinder , Jugendliche in Filmästhetik zu unterrichten. Reitz war damals bereits ein Vorreiter der heute als Schulstoff angebotenen Medienpädagogik und ein vehementer Verfechter des Autorenfilms. Im Vergleich zu sprachlichen Eindrücken sind SchülerInnen erheblich öfter mit filmischen Wirkungen konfrontiert. Auch ohne den Boom der virtuellen Berieselung kennen zu können, hatte Reitz mit seiner Forderung und Einschätzung recht. In den Unterrichtsstunden, die in "Filmstunde_23" in schwarz-weiß-Aufnahmen wiedergegeben sind, wird gezeigt, wie die Schülerinnen sich anhand verteilter Gegenstände den Unterschied zwischen sprachlicher Beschreibung von Vorstellungen und gefilmter Vorstellung klar machen, wie sie sich mit den Möglichkeiten der Kamera - Bewegung, Schärfe, Einstellungen, Perspektive, Objektbrennweite, Zeitlupe, Zeitraffer - mit Licht, Montage, Ton beschäftigen. Die Schülerinnen lernten manches über die Tätigkeit der Crew im Kassenzimmer, das Aufnahmeteam konnten sie befragen, bei ihrer Arbeit beobachten. Die Manipulationsmöglichkeiten der Realität durch die Kamera werden ebenfalls besprochen. Jede Schülerin bekommt eine Super8 Niza-Kamera und drei Filmspulen zur Verfügung gestellt (gespendet von der FA. Braun, danke!!) und dreht damit einen Film, der ihren Interessen entspricht. Viel Sorgfalt wurde darauf verwendet, in Gesprächen die eigenen, ihnen wichtigen Vorlieben herauszufinden, mit denen sie sich filmisch beschäftigen wollten. Es war Reitz daran gelegen, mit den Schülerinnen sehr persönliche Themen herauszuarbeiten, zu entwickeln was Ihren Wünschen und Vorstellungen entspricht, ohne in Klischees zu verfallen. Die Rückmeldung der Eltern 1968 auf das Schulisch-Reitzsche Projekt fiel positiv aus. Die Eltern beobachteten, dass das Vorhaben die Klassengemeinschaft gestärkt und den Lerneifer ihrer Kinder beflügelt hätte, leiderr ohne Auswirkungen auf andere Fächern. Die von den Mädchen gedrehten Filme, von denen man viele Ausschnitte in "Filmstunde_23" sieht, sind sehr originell, kreativ, lustig, informativ und sehr persönlich. Im Wiedersehensteil 55 Jahre später offenbart eine Dame, dass damals zum ersten Mal in ihrem Leben jemand sie nach ihren Gefühlen, Meinungen und Vorlieben gefragt hätte, ansonsten wäre es in ihrer Familie nur um Schule, Leistung und Angepasstsein gegangen. Edgar Reitz schwärmt als 35jähriger für das Autorenkino, geht mit der Klasse in die Vorstellungen von "Zazie"/ "Zazie dans le métro" (1960) von Louis Malle nach dem Roman von Raymond Queneau und "M - Eine Stadt sucht einen Mörder" (1931) von Fritz Lang und empört sich, dass diese Kunstfilme und Meisterwerke der Jugend vorenthalten wurden - die FSK stufte sie ab 18 Jahre ein, wie er meinte, der moralischen Sauberkeit wegen. Reitz stellt die Forderung auf, Filmvermittlung in den Schullunterricht einzubinden und meint, RegisseurInnen, könnten in ihren Projektpausen diesen Job übernehmen, eine Idee, die auch heute beim LehrerInnenmangel etwas für sich hat. 55 Jahre später sehen sich die inzwischen Mitte 60 gealterten Damen den Film über ihre Zeit als Schülerinnen in der Filmstunde noch einmal an und erinnern sich daran, wie sie das Projekt und ihre Filmerfahrungen erlebt haben. Für einige ist aus dem Filmkurs eine nachhaltige Liebe zum Kino erwachsen. Die Erzählungen über die Bedeutung, die das Projekt für ihr Leben gehabt hat, ist anrührend. Es belegt auch, wie stark ein guter Unterricht und ein empathisches Eingehen auf Jugendliche haltungs- und verhaltensprägend sein kann für den weiteren Lebensverlauf. Zum Abschluss der Besprechung will ich noch drei Zitate von Edgar Reitz anführen, entnommen aus: "Filmstunde – Ein Bericht von Edgar Reitz" nachzulesen in: https://heimat-fanpage.de/edgar-reitz/filmstunde/ Quelle: ehemalige Internetpräsenz www.Edgar-Reitz.com „Jeder Mensch kann Film machen und jedes Kind kann es lernen sich in dieser Sprache auszudrücken.“ „Wenn Kinder in Massen anfangen zu filmen, dann läßt sich der Gedanke des Autorenfilms dadurch überwinden, daß demonstriert wird, daß jedes Kind ein Filmautor ist.“ Und eine bemerkenswerte politische Erkenntnis für 1968, gültig teilweise auch noch heute: "Die Linke hat seit je das abstrakte Denken, die Sprache der Universität für sich erschlossen, blieb immer wieder nur abstrakt und während sie gedanklich recht behielt, gehörte die Praxis immer nur der Rechten." cf. auch den Filmbesprechungsblog unter: www.filmekommentieren.wordpress.com klicken.lesen.abonnieren.