Die Schneegesellschaft

Abenteuer | Spanien/Uruguay/Chile 2023 | 143 Minuten

Regie: J.A. Bayona

Eine Passagiermaschine mit 45 Menschen an Bord stürzt im Herbst 1972 zwischen Argentinien und Chile ab, die Überlebenden merken bald, dass sie für tot gehalten werden und nicht auf Rettung hoffen können. Ein Martyrium über mehr als zwei Monate beginnt, an dessen Ende nur noch wenige der Männer überleben und das auch nur, weil sie in ihrer Not ihre toten Freunde und Kollegen gegessen haben. Die sorgfältige Neu-Verfilmung einer wahren Geschichte kann zwar nichts wirklich Neues zum Thema erzählen, nähert sich aber behutsam und ohne überflüssige Schockeffekte dem emotionalen Kern der Story. Nachdrücklich vermitteln sich Anspannung und Angst der Figuren. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA SOCIEDAD DE LA NIEVE
Produktionsland
Spanien/Uruguay/Chile
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Apaches Ent./El Arriero Films/Telecinco
Regie
J.A. Bayona
Buch
J.A. Bayona · Nicolás Casariego · Jaime Marques · Bernat Vilaplana
Kamera
Pedro Luque
Musik
Michael Giacchino
Schnitt
Andrés Gil · Jaume Martí
Darsteller
Enzo Vogrincic (Numa Turcatti) · Agustín Pardella (Fernando Parrado) · Matías Recalt (Roberto Canessa) · Esteban Bigliardi (Javier Methol) · Tomas Wolf (Gustavo Zerbino)
Länge
143 Minuten
Kinostart
21.12.2023
Fsk
ab 16
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Abenteuer | Drama | Survival-Film | Thriller
Externe Links
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Survival-Drama nach realen Ereignissen: 1972 überleben 29 Mitglieder einer Rugbymannschaft einen Flugzeugabsturz in den Anden. Gefangen in einer der lebensfeindlichsten und unzugänglichsten Umgebungen der Welt, müssen sie extreme Maßnahmen ergreifen, um zu überleben.

Diskussion

Es war der 13. Oktober 1972, als ein Flugzeug mit einer uruguayischen Rugby-Mannschaft, einigen Betreuern und Familienangehörigen sowie Flugpersonal in etwa 4000 Metern Höhe in den Anden abstürzte. Der Pilot war einem Berghang zu nahegekommen, was den Abriss eines Flügels zur Folge hatte. Beim Absturz oder durch dabei erlittene Verletzungen starben insgesamt 16 Menschen innerhalb der ersten Stunden, für den Rest begann das bange Warten auf Rettung. Doch auch nach Tagen gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Absturzstelle von Helfern entdeckt wurde. Schließlich erfahren die Männer und Frauen durch ein batteriebetriebenes Radio die Wahrheit: Die Suche wurde abgebrochen, die Vermissten gelten offiziell als tot, erst im Frühling soll die Suche nach den vermeintlich Toten weitergehen. Bald stellt sich in der kalten Eiswüste des Hochgebirges die Frage: Verhungern oder moralische Bedenken über Bord werfen und sich von den Toten ernähren?

Kein Film für Schocker-Fans

Obwohl der Kannibalismus auf den ersten Blick das spektakulärste Thema dieser wahren Geschichte scheint, hat bereits Frank Marshall in seiner Verfilmung „Überleben“ aus dem Jahr 1993 dem Essen der Toten keinen sonderlich breiten Raum eingeräumt. Auch Regisseur J.A. Bayona tut das nicht. Zwar zeigt er schon etwas mehr als Marshall, etwa abgenagte Knochen, aber auch sein Fokus liegt auf den Lebenden der Story, nicht auf den Toten. Während Marshalls Film sich auf ein Sachbuch bezog, nutzte Bayona einen Roman von Pablo Vierci, einem Freund einiger der Überlebenden, als Vorlage; außerdem führte er selbst Interviews mit ihnen sowie mit Angehörigen der Opfer. Die Nähe, die Bayona dabei zu den Menschen und Ereignissen aufgebaut hat, merkt man „Die Schneegesellschaft“ in jeder Szene an.

Der spanische Regisseur will nicht schocken oder urteilen, sondern beobachten. In fast jedem Moment ist er mit der Kamera nahe bei seinen Protagonisten, zeigt die angstverzerrten Gesichter, die geschundenen Körper, die leerer werdenden Blicke in einer Intensität, die unwillkürlich unter die Haut geht. Wirkungsvoll kontrastiert wird dies durch weite Panoramen, die winzige Menschen im Angesicht der gewaltigen, unnachgiebigen Natur um sie herum zeigen. Bayona nutzt die Ausdruckskraft seiner Schauspieler, um dieses Ausgeliefertsein der Menschen in einer lebensfeindlichen Landschaft fast ohne Dialoge zu erzählen. Dabei lässt sich keiner der hierzulande wenig bekannten Darsteller wirklich herausheben, das gesamte Ensemble besticht mit einer beeindruckenden Leistung. Selbst wenn man um den glimpflichen Ausgang der Geschichte weiß, vermitteln sich die Spannung und die Angst, die auf jedem der Überlebenden lasten, nachdrücklich.

Denn der Tod kann in dieser fast ausweglosen Situation von vielen Seiten kommen: Verletzungen, Hunger, Krankheiten und die eisige Hochgebirgs-Natur selbst sind ständige Gefahren. Auch diesen Aspekt fängt Bayona in seinem Film gelungen ein. Die moralischen Dilemmata, mit denen sich die Männer und Frauen an Bord der abgestürzten Maschine auseinandersetzen müssen, setzt der Regisseur zwar zurückhaltend in Szene, sorgt damit aber nur umso stärker für eine emotionale Verbindung zwischen Publikum und Protagonisten. Die Frage „Was hätte ich getan?“ bleibt im Raum stehen.

Nichts Neues im Schnee

Schwächen zeigt „Die Schneegesellschaft“ daher auch hauptsächlich für ein Publikum, dem die Geschichte bereits bekannt ist. Denn wirklich Neues, das die Verfilmung von Marshall nicht bereits zu bieten hatte, lässt sich hier nicht finden, auch wenn Bayona weniger auf Pathos setzt als die 30 Jahre alte Hollywood-Produktion. Doch die wahre Geschichte ist in ihrem Ablauf zu klar, zu eindeutig, um bislang noch unbekannte Aspekte freizulegen. Das Leid der Überlebenden spricht für sich, Platz für besondere Helden- oder Schandtaten gibt es nicht. Auch wenn Bayona mit einem klugen Kniff Texte aus dem Off benutzt, um manche Situation in einem anderen Licht erscheinen zu lassen und das Sterben und Leiden ruhig, fast leidenschaftslos zu kommentieren. Trotz der leichten Überlänge von knapp zweieinhalb Stunden, die der Film nicht gänzlich füllen kann, gelingt J.A. Bayona eine Hymne auf den Überlebenswillen von Menschen und ihre Stärke angesichts eines fast sicheren Todes. Und das ist jederzeit sehenswert.

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